Benedict Stilling wurde am 22. Februar 1810 als Sohn eines Wollhändlers in der kleinen hessischen Stadt Kirchhain geboren. Die Eltern Jacob Benedict und Veilchen Stilling hatten vier Kinder: außer Benedict den zwei Jahre jüngeren Samuel und die beiden Töchter Bette und Hannchen (geb. 1814 und 1817). Mit 14 Jahren ging Benedict auf das Gymnasium Philippinum in Marburg, mit 18 Jahren bestand er das Maturitätsexamen. 1828 schrieb sich Stilling an der Alma mater Philippina in Marburg zum Studium der Medizin ein.

Sein Anatomielehrer war Christian Heinrich Bünger, der in dem alten Theatrum Anatomicum in der Ketzerbach lehrte. Von den Lehrern imponierte ihm vor allem der Kliniker Heusinger, der die Studenten mit seinen Vorlesungen und klinischen Demonstrationen geradezu begeisterte. Heusinger muss auch für Stilling das Ideal eines Lehrers gewesen sein. Er ist vermutlich auch derjenige, der Stilling für anatomische und physiologische Forschung begeisterte. 1832 bestand Stilling das Doktorexamen mit „summa cum laude“. Eine Note, die an der Fakultät seit zehn Jahren nicht mehr erteilt worden war. Der Titel seiner Inaugural-Dissertation hieß „Bildung einer künstlichen Pupille in der Sclerotica“. Stilling war der Erste, dem es gelungen ist, ein Stückchen Hornhaut aus dem Auge eines Kaninchens auf das Auge eines anderen unter Erhalt der Durchsichtigkeit zu übertragen.

1833 wurde Stilling Assistent von Prof. Ullmann an der chirurgischen Klinik in Marburg. Er entwickelte eine neue Methode der Blutstillung und erfand das Verfahren der „Gefäßdurchschlingung“. Im Herbst 1833 wurde er – völlig unerwartet – als erster Jude von der kurhessischen Regierung zum Landesgerichtswundarzt in Kassel ernannt. Stillings Traum war eigentlich eine Stelle als Professor für Chirurgie. Seine Glaubensgenossen verlangten von ihm jedoch, dass er durch Annahme der Staatsstelle in Kassel die „Emancipation“ der Juden voranbringen würde. Stilling konnte den Schmerz über die Entscheidung, die ihm auferlegt wurde, niemals verwinden. Noch in höherem Alter war er bereit, seine Stellung mit einer Professur der Chirurgie zu tauschen.

Im März 1834 zog er nach Kassel, um dort seine Stelle anzutreten. Stilling wurde bald zu einem der beliebtesten Chirurgen der Stadt, er fand Zutritt bei den besten Familien. 1837 führte er die erste Ovariotomie unter Anwendung einer speziellen extraperitonealen Technik durch, um das innere Blutungsrisiko zu minimieren. 1840 wurde Stilling genötigt, einer Zwangsversetzung nach „Eiterfeld“ bei Fulda zuzustimmen. Die Erfolge seiner ärztlichen Tätigkeit hatten dazu geführt, dass einflussreiche Kollegen ihn mithilfe der Obrigkeit aus Kassel vertreiben wollten.

Kurfürst Friedrich-Wilhelm I., ein vehementer Judenhasser, drängte Stilling schließlich aus dem Staatsdienst. Trotz mehrfacher Anerbietungen durch den Minister konnte Stilling sich nicht dazu entscheiden, höhere Staatsstellen oder gar eine Professur unter der Bedingung anzunehmen, dass er zum Christentum übertreten würde. 1838 heiratete Stilling Minna Büding, die Tochter des reichsten Kasseler Bankiers Moses Büding. Das Paar hatte drei Söhne, von denen wiederum zwei Ärzte wurden.

