Im Juli 2021 wurde die S3-Leitlinie Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen PatientInnen veröffentlicht [1]. Unter der Koordination von Prof. Dr. med. Jutta Hübner (Friedrich-Schiller-Universität Jena) und unter Federführung der Deutschen Krebsgesellschaft, der Deutschen Gesellschaften für Hämatologie und Medizinische Onkologie, für Gynäkologie und Geburtshilfe sowie für Radioonkologie wurden 155 Empfehlungen und Statements zum Einsatz komplementärmedizinischer Verfahren in der Behandlung von onkologischen Patienten erarbeitet und konsentiert.

Erklärtes Ziel der Leitlinie war es, für alle in der Onkologie Tätigen ein präzises Nachschlagewerk zu erstellen, das es ermöglicht, Fragen von Krebsbetroffenen evidenzbasiert zu beantworten. Mit diesem Werk sollen alle in der Onkologie tätigen Berufsgruppen in die Lage versetzt werden, aktiv Empfehlungen in diesem Bereich auszusprechen, aber auch von problematischen Maßnahmen und Verfahren abzuraten. In einer avisierten Patientenversion sollen auch onkologische Patientinnen eine Orientierungshilfe im Bereich Komplementärmedizin bekommen.

Bevor auf einige Details der Leitlinie eingegangen wird, soll die Komplementärmedizin kurz definiert werden.

  • Unter Komplementärmedizin versteht man ein breites Spektrum von Disziplinen und Behandlungsmethoden außerhalb der klassischen Medizin (Schulmedizin), die ergänzend zur Schulmedizin eingesetzt werden.

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Davon abzugrenzen ist die

  • Alternativmedizin als Sammelbezeichnung für Behandlungsmethoden, die sich als Alternative zur der wissenschaftlich begründeten klassischen Medizin verstehen [2].

Letztere spielt in der Onkologie eine nicht zu unterschätzende Rolle. Sicher handelt es sich um ein schlecht erforschtes Gebiet. Aber zahlreiche Patienten wenden auch bei onkologischen Problemen alternative Methoden an. Bei einer Zahl von schätzungsweise rund 15.000 Geistheilern in Deutschland [3], um nur eines von vielen alternativen Heilangeboten bei Krebs zu nennen, wird deutlich, dass alternative Behandlungsangebote sehr präsent sind. Bedauerlicherweise fehlt diese Thematik in der neuen Leitlinie.

Wenngleich die Zielgruppe der Ärzte wissen sollte, dass die alternative Medizin in der Onkologie alles andere als eine echte Alternative darstellt, wären Stellungnahmen zu diesen eher als Pseudomedizin zu betrachtenden Behandlungsformen insbesondere für die kommende PatientInnen-Version wichtig gewesen, zumal in der aktuellen Politik zwei der im Bundestag repräsentierten Parteien die alternative Medizin, bzw. einige ihrer Methoden propagieren.

In der Onkologie gibt es mittlerweile gute Evidenz dafür, dass die Konzepte der alternativen Medizin in der Onkologie nicht erfolgreich sind und mit deutlich schlechteren Überlebenschancen einhergehen [4]. Diese Evidenz hätte in der Version für Patientinnen und Patienten deutlich herausgestellt werden sollen.

Aufbau der Leitlinie

Die Thematik Komplementärmedizin wurde in der Leitlinie [1] in vier Bereiche gegliedert und die Evidenz zu einzelnen Methoden dazu aufgearbeitet

  1. Medizinische Systeme – dazu gehören Akupunktur, Akupressur, anthroposophische Medizin, Homöopathie und klassische Naturheilverfahren wie die Balneotherapie.
  2. Mind-Body-Verfahren – unter anderem Meditation, Mindfulness-based Stress Reduction, Tai-Chi, Qigong und Yoga.
  3. Manipulative Körpertherapien – diese reichen von Bioenergiefeldtherapien wie Reiki über Chirotherapie/Osteopathie/Cranio-Sakrale-Therapie, Hypertherapie, Reflextherapie, schwedische Massage und Shiatsu bis über Sport und Bewegung allgemein.
  4. Biologische Therapien – in diesem von zwei Arbeitsgruppen bearbeiteten Block ging es um den Einsatz von Vitaminen, Mineralstoffen, sekundären Pflanzenstoffen und speziellen Ernährungsweisen, zum Beispiel der ketogenen Diät. Auch Phytotherapeutika wie die Misteltherapie wurden in diesem Bereich analysiert und bewertet.

