Eine Todesnachricht in der Teambesprechung: Hannah Haumann berichtet der Runde von einem Mädchen, das kürzlich verstorben ist. Es wurde nur 13 Jahre alt. Die Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin liest ihren Arbeitskolleginnen und Kollegen die Nachricht vor, die ihr die Mutter der verstorbenen Patientin zugesandt hat: „Vielen Dank für die Unterstützung in der schwierigen Zeit. Sie ist friedlich eingeschlafen und hatte keine Schmerzen“, so zitiert sie die Mutter unter anderem.
Solche Situationen gehören für das Kinderpalliativteam Südhessen mit Sitz in Frankfurt-Sachsenhausen zum Beruf, auch wenn sie nicht alltäglich sind. Denn ihre kleinen und jungen Patienten sind unheilbar krank. Leiden beispielsweise an onkologischen, Stoffwechsel- und Muskelerkrankungen oder haben seltene Gendefekte. Das verstorbene Mädchen, das aus der Ukraine kam, litt an Mukoviszidose, eine angeborene Stoffwechselerkrankung, bei der zäher Schleim in den Zellen entsteht und lebenswichtige Organe nach und nach verstopft. Die tödliche Erkrankung ist derzeit nicht heilbar.
Multiprofessionelles Team
„Sie hat sich nur Stück für Stück für unsere Behandlung geöffnet, vor einem Jahr hat sie noch jegliche Behandlung abgelehnt“, erzählt Dr. med. Sebastian Krümpelmann, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Palliativmedizin, Päd. Pulmologie und Neonatologie. Krümpelmann stellt an diesem Tag mit Dr. med. Sabine Becker, Fachärztin für Kinder-, Jugend- sowie Palliativmedizin, den ärztlichen Teil des multiprofessionellen Teams.
Das Kinderpalliativteam Südhessen besteht aus Kinderkrankenpflegekräften, Ärzten, Psychologen und Sozialpädagogen. Denn im Zentrum ihrer Arbeit steht nicht nur die medizinische Behandlung, sondern vor allem Familien vollumfänglich zu unterstützen und ihnen die Möglichkeit zu geben, noch Zeit gemeinsam zu Hause mit ihren Kindern zu verbringen.
Neben dieser schlechten Nachricht gibt es aber an diesem Morgen auch eine gute. So wurde für einen ihrer jungen Patienten ein spezieller Rollstuhl genehmigt. Zur täglichen Arbeit gehört auch der gemeinsame Kampf der Familien und des Teams mit den bürokratischen Hürden im Gesundheitssystem. Ein zähes Ringen mit den Krankenkassen sei es, berichtet Becker. Nun aber könne das Kind endlich die Natur erleben und mehr von der Welt sehen als Klinik und das eigene Zuhause.
Für Vorfreude sorgt an diesem Tag ein besonderes Ereignis am Abend. Der Cirque du Soleil hat Premierenabend in Frankfurt und hat die Familien der betroffenen Kinder und das Kinderpalliativteam eingeladen. Für viele Eltern ist dies eine willkommene und seltene Auszeit aus dem vollgetakteten Alltag, wie Becker erzählt.
Riesiges Versorgungsgebiet
Insgesamt behandelt und betreut das Kinderpalliativteam durchgehend rund 20 Kinder. Über das Jahr verteilt sind dies gut 100 Familien, die unterstützt und begleitet werden. Im Gegensatz zur Erwachsenenpalliativversorgung steht der Tod des Patienten aber nicht immer unmittelbar bevor. Im Schnitt werden die Familien und Patienten zwei bis drei Monaten begleitet, wobei die Spanne recht groß sei, so Becker. Bei der Erwachsenenpalliativversorgung seien dies oft nur zwei bis drei Wochen. Auch im Krankheitsbild unterscheidet sich die Palliativmedizin zwischen Kindern und Erwachsenen stark. Während gut 90 Prozent der Erwachsenen onkologisch betroffen seien, seien dies bei den Kindern nur 20 bis 25 Prozent. Auch deswegen wird nur gut die Hälfte der Kinder hier mit Opioiden behandelt.
