Die Impfpflicht ist vom Tisch – sämtliche Anträge sind im Bundestag gescheitert. Doch die Frage bleibt: Reichen die Impfempfehlungen und die bislang erreichten Impfquoten auch für die absehbaren weiteren Wellen und neuen Varianten aus? Oder braucht es doch eine Impfpflicht? Darüber diskutierten Anfang März drei Experten aus medizinischer, historischer sowie ethischer und rechtlicher Sicht unter der Moderation von Prof. Dr. med. Ursel Heudorf, 1. Geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Förderkreises Bad Nauheimer Gespräche e. V., auf einer Live-Online-Veranstaltung.
Vom Impfstoff zum Impfprogramm
„Das Impfen ist das erfolgreichste medizinische Interventionskonzept, das in der gesamten Zeit der Medizin erfunden wurde“, betonte Prof. Dr. med. Fred Zepp, Facharzt für Pädiatrie und seit 25 Jahren Mitglied der Ständigen Impfkommission (STIKO). Allerdings sei nicht jeder Impfstoff auch für jeden nützlich. Der sinnvolle Einsatz und Umgang mit verfügbaren Impfstoffen wird von der 1972 gegründeten STIKO gesteuert. „Die STIKO entwickelt Empfehlungen zur Durchführung von Impfungen, zur Durchführung von prophylaktischen Maßnahmen und hat die Aufgabe, Impfkonzepte dahingehend zu bewerten, mögliche Risiken mit dem Vorteil abzuwägen, die eine Impfung hat“, erläuterte Zepp. Ziel seien Empfehlungen im öffentlichen Interesse, die für das Zusammenleben, für das Individuum, aber auch für die Gesellschaft von Bedeutung seien. Zepp betonte, dass die Empfehlungen der STIKO stets nach dem Stand der Wissenschaft entwickelt und angepasst würden.
Entscheidend für die Entwicklung einer Impfempfehlung sei die Frage, welche Impfziele damit erreicht werden könnten. Solche Impfziele seien die Verhütung von Krankheit, die Vermeidung von Infektionen sowie das Verhindern von Komplikationen. Ideal sei eine Impfung dann, wenn diese den Erreger eliminiere, wie z. B. bei der Pocken-Impfung. Voraussetzung dafür sei jedoch, dass das Virus ausschließlich im Menschen pathogen sei. „Wir können nicht jedes Lebewesen auf diesem Planeten impfen. Insofern können wir eine Eradikation bei Kinderlähmung oder Masern erreichen, aber nie bei Covid-19.“ Üblicherweise sei auch die Reduktion von Krankheitskosten bei solchen Entscheidungen von Bedeutung – nicht aber in der aktuellen Pandemie. Außerdem würden Impfungen aus Solidaritätsgründen empfohlen, z. B. um besonders gefährdete Individuen zu schützen.
STIKO und EMA
Was unterscheidet die STIKO-Empfehlung von der Zulassung durch die Europäische Arzneimittelagentur (EMA)? Zepp erklärte, dass die EMA auf Antrag eines pharmazeutischen Unternehmens Studiendaten hinsichtlich Wirksamkeit, Reaktogenität und Sicherheit in Relation zur Krankheitslast prüfe. Diese Daten leite die EMA dann an die STIKO weiter. Die bewerte hingegen die Krankheitslast, was mit dem Impfstoff in welcher Personengruppe erzielt werden könne und betrachtet mögliche gesundheitliche Vorteile sowie Risiken durch eine Impfung. Dieser Zulassungsprozess dauere normalerweise zwischen zwei bis fünf Jahren. In der Pandemie habe man das deutlich beschleunigt mit einem sogenannten rollierenden Verfahren. Deshalb seien die Impfstoffe auch nur bedingt zugelassen. D. h. die Hersteller müssten weitere Daten liefern, ansonsten verfalle die Zulassung nach einem oder zwei Jahren. Parallel dazu erarbeite die STIKO ihre Empfehlungen. „Die STIKO empfiehlt nur“, betonte Zepp. „Die Hoheit für die Implementierung dieser Empfehlungen liegt bei den Gesundheitsbehörden der Länder.“
Die heutigen Impfstoffe wurden für die Ursprungsvariante des Virus von Anfang 2020 entwickelt. „Wir haben großes Glück, dass in der Folge mit der Alpha- und Beta-Variante des Virus die Impfstoffe immer noch gut gepasst haben“, so Zepp. Bei der Delta-Variante passte der Impfstoff schon nicht mehr optimal. „Wenn wir über eine Impfpflicht sprechen, ist es wichtig zu berücksichtigen, haben wir denn überhaupt einen passenden Impfstoff?“ Die aktuell verfügbaren Impfstoffe schützen gegen Omikron, haben jedoch nur eine kurze Wirksamkeitsdauer. Die Frage sei daher: Welches Impfziel könnte mit einer allgemeinen Impfpflicht ab dem 18. Lebensjahr aktuell überhaupt erreicht werden?
