Eine Aufgabe für das Gesundheitswesen und die Gesellschaft

VNR: 2760602023146280004

Prof. Dr. med. Barbara Schneider, PD Dr. med. habil. Ute Lewitzka, Dr. med. Christiane Schlang, Dr. med. Christine Reif-Leonhard, Prof. Dr. med. Andreas Reif

 

Abstrakt

Ungefähr jeder hundertste Mensch verstirbt an Suizid; der Suizidprävention kommt daher eine besondere Aufgabe zu. Sie setzt auf ganz unterschiedlichen Ebenen an (universelle, selektive und indizierte Interventionen) und umfasst unter anderem die optimierte Behandlung psychischer Erkrankungen, Öffentlichkeitsarbeit und Entstigmatisierung, Medienarbeit, Methodenmonitoring sowie Methodenrestriktion. Ärzte und vor allem Ärztinnen sind eine besondere Risikogruppe, weshalb für diese Berufsgruppe vor allem niedrigschwellige und gezielte Hilfsangebote gemacht werden sollen, was bislang leider kaum der Fall ist.

Einleitung und Epidemiologie

Suizidalität entsteht im Zusammenspiel von individuell-biografischen, medizinisch-somatischen und gesellschaftlich-kulturellen Einflüssen und ist somit sehr komplex. Suizidalität als Phänomen ist vorübergehend, Suizid jedoch endgültig, was die Notwendigkeit von adäquatem, evidenzbasiertem Umgang mit Suizidalität und deren Vorbeugung aufzeigt. Daher ist Suizidprävention eine vielschichtige, gesamtgesellschaftliche Aufgabe, vor allem aber eine Herausforderung für das Gesundheitswesen und die Gesundheitspolitik. Gerade vor dem Hintergrund einer Liberalisierung der Gesetzgebung zum assistierten Suizid in Deutschland gilt es, suizidpräventive Strukturen zu stärken, da im Zusammenhang mit einer Liberalisierung der gesetzlichen Regelungen des assistierten Suizids auch die Rate der Suizide ohne Assistenz ansteigt [1].

Jährlich nehmen sich in Deutschland knapp 10.000 Menschen das Leben, davon sind etwa 70 % Männer: Im Jahr 2021 verstarben 9.215 Menschen durch Suizid (2.410 Frauen und 6.805 Männer) und damit mehr als dreimal so viele wie durch Verkehrsunfälle. Die Verteilung der Suizidraten in Deutschland folgt dem sogenannten ungarischen Muster, das heißt mit zunehmendem Lebensalter steigt für beide Geschlechter das Suizidrisiko an, wobei Männer in jedem Lebensalter deutlich häufiger Suizide vollenden als Frauen (Abb. 1) [2].

Im Gegensatz zu Suiziden werden Daten zu Suizidversuchen in Deutschland nicht systematisch erhoben, sondern lediglich im Rahmen einzelner Projekte (z. B. in Frankfurt FraPPE [3]). Nach Angaben der WHO kommen auf jeden Suizid etwa 10 bis weit über 20 Suizidversuche, so dass man ca. 100.000 bis 200.000 Suizidversuchen in Deutschland pro Jahr annehmen kann (bzw. ca. 2.000 in einer Stadt wie Frankfurt/Main). Neuere Untersuchungen gehen davon aus, dass jeder Suizid ungefähr 135 davon betroffene Menschen hinterlässt [4]. Diese Zahlen zeigen eindrücklich auf, dass Suizidalität eine große Herausforderung für die Gesellschaft im Allgemeinen und die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung im Speziellen ein großes Problem darstellt.

Umfassende Übersichtsarbeiten zum Thema Suizidalität wurden in jüngerer Zeit von Turecki et al. [5] und Fazel und Runeson [6] vorgelegt. In den meisten Fällen lag bei vollendetem Suizid [7] auch eine psychische Erkrankung vor, jedoch kann nicht automatisch von Suizidalität auf das Vorliegen einer psychischen Erkrankung geschlossen werden [8]. Bei beinahe allen psychischen Erkrankungen ist das Suizidrisiko deutlich erhöht, insbesondere jedoch bei affektiven Erkrankungen (depressive und bipolare Störungen), Alkohol- und Drogenabhängigkeit sowie Schizophrenie [9, 10, 11, 7].