Immenses Arbeitspensum

Infolge der Entlassung aus dem Staatsdienst richtete sich Stilling im Zentrum Kassels in der Cölnischen Straße eine Praxis ein und war bald der bekannteste und erfolgreichste Arzt der Stadt. Die freie Zeit, die ihm neben der Arbeit verblieb, nutzte er für die Wissenschaft. Er machte Experimente unter primitivsten Bedingungen. Sein Arbeitspensum muss immens gewesen sein. Er soll morgens um drei Uhr mit der Arbeit begonnen und sie abends um zehn Uhr beendet haben. Stilling absolvierte mehrfach wissenschaftliche Auslandsaufenthalte sowie Kongressreisen nach Paris und London. Er kam in Kontakt mit namhaften Wissenschaftlern wie Claude Bernard, Brown-Sequard und anderen. Die Teilnahme am Treffen der „Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte“ vermehrte Stillings wissenschaftliche Bekanntheit. 1865 wurde er zum Mitglied der „Nationalen Akademie der Wissenschaft Leopoldina“ gewählt. 1878 war Stilling Präsident des Kongresses der „Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte“ in Kassel. 1859 und 1873 war er für längere Zeit krank. Am 28. Januar 1879 ist er nach kurzer Krankheit in Kassel gestorben.

Landarzt und ärztliche Praxis

Stilling war es aufgrund jüdischen Glaubens nicht vergönnt, sich an einer deutschen Universität klinisch und wissenschaftlich zu profilieren. Er hat seinen Lebensunterhalt als Landarzt verdienen müssen. Als solcher war er jedoch sehr erfolgreich und genoss hohes Ansehen bei seinen Patienten. Stilling hat sich vor allem mit der operativen Medizin auseinandergesetzt. Die Operation an den Harnwegen, die er bei seinen Pariser Kollegen gelernt hatte, machte ihn als Operateur schnell bekannt. Er war über Jahre hinweg einer der wenigen Ärzte in Deutschland, der die Entfernung des Ovars durchgeführt hat. Technik und Ergebnisse dieser OP hat er in der „Geschichte einer Exstirpation eines krankhaft vergrößerten Ovariums nebst einigen Bemerkungen über diese Operation“ veröffentlicht. Die Publikation geriet jedoch in Vergessenheit. Zehn Jahre später hat der Engländer Duffin diese Operationsmethode als eigene Erfindung deklariert.

Wissenschaftliche Ambitionen

Schon während der Zeit in Marburg veröffentlichte Stilling verschiedene Aufsätze Er bewies durch seine Forschung auf verschiedensten medizinischen Gebieten seine ungeheure Vielseitigkeit. Er hat sich jedoch vor allem mit der Anatomie des Gehirns und des Rückenmarks auseinandergesetzt. Stilling blieb es vorbehalten, mithilfe einer neu entwickelten Technik die Feinstruktur von Gehirn und Rückenmark zu beschreiben. Unter dem Einfluss von Schwann und mithilfe optimierter mikroskopischer Apparatur begann in den dreißiger Jahren die Neurohistologie. Auch Stillings Arbeiten waren zunächst neurophysiologisch ausgerichtet, später kamen neuroanatomische Studien hinzu.

Die Veröffentlichung Stillings berühmtester Publikation „Physiologische, pathologische und medizin-praktische Untersuchungen über die Spinalirritation“ erfolgte 1840. Zum ersten Male tauchte in der Literatur der Begriff der „vasomotorischen Nerven“ auf. 1837 hatte der große Berliner Physiologe Johannes Müller die Existenz einer Muskelschicht der Gefäße noch bestritten. 1840 konnte Henle, damalig Prosektor an der Charité, eine Muskelschicht an den Gefäßen mikroskopisch bestätigen. Stilling hat, wie Henle auch, auf der Grundlage des Experiments die Lehre des vasomotorischen Nervensystems entwickelt.

Es folgten vielfältige anatomische Arbeiten über Bau und Struktur des Rückenmarks, die medulla oblongata sowie die Wurzeln des Rückenmarks. Stilling schuf somit die Basis für die moderne Anatomie des Zentralen Nervensystems. Mithilfe einer neuen Untersuchungsmethode war er in der Lage, die Markfaserung sowie die Verknüpfung der Nervenfaserzüge mit der grauen Substanz dazustellen. Anfänglich benutzte er das von seinem Freund Wallach entwickelte „Compressorium“, mit dem Quetschpräparate des Nervensystems untersucht wurden. Die Qualität der Präparate war jedoch aufgrund von Artefakten schlecht. Die erste Monographie über das Rückenmark wurde demzufolge auch zu einem Fehlschlag, zumal Stilling und Wallach die Existenz von Nervenzellen im Rückenmark abstritten. Der Irrtum wurde zwar später korrigiert, hat aber dazu geführt, dass ihre Leistung als Histologen anfänglich nur gering geschätzt wurde.