Die Geschichte des Impfens
„Seit mehr als 200 Jahren haben die Deutschen Erfahrungen mit der Impfpflicht“, leitete Prof. Dr. Malte Thießen, Historiker an der Universität Münster, seinen Vortrag ein. Was können wir daraus für die aktuelle Situation lernen? 1874 wurde erstmals eine allgemeine Impfpflicht gegen Pocken für ganz Deutschland eingeführt. Ende der 1970er-Jahre galten die Pocken schließlich als ausgerottet.
Die Erfahrung zeige: Die Impfpflicht erhöhte (zumindest) kurzfristig die Impfquote, weil sich die „Bequemen“ oder noch Zögernden mit Druck leichter bewegen ließen. Impfung war nicht nur eine gesundheitliche, sondern auch eine gesellschaftliche Aufgabe. Ein weiterer Vorteil sei demnach die Immunität als soziales Projekt. „Die Impfpflicht verbindet das Individuum mit dem Allgemeinwohl. Sie machte deutlich, dass es bei der Impfung nie nur um uns oder unsere Kinder, sondern um uns alle geht“, so Thießen. Außerdem sei eine Impfpflicht doppeldeutig, in dem Sinne, dass sie nicht nur die Staatsbürger, sondern auch den Staat betreffe. Er müsste dafür Sorge tragen, dass überall sicherer Impfstoff zur Verfügung stünde.
Mit Beginn der allgemeinen Impfpflicht gegen Pocken wurde auch über die Nachteile intensiv diskutiert. So kam es damals zu einer regelrechten Mobilisierung der Impfkritik, indem entsprechende Vereine von Impfgegnern und Kritikern wie Pilze aus dem Boden schossen, erläuterte Thießen: „Impfgegner machten lautstark auf sich aufmerksam, demonstrierten auf den Straßen, verteilten Flugblätter, Plakate, Zeitungen und Broschüren.“ Problematisch sei, dass durch die Pflicht viele Menschen im Sinne der Kritiker mobilisiert wurden, die mitunter noch für das Impfen zu gewinnen gewesen wären.
Auch hätte sich die Impfpflicht gegen Pocken als gewaltige Ressourcenverschwendung bei der Umsetzung, Kontrolle und Sanktionierung erwiesen. Die Impfpflicht sei dabei ein stumpfes Schwert gewesen. „Zwangsimpfungen sorgten für schlechte Presse. Selbst Befürworter der Impfpflicht hielten körperliche Gewalt für übergriffig.“ Man beließ es stattdessen bei Geld- oder Gefängnisstrafen, deren Wirkung jedoch enttäuschten.
Ein weiteres Problem der Impfpflicht: Sie befördere Fälschungen und verstecke Infektionsherde. Und letztlich unterstelle die Impfpflicht allen Menschen das Unvermögen, rational und solidarisch zu handeln.
Freiwillige Impfprogramme
Die Pockenimpfpflicht blieb – zumindest in Westdeutschland – die einzige allgemeine Impfpflicht. Alle späteren Programme setzten auf Freiwilligkeit. „Diese Schutzimpfungen wurden massiv beworben, auch weil seit den 1920er-Jahren zum ersten Mal Pharmaunternehmen Impfungen zu ihrer Sache machten“, erklärte Thießen. Hinzu kam außerdem ein neuer Ansatz: Die Impfung sollte zum Menschen kommen und nicht umgekehrt. Man setzte auf niedrigschwellige Angebote, auf Einladungen per Post, nicht zuletzt auf Aufklärung. Der Erfolg war beeindruckend: Bei der freiwilligen Aktion gegen Diphtherie lag die Impfquote zwischen 92–98 %, bei der Pockenimpfung hingegen, die zu dieser Zeit nach wie vor eine Pflichtmaßname war, war lag sie „nur“ zwischen 70- und 80 %.
Das Impfen wurde individueller: Seit den 1970er-Jahren wanderte es als Kassenleistung in die Arztpraxen. „In historischer Perspektive scheint Freiwilligkeit also ein Erfolgsmodell zu sein. Die Quote aller Standardimpfungen lag seit den 1980er-Jahren fast immer über 90 %“, so Thießen.