Auf insgesamt 630 Seiten der Langversion werden die verschiedenen Kapitel dargestellt. Positiv ist, dass sowohl Aspekte der Verbesserung der Heilungschancen als auch der Linderung von unerwünschten Wirkungen diskutiert wurden. So findet der Leser zahlreiche hilfreiche Informationen zum Umgang mit der Komplementärmedizin.

Kritische Stellungnahme zur Leitlinie [1]

Sicher war es überfällig, wichtig und richtig, ein solches Werk zu erarbeiten. Auch soll durch diese kritische Betrachtung der Verdienst aller an der Leitlinie beteiligten Personen in keiner Weise geschmälert werden. Jedoch erscheint es ebenso wichtig, auf einige Schwachstellen hinzuweisen, in der Hoffnung, dass in zukünftigen Aktualisierungen und Überarbeitungen die eine oder andere von ihnen beseitigt werden kann [1].

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A) Ernährung: Ein sehr wichtiges Thema bei der Betreuung onkologischer PatientInnen ist die Ernährung. Viele PatientInnen nehmen Fehler bei der Ernährung als eine der wesentlichen Ursachen für die Entstehung von Krebs an. Darüber hinaus gibt es zahllose Krebsdiäten, von denen einige auch gemeinsam mit Methoden der klassischen Medizin gegeben werden sollen. Auch das Fasten spielt eine wichtige Rolle. Dieses soll rund um eine Chemotherapie die Toxizität reduzieren und die Lebensqualität verbessern. Leider wird diese Thematik in der Leitlinie nicht erwähnt. Dies gilt bedauerlicherweise auch für die S3-Leitline der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin e. V. (DGEM) zur klinischen Ernährung in der Onkologie [5].

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B) Supportivtherapien: Die Leitlinie [1] beschreibt und bewertet unterschiedliche komplementärmedizinische Maßnahmen bei Problemen, die durch eine onkologische Behandlung hervorgerufen wurden. In einigen Kapiteln vermisst man jedoch wichtige Informationen. Als Beispiel sei die Mukositis genannt, die sowohl bei Chemotherapie als auch bei Strahlentherapie auftreten kann. Die Leitlinie trennt hier nicht deutlich zwischen oraler und intestinaler Mukositis und auch nicht, ob diese durch Strahlentherapie, Chemotherapie oder eine Kombination von beiden ausgelöst wurde. Für weniger mit der Materie vertraute Personen wäre grundsätzlich der Hinweis auf die allgemeinen Maßnahmen zur Prävention und insbesondere zur standardisierten Mundpflege wichtig gewesen, die in der S3-Leitlinie Supportive Therapie bei onkologischen PatientInnen beschrieben sind [6]. Die Leitlinie Komplementärmedizin selbst erwähnt Natriumselenit und Zink als Möglichkeiten, die insbesondere bei Bestrahlung gegeben werden können und Vitamin E, das nicht zum Einsatz kommen soll. Allerdings werden drei interessante Behandlungsoptionen nicht erwähnt:

  • Honig: Von der Mucositis Study Group der Multinational Association of Supportive Care in Cancer/International Society of Oral Oncology (MASCC/ISOO) wurde eine positive Empfehlung für Honig ausgesprochen, nachdem sich Honig (nicht jedoch Manukahonig) in zahlreichen Studien zur Prävention und Therapie der Mundschleimhautentzündungen unter Strahlentherapie, Strahlentherapie in Kombination mit Chemotherapie und Chemotherapie als sinnvoll herausgestellt hat [7, 8]. Darüber hinaus werden die Optionen
  • Kryotherapie (bei Chemotherapie) [9] und
  • Kaltlichtlaser (low level laser therapy), deren positiver Effekt ebenfalls in Meta-Analysen nachgewiesen wurde [10].