Nach der Besprechung stehen für das Team Hausbesuche bei den Patienten an. Die Fahrten dahin können dabei durchaus auch mal länger sein, denn das Kinderpalliativteam Südhessen ist nur eines von dreien in Hessen. Sein Gebiet erstreckt sich von Butzbach im Norden über Viernheim im Süden und von Rüdesheim im Westen bis nach Schlüchtern im Osten: Ein Gebiet mit gut 7.470 Quadratkilometern und über vier Millionen Einwohnern.
Auf Hausbesuch
Für Becker und Haumann steht heute eine Fahrt nach Bad Nauheim zu der dreijährigen Mia* an. Mia litt bei der Geburt unter starkem Sauerstoffmangel. Die Folge war unter anderem eine starke Epilepsie. „Aktuell ist Mia auf fünf verschiedene Medikamente angewiesen, bekommt eine ketogene Diät über eine Magensonde für die Epilepsie sowie Sauerstoff über ein Gerät zur Atemunterstützung“, berichtet Becker, die die Dreijährige schon fast ihr ganzes Leben begleitet. Die medizinischen Ziele für das Palliativteam sind erwartungsgemäß eher kleinschrittig: „Wir wollen bei Mia eins von fünf Medikamenten absetzen.“ Die ketogene Ernährung mache die Behandlung zusätzlich komplexer, berichtet die Ärztin, da viele Kindermedikamente mit Zucker versetzt seien, damit sie von kleinen Kindern besser angenommen werden.
Routinen durch enge Betreuung
Die Prognose für Mia ist ungewiss. Ein starker Epilepsie-Anfall kann jederzeit lebensbedrohlich für das kleine Mädchen werden. Sie hat zudem ein hohes Risiko, eine Atemwegserkrankung zu bekommen, die sich schnell zu einer Lungenentzündung entwickeln könnte. Die Familie wird aktuell sechs Mal die Woche von einem Pflegedienst unterstützt, einmal die Woche kommt zudem das Kinderpalliativteam vorbei. Weil das Team einen 24-Stunden-Notdienst hat, kann das aber in Krisensituationen auch mal häufiger der Fall sein.
Im Haus der Familie angekommen, liegt Mia in ihrem Bett und schläft fest. Die Wände sind pink gestrichen, von einem Regal lachen Kuscheltiere auf die Besucher herab. Auf den ersten Blick wirkt sie wie ein gewöhnliches dreijähriges Kind, wären da nicht die Schläuche der lebenswichtigen medizinischen Geräte, die dem jungen Mädchen mit hellblondem Haar überhaupt erst den Schlaf ermöglichen. Die Rollläden sind weit unten, es ist ein heißer Sommertag. Zu hören ist nur das gleichmäßige Geräusch des Beatmungsgeräts. 17 Liter Atemluft pumpt das Gerät pro Minute in die Lungen der kleinen Mia, da sie sonst selbstständig nicht genügend Luft auf Dauer bekommen würde. Die Mutter Chiara L.* steht neben dem Bett – Mias Vater ist während des Besuchs bei der Arbeit – und beantwortet die Fragen von Ärztin Becker zur aktuellen Lage von Mia, während Becker das Kind abhört und Reflexe checkt. Haumann kontrolliert die Geräteeinstellungen und gleicht die Therapiepläne ab.
Das Gespräch geht ausgesprochen locker und routiniert über die Bühne, ein Resultat der langen und engen Betreuung. Bei einigen Fragen greift die Mutter in das Regal neben dem Bett und zieht einen dicken Ordner mit hunderten Seiten Papier heraus. Darin ist die bisherige Krankengeschichte der Dreijährigen dokumentiert.