1842 ließ Stilling Rückenmark einfrieren und hat dann mit dem Skalpell feine Querschnitte durch das vereiste Gewebe gemacht. Der Feinbau des Rückenmarks erschien ihm plötzlich in bis dahin nicht gekannter Präzision. Im Weiteren verwendete er durch Alkohol gehärtetes Rückenmark, das er in hauchdünne Scheiben zerlegt hat. Die Schnitte wurden in geordneter Reihenfolge durchgeführt und der Faserverlauf jedes Segmentes beschrieben. Im Jahre 1842 wurde sein erstes, 1878 sein letztes Werk über seine neuroanatomischen Untersuchungen veröffentlicht.

Stilling verfasste Bücher und auch Bildatlanten. Es ist kaum vorstellbar, dass und wie ein einziger Mensch ohne eine entsprechende universitäre Infrastruktur eine solche Arbeit neben der alltäglichen Praxis vollbracht hat. Die Beschreibung des Bauplans des Zentralen Nervensystems ist ganz wesentlich durch Stilling erfolgt. Und noch eines: Stilling hat auch „Kerne“ der Hirnnerven entdeckt. Kussmaul formuliert es in seiner Gedächtnisrede so: „Stilling wies auch für die meisten Wurzeln der Gehirnnerven einen analogen Ursprung aus besonderen Anhäufungen grauen Marks in den höher gelegenen Centraltheilen nach. Diese Herde grauer Marksubstanz, aus denen die Wurzeln der Gehirnnerven wie aus Kernen entspringen, nennt man, ihrem Entdecker zu Ehren, die Stilling’schen Nervenkerne“.

Lebensziel

Die Verwirklichung seines Lebensziels, Professor für Chirurgie zu werden, wurde Stilling aufgrund der antisemitischen Haltung der politischen Elite verwehrt. Während zu damaliger Zeit nahezu jeder Kern oder Faszikel mit dem Namen seines Entdeckers dekoriert wurde, ist die epochale Leistung Stillings seitens der führenden deutschen Anatomen nie entsprechend anerkannt oder gewürdigt worden. Schaut man heute in ein Lehrbuch der Neuroanatomie, so ist Stillings Name einzig mit der Stilling-Clarkeschen Säule verbunden. Niemand zuvor hat die Feinstruktur des Gehirns jedoch so exakt darzustellen vermocht wie er. Fleiß, Ausdauer und Ehrgeiz haben seine Neugier immer wieder neu angetrieben.

Der Kliniker Adolf Kussmaul gehört zu den Wenigen, die sich bemüht haben, die geniale Leistung Stillings zu würdigen. Kussmaul zollt Stilling 1879 dahingehend die Ehre, dass er eine Gedächtnisrede auf ihn hält. Er hält Stilling für einen großen Wissenschaftler, dem in vielerlei Hinsicht Unrecht getan wurde. Kussmaul kritisiert Stilling aber auch und erklärt, warum Teile seiner mikroskopischen Forschung mit Misstrauen aufgenommen wurden. Gleichzeitig stellt er dar, dass vieles vermutlich anders gekommen wäre, wenn Stilling an einer Universität im innigen Austausch mit Gelehrten von Profession hätte arbeiten können bzw. dürfen.

Im Ausland wurde Stilling dafür mehr geachtet. Bei den Franzosen war es vor allem Claude Bernard, der Stilling sehr geschätzt und die „Academie des sciences“ auf seine Arbeiten aufmerksam gemacht hat. Stilling bekam von der „Academie des sciences“ für seine Arbeiten mehrere Preise verliehen, darunter auch den Montyonschen. Zahlreiche Akademien und Gesellschaften des In- und Auslandes ernannten ihn zu ihrem Mitglied.

Prof. Dr. med. Ulrich Köhler, Klinik für Innere Medizin SP Pneumologie, Intensiv- und Schlafmedizin, Philipps-Universität, Marburg, E-Mail: koehleru@med.uni-marburg.de

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