Politischer Handlungsdruck
Woher kommt die aktuelle Sehnsucht nach einer Impfpflicht? Thießen erklärt dies mit dem hohen Handlungsdruck der Akteure der Gesundheitspolitik: Impfungen seien nach wie vor das Beste, was wir haben. Sie böten in diesem Fall aber nur einen relativen Schutz. Für die Akzeptanz des Impfprogramms sei das ein Problem.
Impfungen werfen immer auch soziale Fragen auf. Impfprogramme seien ein Test auf die solidarischen Bindekräfte einer Gesellschaft. Die individuelle Risikoabwägung zuungunsten des Allgemeinwohls sei auch die Folge eines Gesundheitskonzepts, das seit den 1970er-Jahren Erfolge feiere: das präventive Selbst. Die Vorstellung von der Selbstoptimierung des Körpers und dass Vorsorge Selbstsorge sei, habe die soziale Dimension des Impfens immer weiter aus dem Blick gedrängt. Die Impfpflicht sei daher ein Versuch, die soziale Frage wieder in den Fokus zu rücken.
Formale und inhaltliche Defizite des Gesetzentwurfs
Die ethischen und verfassungsrechtlichen Probleme einer allgemeinen Impfpflicht gegen SARS-CoV-2 nahm der dritte Referent des Abends, Prof. Dr. Steffen Augsberg, Jurist an der Universität Gießen und Mitglied des Deutschen Ethikrates, in den Blick. So sei das Gesetzgebungsverfahren in vielerlei Hinsicht defizitär. Problematisch sei, dass die Fraktionsdisziplin im Bundestag nicht eingehalten werden müsse. „Das ist eine implizite Abwertung des parlamentarischen Verfahrens“, urteilte Augsberg.
Unklar sei, was mit dem Gesetz erreicht werden solle und wie man z. B: rechtfertigen könne, alle Volljährigen in die Impfpflicht einzubeziehen. Im Frühjahr 2020 sei man davon ausgegangen, dass die Infektiosität infolge der Impfungen rasant und signifikant sinke. Auch sei man davon ausgegangen, dass Geimpfte sich und andere nicht anstecken. Angesichts der Weiterentwicklung des Virus mussten wir lernen, dass diese Aussage nicht mehr zutrifft. Auch dürfe die Diskussion über Nebenwirkungen nicht vernachlässigt werden. „Das Vertrauen in die Impfstoffe gewinnen wir nicht, in dem wir Kritiker abwatschen, sondern uns mit auch abwegigen Argumenten auseinandersetzen und entsprechend versuchen, auf rationale Weise damit umzugehen.“ Die Impfung biete einen guten Schutz vor schwerer Erkrankung und vor Hospitalisierung, weshalb nach Ansicht Augsbergs für Personen mit erhöhtem Risiko diese Impfung wichtig ist. Von einer Gesamtpflicht für die erwachsene Bevölkerung nimmt er jedoch Abstand.
Die Impfpflicht sei ein Versuch, die eine richtige Lösung zu finden, resümiert Augsberg. Eine Maßnahme, die endlich das Ende der Pandemie bedeute. „Wir werden es nicht schaffen, das Virus soweit zu eliminieren, das wir keinerlei Krankheitsfälle mehr haben und auch keine Todesfälle. Aber wir müssen lernen, mit diesem Virus zu leben und die Risiken einzugehen, die damit einhergehen, handhabbar zu machen.“ Ein wesentliches Mittel dafür seien die Impfungen. Doch sei es zu kurz gegriffen, mit einer Impfpflicht alles andere vergessen machen zu können.
Maren Siepmann
LÄKH fordert Impfnachweispflicht
Die Delegiertenversammlung der Landesärztekammer Hessen hat an die Landespolitik appelliert, sich auf Bundesebene dafür einzusetzen, eine zeitlich befristete, allgemeine Impfnachweispflicht gegen SARS-CoV-2-Viren einzuführen. Die Ärztevertreterinnen und -vertreter wiesen am 26. März in Friedberg darauf hin, dass derzeit nur 58 % der Bevölkerung vollständig gegen das Coronavirus geimpft sind (zwei Impfungen plus Auffrischimpfung). Auch wenn eine Impfung keine sterile Immunität erzeuge, erkrankten vollständig Geimpfte seltener schwer, müssten deutlich seltener im Krankenhaus behandelt werden und erkrankten auch seltener an Long-Covid.
„Aufgrund der andauernden pandemischen Lage ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich weitere Virusvarianten entwickeln, hoch. Damit es im Herbst nicht erneut zu einer starken Belastung oder gar Überlastung des Gesundheitswesens kommt und erneut einschränkende Maßnahmen im Alltag eingeführt werden müssen, ist eine hohe Impfquote, insbesondere der älteren Bevölkerung erforderlich“, erklärten die Delegierten.