Am Eingang zum Krankenhaus im nordhessischen Witzenhausen erinnert eine Gedenktafel an den hessischen Arzt Dr. med. Otto Buchinger, der hier vor gut 100 Jahren die Methode des sogenannten Heilfastens entwickelte. Wer war dieser Otto Buchinger? Und wie kam es zur Entwicklung seiner heute international verbreiteten Methode des „Heilfastens“ im Rahmen einer integrativen Medizin, die sich auf traditionelle Ursprünge in der Volksmedizin (Stichwort „Kneipp“-Verfahren) und auf den aktuellen Lifestyle-Trend der Wiederkehr des in religiösen Gemeinschaften seit Jahrtausenden verwurzelten Fastens begründet?
Kindheit, Jugend und Studium
Otto Buchinger wurde am 16. Februar 1878 in Darmstadt geboren. Sein Vater war der Regierungsrat Johann Buchinger (1845–1896), verheiratet mit Amalie, geb. Busch (1848–1918), der als großherzoglich-hessischer Regierungsassessor Dienst tat.
Mit seinem Bruder Hans (geb. 1880) verbrachte Otto eine ungetrübte Kindheit in der Residenzstadt Darmstadt zwischen Karl-May-Lektüre, Waldwandern, Eislaufen im Winter und Käfer sammeln im Sommer, die jedoch vom frühen Tod des Vaters im Jahr 1896 überschattet wurde. Das Abitur am Gymnasium zu Darmstadt hätte er um Haaresbreite nicht bestanden: Mathematik ungenügend.
1897 versuchte sich Buchinger mit finanzieller Unterstützung eines Bruders seiner Mutter als Student der Rechtswissenschaft an der Universität Gießen, wechselte jedoch bald zur Medizin, da hier die Vorlesungen weniger früh stattfanden.
Buchinger wurde Korpsstudent. Geschliffenwerden, Kneipen und politische Kampfreden prägten den Alltag und hinterließen bei Buchinger eine Aversion gegen die damals üblichen Trinksitten (heute „Koma-Saufen“). Nach seinem späteren Einstellungswandel trat er aus seinem Korps wegen des dort vorherrschenden Trinkzwanges aus, stand jedoch nach der Abschaffung dieses Zwanges wieder auf der Mitgliederliste.
Prägend für sein weiteres Leben wurde jedoch nicht das Korps, sondern ein häuslicher Philosophenkreis, an dem auch sein Freund Albert Klein, sein ehemaliger Lehrer August Messer (1867–1937) und der Philosophieprofessor Reinhard Strecker (1876–1954) teilnahmen. Zwischen den Semestern absolvierte er im Gießener Infanterieregiment 116 zusammen mit seinem Bruder die Einjährigen-Dienstzeit und setzte anschließend sein Studium im Wintersemester 1899/1900 in München fort. Am 30. Dezember 1901 wurde er approbiert.
Die erste berufliche Tätigkeit führte Buchinger in das Ruhrgebiet, wo er einen Kassenarzt vertrat. Der dortige Arbeitsalltag wirkte auf ihn äußerst ernüchternd. Nebenher begann Buchinger eine psychologisch-psychiatrische Promotion mit dem Titel „Symptom der Personenverkennung“. Die Arbeit uferte aus und wurde nie abgeschlossen. Ein neuer Versuch war erfolgreich, Buchinger schrieb in sechs Wochen ein Heft zu dem Thema „Wie verändert Pepsin die elektrische Leitfähigkeit der Milch?“, die 1902 als Dissertation mit „rite“ anerkannt wurde.
Vom Marinearzt zum Fastenarzt
Buchinger entschloss sich schließlich zu einer Tätigkeit als Marinearzt und trat seinen Dienst auf der Nordseestation in Wilhelmshaven an. Sein erster Einsatz auf hoher See erfolgte 1902 als Unterarzt auf dem Torpedoboot D 9. Ab Mai 1903 diente er auf der SMS Hertha als Begleiter von Prinz Adalbert von Preußen (1884–1948) in einem ostasiatischen Kreuzergeschwader. Über Aden, Ceylon und Singapur ging es bis nach Tsingtau, dann weiter nach Korea (August 1903) und schließlich nach Wladiwostok. In Japan besuchte er Nagasaki und die heilige Stadt Kioto. Buchinger erhielt den siamesischen Kronenorden 3. Klasse und war damit siamesischer Offizier auf Lebenszeit. Auf der Rückreise über die Seychellen gelangte er nach Deutsch-Ostafrika (heute Tansania).
