Bad Nauheimer Gespräche zu „Cancel Culture und Meinungsfreiheit – Über Zensur und Selbstzensur“
Prof. Ursel Heudorf hat einen Stapel Bücher vor sich aufgebaut. Aktuelle Werke, die die Relevanz des an diesem Abend zur Diskussion stehenden Themas widerspiegeln. „Cancel Culture und Meinungsfreiheit – Über Zensur und Selbstzensur“ ist die Veranstaltung im Haus der Landesärztekammer in Frankfurt überschrieben. Im Rahmen der Bad Nauheimer Gespräche geht es um ein Phänomen, das mit Sorge beobachtet wird, weil es den offenen Diskurs behindere. Die Gäste des Abends: Sabine Beppler-Spahl, Diplom-Volkswirtin und Deutschlandkorrespondentin des britischen Onlinemagazins „spiked“ sowie Herausgeberin des Buchs „Cancel Culture: Über Zensur und Selbstzensur“. Und Prof. Dr. Norbert Bolz – Philosoph, Medien- und Kommunikationswissenschaftler, Publizist und Autor. Sein jüngstes Buch zu gesellschaftlichen Entwicklungen trägt den Titel: „Der alte, weiße Mann. Sündenbock der Nation.“
Das Thema wählte die Mitgliederversammlung aus, nachdem der Verein Bad Nauheimer Gespräche vor einem Jahr eine Veranstaltung zum Klimawandel hatte absagen müssen, sagt Heudorf. Grund waren Proteste gegen den Hauptreferenten, weil der ein Klimaleugner sei. Die Co-Referentin sagte ab, weil sie ihm kein Podium geben wollte. „Die Meinungsfreiheit und Demokratie ist in unserem Land gefährdet, wenn vom Mainstream abweichende Meinungen nicht mehr geäußert werden können oder deren Vertreter als nicht mehr diskursfähig gecancelt werden“, heißt es nun in der Einladung zur Veranstaltung über Cancel Culture. Das schwer zu übersetzende Wort beschreibe einen aktuellen Zustand des öffentlichen Diskurses. Einer Allensbach-Umfrage in Deutschland 2021 zufolge gab mehr als die Hälfte der Befragten an, sich nicht mehr frei zu allen Themen äußern zu wollen.
Sabine Beppler-Spahl spricht von einem gesellschaftlichen Klima der Einschüchterung. Von einer Zensur, die nicht von oben komme, sondern aus der Gesellschaft. Wer nicht im Mainstream schwimme, werde kalt gestellt. So wurde eine Biologin von der Langen Nacht der Wissenschaft wieder ausgeladen, weil sie die Auffassung vertritt, dass es nur zwei Geschlechter gibt. „Es wird nicht die Debatte gesucht und widersprochen, sondern sie im Vorhinein unterbunden.“ Oder die zwei schwarzen deutschen Künstlerinnen, die in ihrer Performance das N-Wort benutzen. Eine Veranstaltung mit ihnen wurde abgesagt. Wer gegen Konventionen verstoße, so Beppler-Spahl, riskiere seinen guten Ruf, womöglich seinen Job. „Cancel Culture ist eine Kultur der Feigheit“, lautet das vernichtende Urteil der Vorsitzenden des Vereins Freiblickinstitut, der unter anderem Debattierwettbewerbe für Schülerinnen und Schüler veranstaltet. Weil die verbale Konfrontation Spaß mache, der Austausch von Argumenten. „Ein Gespräch ist immer das, was einen weiter bringt.“ Die Meinungsfreiheit sei eine Grundfreiheit, die es zu verteidigen gelte.
Dieser Diskurs über Sexismus, Rassismus, Nationalismus sei einer der westlichen Welt, sagt Norbert Bolz. „Aus politischer Korrektheit werden Nichtkontakte in Kauf genommen.“ Vernünftige Gründe spielten dabei keine Rolle. „Geradezu inquisatorisch“ würden Menschen an den Medienpranger gestellt, die sich nicht an die Regeln der selbst ernannten Korrektheits-Wächter halten. Schutz genössen einzig jene, die im öffentlichen Leben eine unbedeutende Rolle spielen. Vernunft sei nicht gefragt, es gehe einzig um Gefühle, gegen die man nicht argumentieren könne. „Insbesondere in den unsäglichen Talkshows funktioniert das so. Die Menschen sagen, sie leiden.“ Das sei „Wokeness“ – die dritte Steigerung nach Political Correctness und Cancel Culture.
All dies sei „eine Sumpfblüte der westlichen Universitäten“, urteilt der Professor. Die 68er-Protestgeneration habe die Hochschulen okkupiert. Träger des ganzen sei „die akademische Intelligenz“, sie sei mit Professorenstellen befriedet worden. Sein Urteil fällt vernichtend aus: „Die Geisteswissenschaften sind verloren, das lässt sich nicht mehr retten.“
Die Aufzeichnung der Veranstaltung finden Sie unter https://t1p.de/imjfv
Jutta Rippegather