Aufgrund der Häufigkeit von Depressionen (Einjahresprävalenz ca. 7 %) ist diese Erkrankungsgruppe hinsichtlich vollendeter Suizide mit Abstand am bedeutendsten. Auch frühere Suizidversuche sind ein relevanter Risikofaktor für vollendeten Suizid [12, 13], ebenso wie ein Suizid (-versuch) in der Familienanamnese. Neben psychischen Erkrankungen sind körperliche Erkrankungen wie bösartige Tumorerkrankungen, Niereninsuffizienz, Schlaganfall und verschiedene neurologische Erkrankungen Risikofaktoren für Suizid [14, 15, 16, 17]. Psychosoziale Risikofaktoren sind unter anderem Einsamkeit und soziale Isolation sowie belastende und traumatische Lebensereignisse.

Aufgrund der hohen Prävalenz und enormen Folgen suizidalen Verhaltens sind präventive Maßnahmen unerlässlich, nach wie vor jedoch in der Breite wenig bekannt. Der nachfolgende Text gibt daher einen Überblick über Suizidprävention sowie eine ausführliche Darstellung einzelner Maßnahmen.

Was ist Suizidprävention?

Die Ansätze in der Praxis der Suizidprävention haben sich verändert. Im Vordergrund steht das Verständnis der individuellen Umstände der Betroffenen und das Angebot – und nicht der Zwang – zur Hilfe. Damit die betroffenen Personen überhaupt Unterstützung in Erwägung ziehen können, ist die Straflosigkeit suizidaler Handlungen unabdingbar. Dies gilt ebenso für die Bewertung der Suizidgedanken der Betroffenen. Suizidgedanken als Ausdruck einer existenziellen Notlage ernst zu nehmen, und nicht als „Bagatelle” oder unabänderlich abzutun, ist überhaupt erst die Voraussetzung für stützende Kontakte.

Suizidprävention richtet sich im Schwerpunkt an Menschen mit Gedanken an einen Suizid und die damit befassten Menschen. Zur Prävention suizidaler Handlungen bis hin zum Suizid dienen eine Vielzahl einzelner Maßnahmen (siehe [18]).

Die WHO [19] hat ein sehr weit gefasstes Verständnis von Risikofaktoren auf verschiedenen Ebenen zugrunde gelegt, der des Gesundheitswesens, der Gesellschaft, der Kommune, der Beziehungen und des Individuums (Abbildung 2). Die Kenntnis spezifischer Risikofaktoren ermöglicht die Definition bestimmter Interventionsbereiche. Die Einteilung der Prävention erfolgt in drei Gruppen (siehe Abbildung 2).

  • Universelle Interventionen, welche die gesamte Bevölkerung betreffen:

Aufklärungsaktivitäten verbessern die „Awareness“ innerhalb der Gesellschaft, die seelische Gesundheit der Bevölkerung und deren Fähigkeit, mit Suizidgefährdeten zu kommunizieren. Aber auch eine Reduktion des Alkohol- und Drogenkonsums sowie Interventionen in Kindheit und Jugend, wie z. B. die Reduktion körperlicher und sexueller Gewalterfahrungen [20] als bedeutsame Risikofaktoren für suizidales Verhalten sind relevante Interventionen. Als wesentlich gelten darüber hinaus auch die Möglichkeiten des Zugangs zum Gesundheitssystem.

Die Einschränkung des Zugangs zu Suizidmitteln hat den stärksten nachgewiesenen suizidpräventiven Effekt [19, 21]. Dazu gehören u. a. die Entgiftung von Haushalts- und Autogas [22], die Einschränkung der Verfügbarkeit von Schusswaffen [23] – als Negativbeispiel dienen hier leider die USA mit über 24.000 Suiziden mittels Feuerwaffen pro Jahr, entsprechend 7,4/100.000 Einwohner –, die Absicherung des Zugangs zu sogenannten Suizid-Hotspots, wie ungesicherten Brücken oder Türmen [24], die Absicherung von Bahngleisen [25, 26], die Verblisterung und Beschränkung der Abgabemenge von Medikamenten, die in Überdosierung tödlich wirken [27], sowie die Zugangsbeschränkungen zu Pestiziden [28]. Nachgewiesen ist auch, dass die Einschränkung des Zugangs zu einer Suizidmethode nicht zu einem Anstieg anderer Suizidmethoden führt.