Im Gegensatz zu vielen deutschen Kultur-imperialisten während der deutschen Kolonialzeit betrachtete Otto Buchinger fremde Völker und Kulturen als den europäischen gleichwertig. Die Kolonialpolitik des Kaiserreichs bezeichnete er einmal als „Schuldbuch des weißen Mannes“. Über Westafrika wurde Kurs auf Piräus genommen, wo Buchinger die Akropolis bestaunte, bevor er in Neapel mit Kaiser Wilhelm II. (1859–1941) Bekanntschaft machte.
1905 erfolgte ein kurzer Einsatz auf der SMS München von Kiel aus in die Ostsee, dann nach Norwegen mit Bergen und Trondheim, bevor es 1907/08 mit der SMS Panther nach Südamerika, Westindien und Westafrika ging, wo er Sierra Leone, Liberia und Togo besuchte. Auf See war genügend Zeit zu Lektüre, Buchinger studierte die Werke Nietzsches und beschäftigte sich weiterhin mit seinem Lieblingsautor Goethe.
Auf der SMS Panther beschäftigte sich Buchinger erstmals mit Fragen der Lebensreform, dem Monismus, Askese und Sozialismus. Er begann 1907, Vorträge über Tropenhygiene und Lebensreform an Bord zu halten und praktizierte die damals populäre Hans-Jörg-Müller-Gymnastik.
Am 17. Oktober 1907 wurde Buchinger zum Stabsarzt ernannt. Im Januar 1908 schlug die SMS Panther vor Swakopmund Leck, drohte unterzugehen und wurde in letzter Sekunde von der herbeieilenden SMS Aline Woermann gerettet. Das Schiff wurde in Kapstadt repariert, wo Buchinger unverhofft auf seine ehemalige Darmstädter Jugendfreundin Anna Elisabeth (Else) Sander (1874–1968) traf. Buchinger entschloss sich in Südafrika zur Ehe, nachdem er 1905 eine bereits erfolgte Verlobung auf lntervention seiner dominanten Mutter hatte zurücknehmen müssen. Otto Buchinger und Else Sander heirateten am 12. Dezember 1908 und zogen nach Wilhelmshaven. Ihre Kinder Hans (geb. 1910), Hertha (geb. 1912), Otto (geb. 1913), und Maria (geb. 1916) wuchsen zunächst dort und später in Flensburg und Witzenhausen auf.
Die Alkoholfrage und die Entlassung aus der Marine
Im Laufe seiner Jahre als Marinearzt wurde für Buchinger die Alkoholfrage immer wichtiger. 1909 gründeten der Kapitänleutnant Karl Hinckeldeyn, Oberleutnant Walter Goethe, Oberleutnant Heinz Kraschutzki, Oberleutnant Hans Paasche und der Marineoberzahlmeister Haberer einen Marine-Alkoholgegnerbund. Buchinger trat sofort bei. Auch in den Guttemplerorden „Zum sicheren Kurs“ ließ er sich im Oktober 1909 gemeinsam mit seiner Frau aufnehmen. Seit 1911 betrieb er homöopathische Studien und erwarb das Recht, eine eigene homöopathische Apotheke zu führen.
1909/10 verbrachte Buchinger in Wilhelmshaven und Kiel, bis er auf der SMS Württemberg eingesetzt wurde. 1910 setzte er seinen Dienst an der Torpedoschule Mürwik fort und wohnte mit seiner Familie im nahegelegenen Flensburg.
Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, zogen selbst Wandervögel, Guttempler und Lebensreformer singend in den Krieg. So auch Buchinger. Er diente anfangs als Arzt an Bord des Admiralschiffes Roon und wurde dann nach einem Erholungsurlaub für fast drei Jahre als Chefarzt an das Quarantäne-Festungslazarett Cuxhaven beordert.
Noch vor Kriegsende erkrankte er im September 1917 an einer lakunären Mandelentzündung mit septischem Gelenkrheumatismus und entrann nur äußerst knapp dem Tode. Er überlebte bord- und garnisondienstunfähig als Invalide, an zwei Stöcken gehend, mit einer kaum funktionierenden Leber. Mit der Verleihung des Titels „Marine-Generaloberarzt“ wurde Buchinger im März 1918 aus dem aktiven Dienst entlassen. Eine Kur im Wiesbadener Offiziersgenesungsheim verlief erfolglos und stürzte Buchinger in eine tiefe Verzweiflung über seine zukünftige Existenz. Erst durch eine Fastenkur bei Dr. Gustav Riedlin (1862–1949) in Freiburg aktivierte er seine Kräfte der Selbstheilung und widmete sich nach dieser prägenden Selbstheilungserfahrung in seinem weiteren Schaffen zunehmend der Entwicklung der nach ihm benannten Methode des Heilfastens.
Fastenarzt in Witzenhausen und Bad Pyrmont
Zunächst wurde er jedoch für ein Jahres-Salär von nur 600 Reichsmark Dozent für Tropenhygiene an der Deutschen Kolonialschule in Witzenhausen. Er arbeitete hier die nächsten 16 Jahre, hatte aber, nach dem Verlust der deutschen Kolonien, wenig zu tun und genügend Zeit für private Beschäftigungen. Nach dreijähriger Vorarbeit eröffnete er 1920 in Witzenhausen das Kurheim Dr. Otto Buchinger, auch um seine Familie besser ernähren zu können. Ende 1924 gründete er den „Lichthort-Bund“ und hielt im vegetarischen Restaurant „Pomona“ Vorträge. 1930 entschloss er sich zu einer Weiterbildung und studierte an der „Atemschule“ Schlaffhorst-Andersen bei Celle.
Durch seine vielfältigen Beziehungen zur Lebensreform-Bewegung fanden sich im Laufe ungewöhnliche Persönlichkeiten in seiner Klinik ein wie der Endzeitprophet Louis Haeusser (1881–1927), der Rohkostprediger Gusto Gräser (1879–1958), der Dadaist Johannes Baader (1875–1955), der Metaphysiker Fritz Quade (1848–1944), aber auch etablierte Zeitgenossen wie der Verleger Eugen Diederichs (1867–1930), die Schauspielerin Lil Dagover (1887–1980), der Extremtaucher und lchthyologe Hans Hass (1919–2013), Romano Guardini (1885–1968), Klara May (1864–1944) oder Winifred Wagner (1897–1980), die Leiterin der Bayreuther Festspiele.
Einer der Kurgäste, Heinrich Schöndube, überzeugte Buchinger von der Notwendigkeit der Auswanderung nach Mexiko, um dort ein Sanatorium zu gründen. Buchinger lernte Spanisch und hatte bereits seine Praxisräume in Deutschland gekündigt, als in Mexiko die Revolution ausbrach. Daraufhin nahm Buchinger eine Chefarztstelle in einem Sanatorium bei Berlin an, das sich als Zentrum der Religionsgemeinschaft um Jakob Lorber (1800–1864) entpuppte.
Nach einigen Monaten kündigte Buchinger, da sich in Witzenhausen im sogenannten Werra-Schlösschen neue Praxisräume gefunden hatten und ihm auch wieder seine Dozentenstelle an der Kolonialschule zur Verfügung gestellt wurde, die ihm dann 1933 von den Nationalsozialisten endgültig entzogen wurde.
