Eine Ausstellung früher Italien-Fotografien im Städel
„Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn/Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn ... ?“ In Goethes Gedicht Mignon spiegelt sich die deutsche Sehnsucht nach Italien. Spätestens seit der italienischen Reise des gebürtigen Frankfurters träumen sich Menschen in das Land von Kunst und Myrte. Nach Italien reisen und sich selber – oder ein idealisiertes Bild der eigenen Person – in südlichem Ambiente finden: Diese Hoffnung hat Generationen von Germanen dazu inspiriert, auf Goethes Spuren die Alpen zu überqueren.
Die Seufzerbrücke in Venedig, Blick in die elegante Mailänder Galleria Vittorio Emanuele II, der Schiefe Turm von Pisa oder römische Fischer am Tiber nahe der Engelsburg: Unter dem Titel „Italien vor Augen“ lädt das Städel mit einer Auswahl früher Italienfotografien zu einer Reise an italienische Sehnsuchtsorte ein, die bis in den Süden zum Golf von Neapel führt. Es ist eine Tour entlang der bekanntesten Routen mit Motiven, die jeder kennt. Unzählige Male sind sie bis heute fotografiert worden, zieren Plakate, kleben in Fotoalben und sind auf modernen Smartphones gespeichert.
Fotografien mit eigener Sprache
Doch die 90 in der Ausstellung gezeigten Fotografien von Giorgio Sommer, dem Unternehmen der Gebrüder Alinari, Carlo Naya oder auch Robert Macpherson aus der fotografischen Sammlung des Städel Museums sprechen eine eigene Sprache. Anders als die inflationären, die Speicherkapazität mancher Handys sprengenden Urlaubsbilder der Gegenwart, erforderte das Fotografieren vor über 150 Jahren besondere technische Kenntnisse. Die Ausrüstungen waren schwer und die Belichtungszeiten lang. Nicht Schnappschüsse, sondern sorgfältig ausgesuchte Motive – Landschafts- und Städtebilder – prägten in den Jahren 1850 bis 1880 die Vorstellung von Italien als Sehnsuchtsort.
Mit dem Ausbau der Eisenbahnstrecken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fanden viele Reisende den Weg zu den oberitalienischen Seen, an die Küste oder zu den unzähligen Kulturstätten entlang des Stiefels. An Plätzen mit wichtigen Sehenswürdigkeiten entstanden Fotografenstudios und ließen Fotos noch vor Erfindung der Bildpostkarte zu einem beliebten Souvenir werden. Einige der künstlerischsten Exemplare gelangten nach Frankfurt: Der damalige Direktor des Städel, Johann David Passavant, erwarb in den 1850er-Jahren Fotografien für die Sammlung des Museums. Anhand der Abzüge sollten sich kunstinteressierte Besucher und Schüler der angegliederten Kunstakademie ein Bild von Italien und seinen Kunst- und Naturschätzen machen.
Menschenleere Kulturorte
Auf spiegelglattem Wasser gleitet eine venezianische Gondel an Markusplatz, Campanile und Dogenpalast vorbei. Der Wasserfall von Tivoli ergießt sich in die Tiefe und, wie von dem Fotografen auf einem Felsvorsprung drapiert, blicken zwei Gestalten auf Sorrent. Heute von Touristen bevölkert, zeigen sich die italienischen Kulturorte auf den Fotografien meist menschenleer und strahlen damit eine fast unwirkliche Ruhe aus: Keine undurchdringlichen Menschentrauben in Venedig oder Florenz, keine überfüllten Badestrände an der ligurischen Küste. Selbst die Aschewolke auf dem Foto des Vesuv-Ausbruchs von 1872 wirkt wie erstarrt.
Nostalgischer Augenschmaus: Die sepiafarbigen Fotografien in der in Grün- und Rosa gehaltenen Ausstellung verzaubern als Zeugen eines vergangenen Italiens und sorgen zugleich für Wiedererkennungseffekte. Denn die Motive sind über die Jahrhunderte hinweg die gleichen geblieben. Während der Zeitgeist sie regelmäßig mit immer neuen Attributen, Farben, Tönen und Gerüchen überzieht, bleiben sie doch im Kern das, was sie immer waren: geliebte Sehnsuchtsorte.
Katja Möhrle
Ausstellung Italien vor Augen. Frühe Fotografien ewiger Sehnsuchtsorte
https://www.staedelmuseum.de/de/italien-vor-augen, 23. Februar bis 3. September 2023