Aus der Praxis auf die Straße: Mehr als 1.000 Ärztinnen, Ärzte und Praxisteams aus ganz Hessen haben am Mittwoch, 15. Februar, auf dem Römerberg in Frankfurt ein starkes Zeichen gesetzt. Unter dem Motto „Wir sehen schwarz für die Zukunft Ihrer Versorgung“ protestierten sie gegen die aktuelle Gesundheitspolitik. Zusätzlich blieben landesweit zahlreiche Praxen geschlossen – nach den Praxisschließungen vom 26. Oktober 2022, 30. November 2022 und 18. Januar 2023 bereits zum vierten Mal. Zu den Protesten hatte ein breites Bündnis von 37 Berufsverbänden aufgerufen.
Fest steht: Die herausragenden Leistungen, die die Kolleginnen und Kollegen sowie das Pflegepersonal in den Klinken während der Pandemie erbracht haben, sind zu würdigen und auch zu honorieren. Fest steht aber auch, dass die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte das Schutzschild der Kliniken sind – und dennoch miserabel behandelt wurden und werden. Gesundheitspolitiker setzen mit ihrem einseitigen Blick auf die Kliniken die wohnortnahe ambulante medizinische Versorgung massiv aufs Spiel. Dabei werden mehr als 97 % aller Behandlungsfälle jährlich, das sind rund 600 Millionen, im ambulanten Sektor erbracht, so Christian Sommerbrodt vom Hausärzteverband Hessen.1
„Wir brauchen einen Risikostrukturausgleich für Niedergelassene!“
Zu Hochzeiten der Corona-Pandemie wurde die niedergelassene Ärzteschaft zur Mehrarbeit aufgerufen. Diesem Aufruf sind wir selbstverständlich umgehend nachgekommen. So wurden etwa nach Zahlen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) im Zeitraum von Februar 2020 bis März 2022 insgesamt 19 von 20 Covid-19-Fällen in Praxen behandelt. Wir Niedergelassene und unsere Teams haben somit entscheidend zur Bewältigung der Pandemie beigetragen.
Mehrarbeit wird nicht bezahlt
Nur leider wurde die Mehrarbeit, die für die Versorgung von Corona-Patientinnen und -Patienten erforderlich ist, nicht zusätzlich honoriert. Und leider hat der Gesetzgeber auch für die Medizinischen Fachangestellten einen Coronabonus vergessen. Wir arbeiten bis an unsere Belastungsgrenzen, weil es die akute Erkrankungssituation unserer Patientinnen und Patienten so erfordert, erhalten aber für die Mehrarbeit kein zusätzliches Honorar. Jeder Handwerker würde in einer ähnlichen Situation seine Arbeit sofort einstellen. Nur wir Ärztinnen und Ärzte lassen unsere Patientinnen und Patienten nicht im Stich – kalkuliert der Gesetzgeber genau damit?!
Mit Blick darauf, dass die Krankenkassen eine ungleiche Versichertenstruktur haben, hat der Gesetzgeber 1994 den Risikostrukturausgleich (RSA) in der gesetzlichen Krankenversicherung eingeführt und stetig weiterentwickelt. Im Kern bedeutet der RSA, dass die Krankenkassen nicht das finanzielle Risiko der Krankheitslast ihrer Versicherten tragen, sondern bei Mehrkosten einer Erkrankung eine entsprechende Ausgleichszahlung erhalten.
Risikostrukturausgleich gefordert
Für niedergelassene Ärztinnen und Ärzte gibt es keinen solchen oder ähnlichen Risikostrukturausgleich – dabei wäre ein solcher Ausgleich nötig, denn es kann nicht sein, dass die Niedergelassenen das erhöhte Erkrankungsrisiko ihrer Patientinnen und Patienten selber tragen müssen.
Kein Wunder, dass die Arbeit der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte für die junge Medizinergeneration immer unattraktiver wird. Die Probleme haben sich seit langem abgezeichnet und sie sind vielfältig: Die bürokratische Überfrachtung vieler Abläufe, der schlechte Verlauf der Digitalisierung in den Praxen, die Versorgung von immer mehr älteren und komplex kranken Menschen ohne bessere Honorierung und die wirtschaftliche Unsicherheit mit drohenden Regressen für ein Zuviel an Medikamentenverordnungen oder Verordnungen von Krankengymnastik – um nur einige zu nennen.
Dies alles führt dazu, das junge Ärztinnen und Ärzte den Sprung in die Selbstständigkeit zunehmend scheuen, was den Arbeitsdruck auf die verbleibenden Praxen erhöht.
Die Reaktion der niedergelassenen Ärzteschaft auf diese unhaltbaren Missstände sind regelmäßige Protesttage mit Praxisschließungen. Der Protest werde weitergehen, „… bis es verlässliche Zusagen und tatsächliche Veränderungen seitens der Politik gibt“, ist von der Kassenärztlichen Vereinigung ebenso zu hören wie von Berufsverbänden.
Fest steht: Mehrarbeit von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten und ihren Medizinischen Fachangestellten muss zusätzlich honoriert werden. Und mit einem Risikostrukturausgleich für Niedergelassene könnte der Staat das Dilemma beheben.
Monika Buchalik, Vizepräsidentin der Landesärztekammer Hessen
1 Informationssystem der Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Suchbegriffe: Behandlungsfälle/Krankenhausfälle, Zahlen aus 2020 (https://www.gbe-bund.de)