Das Jahr 1933 war insofern ein Einschnitt, da Buchingers überaus reservierte Haltung zum Nationalsozialismus allgemein bekannt war und vor allem seine Ehefrau Elsbet als „Halbjüdin“ anhaltenden Schikanen und gesetzlichen Nachteilen ausgesetzt war. Schon 1933 vergrub Buchinger in weiser Voraussicht seinen Bestand an verbotenen Büchern und Schriften im eigenen Garten. Im November 1935 verlegte Buchinger seine Klinik vom nordhessichen Witzenhausen nach Niedersachsen in die Kur- und Quäkerstadtstadt Bad Pyrmont. Die genaueren Umstände dieses Wechsels sind bis heute im Stadtarchiv von Witzenhausen gut dokumentiert und geben eindrucksvolle Zeugnisse vom Alltag im Nationalsozialismus in dieser hessischen Kleinstadt.
Auch das Unternehmen in Bad Pyrmont wurde ein Erfolg, die Klinik zählte bald zu den besten Adressen der Stadt.
Persönlichkeiten wie
Zarah Leander (1907–1981),
Arnold Krumm-Heller (1879–1949),
Grethe Weiser (1903–1970),
Hilde Koerber (1906–1969),
Felix Graf Luckner (1881–1966) oder Ludwig Erhard (1897–1977) suchten und fanden hier Heilung. Der Erfolg wurde Buchinger (wie bereits zuvor in Witzenhausen) nicht von allen Pyrmontern gegönnt.
Gegenkräfte stellten sich ein. 1938 zwang die örtliche Parteiführung der NSDAP Buchinger, für die NSV-Winterhilfe mit einer Sammelbüchse von Haus zu Haus zu ziehen. Im gleichen Jahr unternahm er mit seinem langjährigen Freund, dem Sozialdemokraten Georg Decker (1887–1964), eine Italienreise nach Venedig, Rom und Neapel. Nach seiner Rückkehr wurde ihm vom Bad Pyrmonter NS-Bürgermeister Hans Zuchhold und dem Kurdirektor Georg Gallion (1869–1974) untersagt, sein Sanatorium auszubauen und mehr als 170 Kurpatienten jährlich aufzunehmen. 1941 erfolgte eine Hausdurchsuchung, sein Mitarbeiter und Assistent Dr. Herbert Fritsche (1911–1960), der vielfältige Verbindungen zu esoterischen Kreisen pflegte, wurde verhaftet und nach Berlin gebracht. Ein Jahr darauf wurden drei der fünf Häuser Buchingers beschlagnahmt. Da ihm 1944 auch das „Wiesenhaus“ weggenommen wurde, verblieb Buchinger bis Kriegsende allein das alte Haupthaus seines ehemals großzügigen Sanatoriums.
Nach 1945 konnte Buchinger schon bald den Sanatoriumsbetrieb wieder in vollem Umfang aufnehmen. An seinem 75. Geburtstag 1953 wurde er, der ehemals Abgelehnte, zum Ehrenbürger der Stadt Bad Pyrmont, in der die damalige Buchinger-Klinik von der Familie des Sohnes Otto bis heute fortgeführt wird – während die jüngste Tochter Maria Buchinger-Wihelmi zwei weitere „Buchinger-Kliniken“ in Überlingen/Bodensee und in Marbella/Spanien gründete.
Der Wanderer und Suchende
Auf seinen Reisen zur See besuchte Buchinger hin und wieder, wohl auch aus Konvention, die christliche Messe. Zwischen 1913 und 1916 betrieb er aus eigenem Interesse ein intensives Bibelstudium und las sowohl das Alte wie auch das Neue Testament vollständig. Anfang der 1920er-Jahre gelangte er, neben Berührungen mit dem russischen Anarchismus, über die Theosophie und die Esoterik schließlich durch Literaturstudium zum Quäkertum.
In Frankfurt suchte Buchinger 1924 aus eigenem Antrieb die Quäker auf und wurde von dort an John Stephens (1891–1954) vom Berliner Quäkerbüro verwiesen. Am 4. April 1926 wurde er von der „Religiösen Gesellschaft der Freunde (Quäker)“ aufgenommen. Buchinger besuchte 1927 für einen Monat und erneut Anfang 1928 für fünf Wochen das Quäker-College Woodbrooke in England. Für das Quäkertum war Buchinger vor allem als Multiplikator von Bedeutung. Im Haupthaus seiner Klinik und später auch in der Dependance „Glückauf“ hielt er häufig Vorträge über das Quäkertum. Viele Zuhörern erfuhren über Buchinger erstmals von dieser Religionsgemeinschaft.