Nun muss noch Schleim bei Mia, der sich in ihren Atemwegen bildet, abgesaugt werden. Die Prozedur beherrscht die Mutter alleine. Sie steckt das Atemgerät von Mias Tubus ab, verbindet ein Sauggerät und fängt an, den Schleim zu entfernen. Mia hat während der nötigen Prozedur mit Husten zu kämpfen, sie röchelt immer wieder. Sie reagiert nur beschränkt auf die Behandlung, schläft immer wieder ein, hat häufig die Augen zu. „Mittlerweile komme ich mit der Pflege von Mia gut zurecht, doch am Anfang war ich wirklich erst einmal überfordert“, sagte Chiara L., „gerade als wir aus der Klinik entlassen wurden, war ich den ganzen Tag nur mit der Pflege beschäftigt.“ Durch den Pflegedienst und das Kinderpalliativteam habe L. nun Gelegenheit, um einfach mal nur ein wenig Zeit mit Mia zu verbringen. Zum Zirkus am Abend geht Mia allerdings nicht, denn sie würde wahrscheinlich nicht viel mit- beziehungsweise wahrnehmen, so die Mutter. Dafür ist es eine willkommene Abwechslung für die Familie, die nun auch einmal einen Abend ohne Pflege und medizinische Geräte verbringen kann. Für Mias Betreuung in der Zwischenzeit ist gesorgt.
Mit Resilienz durch Krisen
Nach dem Besuch geht es wieder zurück in die Räumlichkeiten des Kinderpalliativteams. Becker erzählt, dass es nicht immer so problemlos laufe wie bei Mias Familie. Gerade Sprachbarrieren mit Familien, aber mittlerweile auch mit den Pflegediensten selbst erschweren die Arbeit. Oftmals seien Eltern gerade in diesen emotional schwer belastenden Situationen nicht leicht im Umgang. Vor allem, wenn sie auf jede mögliche Therapie bestehen, auch wenn diese medizinisch wenig sinnvoll sei, erschwere dies manchmal die Arbeit für das Team und das Leben der Kinder selbst. Deswegen sei die psychologische Unterstützung mindestens genauso wichtig wie die medizinische.
Darüber hinaus sei eine Nachsorge nach dem Tod des Kindes wichtig, so die Pädiaterin. Zwei bis drei Monate nach dem Ableben wird mit den Familien noch einmal die Therapie besprochen – „für die emotionale Verarbeitung der Eltern ist es wichtig, noch einmal zu erfahren, dass sie alles Nötige für ihr Kind getan haben, denn häufig entstehen im Nachhinein doch noch Fragen, warum diese und jene Therapie gemacht wurde.“
Nach ihrem Hausbesuch tragen Haumann und Becker alles Relevante in die elektronische Patientenakte am Laptop ein. Auf einer Wand im zentralen Raum des Kinderpalliativteams hängen dutzende Fotos von den ehemaligen Patientinnen und Patienten. Eltern haben sie dem Team gegeben, damit es sich immer wieder an ihre kleinen Schützlinge erinnern kann. Manchen der Kinder und Jugendlichen sieht man ihre Krankheit an, anderen nicht. Da ist das Mädchen mit dem seltenen Schintzel-Giedeon-Syndrom, ein Gendefekt, der mit einer Häufigkeit von weniger als 1 zu einer Million auftritt. Obwohl die Lebenserwartung des Mädchens zu Beginn nur auf ein Jahr geschätzt wurde, konnte sie noch weitere 22 Jahre mit ihrer Familie verbringen. Ein weiteres Bild zeigt einen Jungen mit einem Hirntumor, der erfolglos mehrere Chemotherapien und Bestrahlungen ertragen hat.
Becker sagt: „So bedrückend die Situationen und Herausforderungen für die Familien auch manchmal sind, so viel geben einem aber die Kinder und Eltern wieder zurück.“ Gerade auch für die Eltern sei das Kinderpalliativteam wie ein Rettungsanker in stürmischen Zeiten. „Wir können den Familien ein kleines bisschen Halt geben, sie entlasten und ihnen Zeit zusammen ermöglichen.“
Lukas Reus
Informationen zum Kinderpalliativteam Südhessen finden Sie unter www.kinderpalliativteam-suedhessen.de, der QR-Code dorthin. Spenden: IBAN: DE 98 5005 0201 0200 4632 33
* Namen geändert, der Redaktion aber bekannt.