Seit 2015 ermöglicht das Marburger Universitätsklinikum Studierenden der Medizin bereits im Praktischen Jahr (PJ) eine intensive Auseinandersetzung mit den wichtigsten Aspekten der Patientensicherheit. Das zugrunde liegende Curriculum mit Pflicht- und Wahlkursen wird durch Dr. med. Egbert Opitz vom Studiendekanat des Fachbereichs Medizin der Philipps-Universität Marburg betreut. 2019 wurde ein großes Team um Prof. Dr. med. Stefan Bösner und Opitz für die drei Wahlkurse des PJ-Curriculums mit dem Hessischen Hochschulpreis für Exzellenz in der Lehre ausgezeichnet.

Was ist das Marburger PJ-Curriculum Patientensicherheit?

Dr. med. Egbert Opitz: Das Programm besteht zum einen aus einer PJ-Einführungswoche mit fünf Pflichtkursen zu den Themen Krankenhausinformationssystem, Management chronischer Wunden, strukturierte Übergaben, Übungen zur Krankenhaushygiene und Medizingeräteeinweisungen. Zum anderen können die Wahlkurse Clinical Reasoning und individualisierte Arzneimitteltherapie – die jeweils sektorübergreifend angelegt sind – sowie ein 80-Stunden-Kurs zur Patientensicherheit besucht werden. Darüber hinaus werden seit Mitte Januar 2022 Einsätze auf drei interprofessionellen Ausbildungsstationen (IPSTA) im Klinikum Fulda angeboten. (Übersicht: Online-Ausgabe). Insgesamt decken wir damit sämtliche der in den klinikbezogenen internationalen Studien als besonders häufig genannten Fehlerarten ab, die vor allem die Medikation, nosokomiale Infektionen, Kommunikation, Diagnostik und Übergaben betreffen.

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Warum wurde das Angebot entwickelt?

Opitz: Aufgrund des bekannten Ausmaßes an vermeidbaren Patientenschäden bei ca. 5 % aller Krankenhausaufenthalte in den westlichen Gesundheitssystemen [1, 2] haben 2015 der damalige Ärztliche Direktor des Marburger Universitätsklinikums und der damalige Studiendekan (Prof. Jochen Werner und Prof. Klaus Jochen Klose) meinen Vorschlag, ein Angebot zur Patientensicherheit für PJ-Studierende zu entwickeln, aufgegriffen. Durch Gespräche mit den Teilnehmenden der ersten Kurse sowie durch Hospitationen bei interessanten Lehrangeboten anderer Universitäten sind die Ideen für die weiteren Kurse entstanden, die wir ab 2016/17 mit einem Team sehr engagierter Lehrkräfte umgesetzt haben.

Wie laufen die Wahlkurse ab?

Opitz: Im Kurs Clinical Reasoning werden – angelehnt an ein Kurskonzept aus Hamburg [3] – in Tandem-Lehre mit einem Hochschullehrer der Allgemeinmedizin, einem Internisten oder einem Chirurgen Fälle aus der Hausarztpraxis und aus Notaufnahmen besprochen. Dabei wird die „Think aloud-Technik“ eingesetzt. Die Studierenden können so die differentialdiagnostischen Gedankengänge erfahrener Ärztinnen und Ärzte sowie Unterschiede für den ambulanten und den stationären Sektor nachvollziehen. Im Arzneimitteltherapiekurs werden in Tandem-Lehre mit Hochschullehrern der Allgemeinmedizin, der Psychiatrie und klinischen Pharmakologen in der Hausarztpraxis häufig vorkommende Krankheitsbilder und die Medikamentenpläne davon betroffener Patienten behandelt. Die Studierenden bereiten sich anhand der FORTA (Fit fOR The Aged)-Liste [4] sowie von Fallvignetten, Medikamentenplänen und relevanten Leitlinien auf die Kursstunden vor. Sie sollen lernen, Medikamentenpläne umzustellen, Leitlinien-gestützte Therapieempfehlungen individualisiert zu betrachten und abwendbar gefährliche Verläufe zu erkennen.