Am 15. Dezember 1957 trat Buchinger dann jedoch zur katholischen Kirche über und anschließend 1959 aus der Religiösen Gesellschaft der Freunde (Quäker) aus. Ärger verursachten vor allem die Postkarten, mit der Buchinger in einem lapidaren Satz alle seine engeren Quäkerfreunde von seinem Schritt nachträglich in Kenntnis setzte.
Was bleibt?
Buchinger war einer der wenigen „Lebensreformer“, der vor allem in bürgerlichen Schichten anerkannt war und Einfluss hatte. Er erhielt 1912 den Roten Adlerorden, den Kronenorden I. Klasse. Schon während des Militärdienstes bei der Marine führte er einen missionarischen Kreuzzug gegen den Alkohol und hatte unter den Soldaten ein unerschöpfliches Betätigungsfeld. In der Abstinenz sah er die Möglichkeit zur Hebung der Volksgesundheit und ein volkswirtschaftliches Heilmittel. Derartige Ansichten fanden nicht bei allen Kolleginnen und Kollegen ungeteilte Zustimmung.
Durchschnittlich hielt Buchinger pro Jahr 150 Vorträge, die meisten davon vor den Kurgästen in seinem Sanatorium, vor kleinen Gruppen bis zu einer Menge von etwa 300 Zuhörer. In seinen zahlreichen Schriften hat sich Buchinger immer wieder grundsätzlichen Fragen zugewandt. Bekanntheit erlangte er durch das sogenannte Paasche-Buch (Hamburg 1921), das dem Leben von Hans Paasche (1881–1920), einem weltreisenden Lebensreformer und später ermordeten Revolutionär, gewidmet war. Mit Paasche war Buchinger seit seiner Zeit als Marinearzt befreundet. Das Buch wurde 1933 von den Nationalsozialisten öffentlich verbrannt. Andere seiner Bücher, etwa die 2. Auflage von „Unterwegs“, wurden auf Weisung der örtlichen NSDAP-Leitung eingestampft, als man den Verkaufsbestand der Quäkerbücher in Bad Pyrmont vernichtete. Als Marinearzt veröffentlichte Buchinger seine ersten Aufsätze unter dem Pseudonym Otto Wanderer. Seine bekanntesten Bücher sind „Das Heilfasten und seine Hilfsmethoden“ (1935) sowie „Ums Ganze“ (Bad Pyrmont 1947) und seine Autobiographie „Vom Marinearzt zum Fastenarzt“ (Überlingen 1974).
Initiator des Heilfastens
Angesichts des „schillernden“ Lebenswegs des ewig suchenden und zwischen den Welten und Kulturen des vergangenen Jahrhunderts in der damaligen Zeitenwende ständig hin und her wandernden Otto Buchinger ist retrospektiv eine gewisse Parallele zur heutigen Zeit mit den noch nicht absehbaren Auswirkungen der Covid-Pandemie nicht zu übersehen.
So erlebte Buchinger in der damaligen Zeitenwende des Untergangs des zweiten deutschen Kaiserreichs nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, den politischen Wirren der Weimarer Republik und des nachfolgenden Aufstieges des nationalsozialistischen sogenannten Dritten Reiches ab 1933 eine lang andauernde Krisensituation – begleitet von der damaligen globalen Pandemie in Form der „Spanischen Grippe“ mit Millionen Toten sowie dem anhaltenden wirtschaftlichen und sozialem Elend durch die nachfolgende Weltwirtschaftskrise von 1929 mit ihren politischen Nachwirkungen.
Hinzu kam für Buchinger eine schwere persönliche und zugleich gesundheitliche Existenzkrise (Früh-Invalidität nach Sepsis und nachfolgend Frühpensionierung aus der Kriegsmarine 1918) mit einem für ihn letztlich unerwartet glücklichen Ausgang.