Zur universellen Prävention gehören auch der Umgang der (sozialen) Medien vor allem mit der Berichterstattung über einen Suizid, da die Darstellung von Suiziden im Sinne des Werther-Effektes weitere Suizide zur Folge haben kann [29, 30, 31]. Die Art und Weise der Berichterstattung über suizidale Krisen und darüber, welche Hilfsmöglichkeiten für Betroffene bestehen, kann andererseits auch einen schützenden Effekt haben (sogenannter Papageno-Effekt). Dem Vorhandensein von Medien-Richtlinien kommt daher eine besondere Bedeutung zu.

  • Selektive Interventionen, die das Suizidrisiko in spezifischen Risikogruppen reduzieren sollen:

Neben Möglichkeiten der wirksamen Weiterverweisung im Gesundheitssystem und der Verbesserung der Notfallversorgung mit niedrigschwelligen Kriseninterventionsangeboten und der adäquaten Behandlung von psychischen Erkrankungen führen spezifische Fort- und Weiterbildungen von Professionellen mit Zugang zu suizidgefährdeten Personen zu einer Senkung der Suizidrate [32]. In diesem Sinne sollten alle ärztlich Tätigen sowohl über das notwendige Wissen über Suizidalität verfügen als auch über die notwendige Handlungskompetenz, mit suizidalen Personen umzugehen. Diese Basisfähigkeiten müssen bereits im Studium vermittelt werden, sollten aber auch in der beruflichen Weiterbildung insbesondere bei relevanten Facharztgruppen (wie beispielsweise Allgemeinärzten oder Anästhesisten) verankert werden. Dies muss auch zur Folge haben, dass Patienten in suizidalen Krisen schnell und sorgfältig innerhalb des psychiatrischen Versorgungssystems untersucht und behandelt werden. Niedrigschwellige dementsprechende Angebote müssen daher vorgehalten (und gegenfinanziert) werden. In der ambulanten Versorgung kommt hier den Allgemeinmedizinern als langjährigen Haus- und Familienärzten besondere Bedeutung und eine zentrale Rolle in der Diagnostik und im Umgang mit Suizidalität zu, nicht zuletzt, da sie erste (und oft auch letzte) Anlaufstelle bei Suizidalität sind [33, 34, 35]. Hier kann eine Suizidgefährdung ggf. frühzeitig erkannt und die weitere Behandlung der Patienten eingeleitet werden (z. B. [36]), weshalb gute Kenntnisse bzgl. suizidalen Verhaltens, psychischer Erkrankungen und des lokalen Hilfesystems von hoher Relevanz für diese Berufsgruppe ist.

Zu den selektiven Interventionen gehört darüber hinaus das Training von sogenannten „Gatekeepern“ (Menschen mit Kontakten in ihrem spezifischen Lebenskontext, z. B. Lehrer oder Pflegeberufe) im Erkennen von Suizidalität, aber auch von Alkoholabhängigkeit und Depressivität.

Informationsbroschüren und Praxisrichtlinien zum Erkennen und Handhaben von Suizidalität sind hierbei wertvolle Hilfsmittel, die weiter verbreitet werden müssen. Eine Zusammenstellung findet sich unter https://frappe-frankfurt.de/downloads.

  • Indizierte Interventionen, die der Reduzierung des Suizidrisikos bei hoch gefährdeten Personen (z. B. schwer depressive Personen oder Personen nach Suizidversuch) dienen:

Indizierte Interventionen sind gezielte professionelle Hilfen nach einem Suizidversuch und bei suizidalem Erleben, auch für Angehörige, Freunde sowie verschiedene professionelle und nicht-professionelle Helfende.