C) Entitätsspezifische Empfehlungen: Wie in der klassischen Medizin kann auch in der Komplementärmedizin davon ausgegangen werden, dass nicht jede komplementärmedizinische Behandlungsoption bei jeder Tumorentität wirkt. Für Praktiker ist es sicherlich hilfreich, entitätsspezifische Konzepte an die Hand zu bekommen. Das gleiche gilt auch für therapiespezifische Empfehlungen, denn komplementärmedizinische Maßnahmen, die womöglich bei Strahlentherapie sinnvoll sind, müssen nicht notwendigerweise in Kombination mit einer Hormontherapie sinnvoll sein. Solche entitätsspezifischen und therapiespezifischen Empfehlungen finden sich nur selten, bzw. sind nur vereinzelt aus den Empfehlungen herauszulesen. In manchen Leitlinien, z. B. S3-Leitlinie Diagnostik, Therapie und Nachsorge der Patientin mit Zervixkarzinom [11] finden sich Kapitel zur komplementären Onkologie. Allerdings sind diese nicht in allen Leitlinien anzutreffen, z. B. S3-Leitlinie Diagnostik, Therapie und Nachsorge maligner Ovarialtumoren [12]. Es wäre wünschenswert gewesen, die entitätsspezifischen Informationen zur komplementären Onkologie in der Leitlinie zumindest für die häufigsten Tumorentitäten zu bündeln.

D) Anthroposophische Misteltherapie: Bei der Misteltherapie wurde die anthroposophische Misteltherapie ausgeklammert. Auch Studien zu Misteltherapie, die eklatante methodische Mängel aufweisen, scheinen gemeinsam mit guten Studien quasi in einen Topf geworfen zu sein. Glücklicherweise entstand aus der Diskussion der Konsens, „dass die Daten für eine klare abschließende Bewertung der Wirksamkeit von Mistelpräparaten zur Verlängerung der Gesamtüberlebenszeit von Krebspatienten in der Gesamtheit aller Tumorentitäten nicht ausreichen“.

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E) Umgang mit den nicht in der Leitlinie erwähnten Methoden: Hier wäre es sinnvoll, allgemeine Ratschläge zu geben, wie und wo sich möglicherweise Informationen zu nicht in der Leitlinie erwähnten Methoden finden lassen und wie mit solchen Behandlungsangeboten allgemein umzugehen ist.

F) Zur Bewertung der Methoden: Grundsätzlich ist das Bewertungskonzept nicht zu beanstanden. Allerdings wäre es sinnvoll gewesen, die Empfehlungen der Leitlinie nicht eindimensional auf die Wirksamkeit auszurichten. Da Sicherheit und Kosten ebenfalls relevante Größen in der Medizin sind, ist eine negative Bewertung allein aufgrund fehlender Wirksamkeit zwar zutreffend, aber unglücklich.

G) Aufklärung der Patienten: Unbestreitbar ist es wichtig, PatientInnen über Komplementärmedizin und deren Chancen und Risiken zu informieren. Allerdings ist davon auszugehen, dass die Umsetzung der Forderungen, die sich aus der Leitlinie ergeben, die Situation an den onkologischen Zentren weiter verschärfen wird.

H) Interessenskonflikte: Eine Recherche der ZEIT zeigte, dass Esoteriker, die deutschen Hochschulen unterwandern, und private Geldgeber die Verbreitung von Homöopathie und anderen medizinischen Systemen an medizinische Fakultäten fördern [13]. Danach zählte das Internetprojekt www.esowatch.com deutschlandweit 17 Hochschulen mit pseudowissenschaftlichen Lehr- und Forschungsangeboten. Vor diesem Hintergrund scheint auch eine gewisse Skepsis der Leitlinie gegenüber angebracht, da einige Mandatsträger als Protagonisten nicht evidenzbasierter Verfahren bekannt sind. Sicherlich wurden von den Mandatsträgern finanzielle Interessenkonflikte offengelegt. Allerdings weisen Diskussionen um Homöopathie und Anthroposophie beinahe pseudoreligiöse Züge auf. Inwiefern Voreingenommenheit und non- pekuniäre Interessenkonflikte Entscheidungen in dieser Leitlinie beeinflusst haben, muss offenbleiben.

Fazit

Die Leitlinie Komplementärmedizin stellt zweifelsfrei einen Meilenstein dar, denn es ist erstmals gelungen, ein konsentiertes Werk zu einer wichtigen Therapierichtung zu erstellen, das eine evidenz-basierte Orientierung in diesem sonst eher unübersichtlichen und von Meinungen dominierten Bereich der Komplementärmedizin gibt. Allerdings bleiben einige Wünsche offen, die hoffentlich in zukünftigen Aktualisierungen berücksichtigt werden.

Prof. Dr. med. Karsten Münstedt, Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Offenburg, E-Mail: karsten.muenstedt@ortenau-klinikum.de          

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