Inmitten eines anhaltenden, allgemeinen Krisenszenarios erlebte Buchinger seine eigene persönliche Fastenheilung als neuartige Quelle einer für ihn heilbringenden Existenzrettung. Sein persönliches Heilungserlebnis durch das „Heil-Fasten“ in einer katastrophalen Lebenskrise bewog Otto Buchinger für sein weiteres Leben zu einem ruhelosen Initiator und Propagator dieser von der Schulmedizin in der damaligen Zeit überaus kritisch bewerteten Heilmethode zu werden.
Der seit nunmehr 100 Jahren anhaltende empirische Erfolg und die Popularität der Heilfastenmethode nach Buchinger haben mittlerweile vermehrt zur wissenschaftlichen Erforschung dieser Form des Heilfastens mit Studien und Publikationen geführt. In der postmodernen Gesellschaft wurde die integrative Medizin und gesundheitliche Inspiration im Sinne Otto Buchingers zu einer Erfolgsstory.
Die innerärztliche Diskussion um Sinn und Unsinn des Heilfastens bleibt dabei wie die Methode selbst seit Anbeginn kontrovers und spaltet weiterhin deren Anhänger und Befürworter von den beharrlichen Kritikern vor allem in den Reihen der Schulmediziner. Otto Buchinger selbst hielt es in seinen Aphorismen gerne mit dem altbekannten Paradigma des Hippokrates (ca. 500 v. Chr.) „Wer heilt, hat Recht“!
Prof. Dr. med. Hans-Jürgen Kock, Darmstadt, E-Mail: kock.da@t-online.de
Literatur beim Verfasser
Heilfasten nach Buchinger
Die Methode Heilfasten nach Buchinger unterstützt Menschen bei der Prävention und Heilung körperlicher und seelischer Erkrankungen. Ziel ist es, Lebensqualität, Leistungsfähigkeit und inneren Einklang zurückzugewinnen oder ganz bewusst für sich zu bewahren. Dies umfasst insbesondere die Sensibilisierung für einen gesunden Lebensstil im Alltag. Der Ansatz Otto Buchingers umfasst den ganzen Menschen in seinen physischen, geistigen und seelischen Bezügen. Hier folgt die Methode kurz skizziert:
Das ganzheitliche Fasten sollte fern vom Alltag geschehen. Ein oder zwei Entlastungstage bereiten den Organismus auf das Fasten vor. Dabei gibt es ca. 600 Kalorien (Vorbereitungstag), überwiegend Kohlenhydrate, kein Fett, ganz wenig Eiweiß. Es soll kein Kaffee oder Alkohol getrunken, keine Süßigkeiten gegessen und nicht geraucht werden. Es sollte reichlich (mindestens zwei Liter) kalorienfreie Flüssigkeit (Wasser oder Tees) getrunken werden. Am nächsten Tag beginnt das Fasten mit einer gründlichen Darmentleerung (Glaubersalz).
Im Fasten (etwa 15 Tage) sollten alle Ausscheidungsvorgänge gefördert werden. Dies geschieht u. a. durch körperliche Bewegung, aktives (Bewegung) und passives (Sauna) Schwitzen, eine tägliche Gesamttrinkmenge von ca. drei Liter kalorienfreier Flüssigkeit. Wichtig ist eine regelmäßige Darmentleerung, die durch verschiedene Methoden angeregt wird.
Das Fastenbrechen ist das Ende des Fastens. Am letzten Fastentag gibt es mittags zuerst ein Kompott und vier Mandeln. Dann wird traditionell ein Apfel langsam und bewusst gegessen. Am besten jeden Bissen 25–30 mal kauen. Schrittweise wird der Stoffwechsel wieder angehoben. Der erste Aufbautag sollte ca. 800, der zweite ca. 1.200, der dritte ca. 1.500 Kalorien haben, dann 1.800 Kalorien. Tierisches Fett und Alkohol sollen in den ersten zwei Wochen nach dem Fasten gemieden werden.