Neben der umgehenden und leitliniengerechten Behandlung von psychischen Erkrankungen sind die Entwicklung und Anwendung psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlungen der Suizidalität angezeigt. In medikamentöser Hinsicht bieten sich hier zur kurzfristigen Entlastung anxiolytische Benzodiazepine wie Lorazepam (1 bis 4 mg/die) an; beim Vorliegen einer Notfallsituation, wie sie Suizidalität darstellt, im Rahmen einer Depression besteht die Indikation zur Gabe von intranasalem Esketamin (Handelsname: Spravato) im stationären Setting. Langfristig suizidprophylaktisch wirken sowohl Lithium als auch Clozapin, wobei letzteres nur bei Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis zum Einsatz kommt. Antidepressiva wirken über die Besserung der Grunderkrankung suizidphrophylaktisch, wobei insbesondere in der Eindosierungsphase von aktivierenden Antidepressiva (z. B. Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, SSRI) auf eine höhere Umsetzungswahrscheinlichkeit von suizidalen Gedanken und Impulsen geachtet werden muss, da die Antriebssteigerung der Stimmungsaufhellung vorhergeht. Stimulanzien verringern bei Patienten, die an ADHS leiden, ebenfalls suizidales Verhalten.

Neben störungsspezifischen Psychotherapiemethoden wie der dialektisch-behavioralen Therapie (DBT) bei der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung, wurden in den vergangenen Jahren auch Therapien zur Behandlung des suizidalen Syndroms oder zur Postvention nach Suizidversuch entwickelt. Hierzu gehört zum Beispiel die psychotherapeutische Kurztherapie nach Suizidversuch (ASSIP – Attempted Suicide Short Intervention Program [37]), deren Effektivität in randomisierten Studien gezeigt werden konnte.

Besondere Bedeutung kommt auch der Schnittstelle zum ambulanten Bereich zu, da die Zeit direkt nach der Entlassung aus der stationär-psychiatrischen Behandlung eine Zeit des hohen Suizidrisikos ist [38, 39, 40]. Nicht nur die Koordination zwischen ambulantem und stationärem Sektor, sondern auch die interdisziplinäre (z. B. zwischen Notaufnahme und Psychiatrie) und die interprofessionelle Koordination (z. B. zwischen niedergelassenen und stationär tätigen Psychiatern) sowie die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Berufsgruppen (z. B. dem medizinischen, psychologischen, pflegerischen und sozialarbeiterischen Fachpersonal) muss sichergestellt sein; oft ist dies allerdings noch nicht ideal gelöst. Dieses Problem proaktiv anzugehen ist ein Auftrag insbesondere an die stationären Einrichtungen.

Auf der individuellen Ebene kommt der Suizidprävention entgegen, dass suizidale Menschen in der Regel nicht unbedingt sterben möchten, aber unter den gegebenen, meist als hoffnungs- und aussichtslos erlebten Bedingungen so nicht weiterleben können. In diesem Zustand besteht sehr gut die Möglichkeit, Hilfe und Zuversicht durch therapeutisches Handeln zu vermitteln. Akute, lebensgefährdende Phasen bestehen meist nur kurze Zeit [41]. Diese Unbeständigkeit von Suizidalität zeigt sich auch in den Wiederholungsraten nach einem Suizidversuch: ungefähr 70 % der Menschen, die einen Suizidversuch unternommen haben, begehen keinen weiteren Suizidversuch, mehr als 95 % sterben nach einem Suizidversuch innerhalb der nächsten zehn Jahre nicht durch einen Suizid [42, 43].

Aus diesen Zahlen ergibt sich auch der Imperativ für ein therapeutisches Eingreifen bei suizidalem Verhalten. Akute, handlungsweisende Suizidalität ist in der Regel die Indikation für eine stationär-psychiatrische Behandlung. Ist eine akute Eigengefährdung gegeben, der Patient aber aufgrund einer psychischen Erkrankung nicht einsichtsfähig und lehnt die stationäre Behandlung ab, ist eine Unterbringung auch gegen den Willen des Patienten geboten und auf Grundlage der jeweils geltenden PsychKHG durchzuführen [44].

Stand der Suizidprävention in Deutschland

Laut WHO [19] sollte Suizidprävention als Kernkomponente in das nationale Gesundheitssystem integriert sein. Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) weist entsprechend in ihrem Positionspapier [45] auf die Notwendigkeit eines Suizidpräventionsgesetzes in Deutschland hin und benennt konkrete Forderungen, darunter z. B. die nachhaltige Finanzierung der Suizidprävention in Deutschland. Zum Stand der Suizidprävention in Deutschland wurde 2021 im Rahmen eines vom BMG geförderten Projekts durch das Nationale Suizidpräventionsprogramms (NaSPro; ei­ne Initiative, die von der DGS 2001 ins Leben gerufen wurde) ein umfangreicher, wissenschaftlich fundierter Bericht „Suizidprävention Deutschland – aktueller Stand und Perspektiven“ erarbeitet [46]. Die Arbeit in acht Teilprojektgruppen, darunter eine Teilprojektgruppe für die „Suizidprävention in der medizinischen Versorgung“ und eine für die „Suizidprävention in der Hospiz- und Palliativversorgung“ identifizierte zahlreiche Lücken in der Suizidprävention in Deutschland.

Zu den zentralen Empfehlungen des Berichts gehören die Einrichtung einer nationalen Informations- und Koordinationsstelle für Suizidprävention, Verankerung der Themen Suizidalität und Suizidprävention in den Curricula der Studiengänge, Aus-, Fort- und Weiterbildungen aller Berufsgruppen im medizinisch-psychosozialen Bereich, die (Weiter-)Entwicklung und regelmäßige Aktualisierung von Leitlinien, Standards und Empfehlungen sowie Vernetzung, Verbesserung der Nachsorge sowie Koordination und Erleichterung von Hilfsangeboten im niedrigschwelligen Bereich.

Die Gemeinden spielen eine entscheidende Rolle bei der Suizidprävention [19]. Rechtliche Grundlage kommunalen Handelns sind die im jeweiligen Landesrecht verankerten Gesetze (in Hessen: HGöGD), die als Ziele und Kernaufgaben des Öffentlichen Gesundheitsdienstes Gesundheitsförderung, Prävention, Gesundheitsschutz und -koordination vorsehen. Ein flächendeckendes Netz niedrigschwelliger spezialisierter Angebote für Suizidgefährdete, deren Angehörige und Hinterbliebene ist in Deutschland jedoch leider noch nicht vorhanden.

Ein großer Vorteil des kommunalen Ansatzes in der Suizidprävention ist, dass in gemeindepsychiatrischen Verbünden, bei der Psychiatriekoordination oder in eigens gegründeten regionalen Netzwerken Kenntnisse über Strukturen und Zusammenhänge vor Ort vorhanden sind. So können die Zusammenarbeit – insbesondere an den Schnittstellen zwischen ambulanter und stationärer sowie klinischer und außerklinischer Versorgung – verbessert und Synergien genutzt werden.

Wie in Frankfurt am Main [47] können Daten zu Suiziden im Stadtgebiet anhand von Leichenschauscheinen im Gesundheitsamt zeitnah ausgewertet werden. Die Analyse der Daten macht eine gezielte Präventionsarbeit und an den konkreten lokalen Bedarfen ausgerichtete Maßnahmen möglich. Zum Beispiel können Hotspots wie bestimmte Gebäude oder Gleisabschnitte identifiziert und anschließend gesichert werden. Aber auch auf das gehäufte Auftreten von Suiziden in bestimmten Alters- oder Bevölkerungsgruppen kann mit zielgerichteten Maßnahmen (z. B. Informationskampagnen oder Anpassung der Angebotsstruktur) reagiert werden. Dieser Logik folgend, wurden beispielsweise in Frankfurt Hotspots gesichert und lokale Angebote wie zum Beispiel „LoKI” (https://frappe-frankfurt.de/loki-frankfurt) implementiert. Auch das evidenzbasierte 4-Ebenen-Modell der lokalen Bündnisse gegen Depression (https://www.deutsche-depressionshilfe.de/ueber-uns/das-buendnis) verfolgt den Ansatz einer lokalen, gemeindebasierten Prävention und wurde europaweit als Best-Practice-Beispiel ausgezeichnet https://idw-online.de/de/news753831

Grübner [48], van den Bosch und Meyer-Lindenberg [49] und andere wiesen darauf hin, dass Nachbarschaften eine „maßgebliche Rolle für die Gesundheit der Bevölkerung, die sowohl gesundheitsgefährdende als auch -fördernde Faktoren umfasst“, spielen. Städte und Gemeinden können also nicht nur mit gesundheits- und sozialpolitischen Strategien Einfluss auf die Suizidrate nehmen, sondern auch durch stadtplanerische und architektonische Maßnahmen.

Suizidalität und Suizidprävention bei Ärztinnen und Ärzten

Ärzte und vor allem Ärztinnen haben ein signifikant erhöhtes Risiko sowohl für Burnout und depressive Syndrome als auch für manifeste klinische Depressionen und suizidales Verhalten [50–53]. Burnout ist nach ICD-11 ein Symptomcluster bestehend aus (emotionaler) Erschöpfung, Depersonalisierung (Zynismus, Gleichgültigkeit, Distanz vom Job), Erleben von Misserfolg, und zwar ausschließlich im beruflichen Kontext. Es handelt sich also um einen Risikofaktor für Depression, ist aber nicht mit dieser gleichzusetzen (was allerdings häufig dennoch passiert). Prädisponierende Faktoren für Burnout sind fehlende Wertschätzung, geringe Selbstwirksamkeit, niedrige Arbeitszufriedenheit und eine sogenannte „Gratifikationskrise” bei Frauen [54]. Diese Faktoren finden sich gehäuft insbesondere zu Beginn der ärztlichen Arbeitstätigkeit, in Kombination mit einer hohen Arbeitsbelastung. Wenig überraschend findet sich dann auch bei Ärzten vor allem in der frühen Weiterbildung (und unabhängig von der Facharztgruppe) ein erhöhtes Risiko für Burnout [55], wie vor allem Studien aus den USA an Residents zeigen (z. B. [56, 57]). Dass dies nicht nur ein Problem der Betroffenen ist, zeigt u. a. eine Untersuchung, die darstellt, dass medizinische Fehler bei Burnout deutlich häufiger vorkommen [58].

Wie erwähnt, ist Burnout ein Risikofaktor bzw. eine mögliche Vorstufe einer manifesten Depression mit einer nur unscharfen Abgrenzung und dementsprechendem Handlungsbedarf [59]. Folglich liegen auch die Raten an Depression bei Ärzten in epidemiologischen Studien signifikant höher als in der Allgemeinbevölkerung, unabhängig von Land, Ausbildungsstufe oder Fachdisziplin; in einem systematischen Review wurde festgestellt [60], dass um die 30 % der Untersuchten depressive Symptome angaben. Diese sind bei Ärzten also sehr häufig; inwieweit dies der Diagnose einer Depression entspricht, ist jedoch unklar.

In der administrativen Prävalenz, also bei den Daten der Krankenkassen, liegt die Prävalenz bei weniger als einem Prozent und somit deutlich unter der Allgemeinbevölkerung (z. B. TK Depressionsatlas 2015). Gründe hierfür könnten Stigma, Selbstmedikation und insgesamt geringere Inanspruchnahme des medizinischen Systems sein. Diese in Relation wahrscheinlich zu geringe adäquate Behandlung von Depressionen bei Ärzten trägt möglicherweise auch dazu bei, dass bei diesen häufiger Suizidgedanken vorhanden sind als in der Allgemeinbevölkerung; in einer amerikanischen Untersuchung gaben 6 % der Befragten an, in den vergangenen zwölf Monaten Suizidgedanken gehabt zu haben. Lediglich ein Viertel nahm jedoch professionelle Hilfe in Anspruch, überwiegend aus Sorge vor beruflichen Konsequenzen [61].

Dass es nicht nur bei Suizidgedanken bleibt, verdeutlicht eine Meta-Analyse: bei Ärzten ist das Risiko für vollendeten Suizid um 1,4 gesteigert, bei Ärztinnen sogar um 2,3 [62]. Frauen wählen häufiger Suizidmethoden mit geringerer Todeswahrscheinlichkeit (was nicht bedeutet, dass der Todeswunsch weniger ausgeprägt ist), wie Intoxikationen, im Vergleich zu Männern (Erhängen, Erschießen). Bei Ärztinnen ist sowohl das Wissen als auch die Verfügbarkeit von „sicher tödlichen” Suizidmethoden gegeben, so dass eine höhere Wahrscheinlichkeit besteht, an einem Suizidversuch (der bei Frauen deutlich häufiger vorkommt als bei Männern) zu versterben.

Ärzte und insbesondere Ärztinnen sind daher Personen mit einem deutlich erhöhten Suizidrisiko; dies fließt jedoch kaum in Aus- und Weiterbildungsinhalte oder spezialisierte Angebote ein. Ansätze, die Situation zu verbessern, reichen von Stigma-Reduktion und arbeitsplatzbezogenen Maßnahmen (Achtsamkeit hinsichtlich der mentalen Verfassung der Mitarbeitenden, Stressmanagement, Vermeidung von allzu hoher Arbeitsbelastung, wertschätzendes Umfeld, Erhöhung der Selbstwirksamkeit und vieles andere mehr) hin zu Abbau von Inanspruchnahme-Hürden: bessere Information von Ärztinnen und Ärzten auch über die eigene psychische Gesundheit, spezifische und niedrigschwellige Behandlungsangebote und Beratungsstellen, um nur einige zu nennen.

Elementar ist die Selbstwahrnehmung, insbesondere von Depressionen, als behandlungsbedürftige Krankheiten, mit der Konsequenz des Einleitens einer entsprechenden Therapie, ganz analog zu somatischen Erkrankungen, frei von falschen Scham-, Insuffizienz- oder Schuldgefühlen.

Fazit

Suizidprävention besteht aus verschiedenen, sowohl unspezifischen (Aufklärung, Methodenrestriktion usw.) als auch spezifischen Komponenten, die miteinander verzahnt und aufeinander bezogen sein sollten. Auf dem Boden der beschriebenen Notwendigkeit nationaler Suizidpräventionsprogramme [63], ist die Darstellung und fortlaufende Aktualisierung der vorhandenen wissenschaftlichen Evidenz durch eine Leitlinie ein zentraler Baustein in der Bewertung der möglichen Maßnahmen.

Bei Ärzten ist ein Burnout-Syndrom sehr häufig; dies kann eine Vorstufe zur Depression sein, deren Rate ebenfalls in dieser Berufsgruppe erhöht ist, mit der Konsequenz von vermehrten Suizidgedanken als auch vollendeten Suiziden, vor allem bei Ärztinnen. Als Konsequenz sollte vermehrt Augenmerk gelegt werden auf primärpräventive Maßnahmen im medizinischen Sektor (strukturelle Veränderungen, individuelle Burnout-Prophylaxe), als auch besserer Sekundär-Prävention: hier insbesondere Früherkennung und -behandlung von Depressionen bei Ärztinnen und Ärzten.

Spezifische Informations- und Behandlungsangebote sind dringend notwendig, vor allem da Selbstfürsorge und Inanspruchnahme psychiatrisch-psychotherapeutischer Leistungen bei Ärztinnen und Ärzten noch ausbaubar sind. Hierzu gehört auch die (Selbst-)Erkenntnis, dass Ärzte ebenso wie Andere an psychischen Erkrankungen leiden können und dann die gleiche adäquate Diagnostik und Therapie benötigen wie andere Patienten. Prospektive, auch soziologische, Forschung zu Themen wie (existenzieller) Bedrohung und Isolation in einer stark individualisierten Gesellschaft kann helfen, Risiken zu identifizieren und entsprechend Unterstützungsgebote zu entwickeln.

Prof. Dr. med. Barbara Schneider, M.Sc., MHBA1, 2,,E-Mail: b.schneider@em.uni-frankfurt.de

PD Dr. med. Ute Lewitzka3

Dr. med. Christiane Schlang4

Dr. med. Christine Reif-Leonhard1

Prof. Dr. med. Andreas Reif1

1 Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Universitätsklinikum Frankfurt – Goethe Universität, Frankfurt am Main

2 Abteilung für Abhängigkeits- erkrankungen, Psychiatrie und Psychotherapie, LVR-Klinik Köln

3 Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Dresden

4 Gesundheitsamt Frankfurt am Main

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Multiple Choice-Fragen

Die Multiple Choice-Fragen zu dem Artikel „Suizidprävention – Eine Aufgabe für das Gesundheitswesen und die Gesellschaft“ von Prof. Dr. med. Barbara Schneider und Prof. Dr. med. Andreas Reif et al. Sie im PDF am Ende dieser Seite unter „Artikel herunterladen“ und im Mitglieder-Portal (https://portal.laekh.de). Die Teilnahme zur Erlangung von Fortbildungspunkten ist ausschließlich online über das Portal vom 25. März 2023 bis 24. September 2023 möglich. Die Fortbildung ist mit zwei Punkten zertifiziert. Mit Absenden des Fragebogens bestätigen Sie, dass Sie dieses CME-Modul nicht bereits an anderer Stelle absolviert haben. Dieser Artikel hat ein Peer-Review-Verfahren durchlaufen.

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