Der Wahlkurs Patientensicherheit wird im zweiten PJ-Tertial angeboten, kann daher auf den schon vorhandenen Berufserfahrungen der Studierenden aufbauen und arbeitet wo immer möglich mit den realen, pseudonymisierten Daten der aktuell von den Kursteilnehmenden betreuten Patienten. Ein Teil der Kursstunden findet interprofessionell mit Pflegeschülerinnen und Pflegeschülern statt. Zum Kursabschluss analysieren die Studierenden in einer Projektaufgabe mit Hilfe des Global Trigger Tools (GTT) [5], ob bei der Behandlung Schäden – im Sinne der Definition des GTT, die sich von juristischen Bewertungen klar unterscheidet – aufgetreten sind. Werden vermeidbare, i. d. R. leichte oder vorübergehende Patientenschäden identifiziert, wird im Zweierteam analysiert, wie der Vorfall entstanden ist, welche Sicherheitsmaßnahmen bereits zum Einsatz kamen und welche Verbesserungsvorschläge gemacht werden können. Die Ergebnisse ihrer Analyse erläutern die Studierenden in der Kurs-Abschlussveranstaltung gegenüber erfahrenen Ärztinnen und Ärzten und einem Mitarbeitenden der Geschäftsleitung des Universitätsklinikums. Darüber hinaus können sowohl die Studierenden als auch die Pflegeschülerinnen und Pflegeschüler einen möglichst einfach zu realisierenden Verbesserungsvorschlag unterbreiten. Nach ca. drei Monaten erhalten sie eine Rückmeldung, welcher Vorschlag bereits umgesetzt wurde oder welche Umsetzung konkret geplant ist – so sollen sich die Studierenden beruflich schon früh als selbstwirksam erleben können.

Gibt es ähnliche Initiativen an anderen deutschsprachigen Universitäten?

Opitz: Beim Aufbau und der Weiterentwicklung des Marburger PJ-Curriculums haben wir sehr von den Erfahrungen anderer Lehrveranstaltungen (u. a. aus Aachen, Freiburg, Hamburg und Zürich) profitiert [3, 6, 7]. Wir sind überzeugt, dass für den Aufbau eines in das gesamte klinische Studium integrierten Kursangebots eine Kooperation möglichst vieler medizinischer Fakultäten sinnvoll ist. Als Ziel sollte dabei ein Kerncurriculum mit einer von train the trainer-Kursen flankierten Sammlung evidenzbasierter Lehrmodule wie z. B. beim kanadischen Patient Safety Education Program [8] angestrebt werden.

Beim Aufbau der IPSTA im Klinikum Fulda haben uns u. a. die Vorarbeiten der Robert Bosch Stiftung und der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland (bvmd) [9, 10] sowie die Besuche von Referenzprojekten in Heidelberg, Freiburg und Nürnberg sehr geholfen.

Ist Patientensicherheit bereits im Studium relevant?

Opitz: Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die PJ-Studierenden aufgrund ihrer täglichen Arbeit einen natürlichen Zugang zum Thema Patientensicherheit haben. Idealerweise sollte es aber Eingang in alle Phasen des Medizinstudiums finden – möglichst von Anfang an [11]. Nicht trivial ist allerdings die Frage, an welcher Stelle des Curriculums die Studierenden mit welcher Art von Lehrangebot gut erreicht werden können [12, 13].

Warum gibt es einen interprofessionellen Ansatz?

Opitz: Es ist allgemeiner Konsens, dass eine hohe Patientensicherheit am besten in einem gut funktionierenden Team erreicht werden kann, worauf u. a. auch die Ergebnisse eines systematischen Reviews über die IPSTA und weitere Publikationen über Ausbildungsstationen hindeuten [14, 15].

Auf den IPSTA werden die Patienten primär von PJ-Studierenden, Pflegeschülerinnen und Pflegeschülern sowie von Auszubildenden anderer Gesundheitsberufe – in Fulda Pharmazeutinnen und Pharmazeuten im Praktikum – versorgt, denen zur Absicherung der Behandlungsqualität natürlich immer pflegerische und ärztliche Lernbegleitende bzw. eine Apothekerin zur Seite stehen. Im Klinikum Fulda wollen wir im Rahmen von zwei Begleitstudien noch etwas näher untersuchen, welche Auswirkungen sich dabei auf die Patientensicherheit ergeben.

Gibt es Kooperationspartner für das PJ-Curriculum Patientensicherheit?

Opitz: Die meisten Kurse des PJ-Curriculums wurden in enger Kooperation mit dem Marburger Universitätsklinikum aufgebaut, das uns weiterhin stark unterstützt. Der Fachbereich Medizin hat das IPSTA-Projekt mit einer Anschubfinanzierung gefördert. Die darüber hinaus für den Betrieb der IPSTA erforderlichen räumlichen und personellen Ressourcen sind vom Vorstand des Klinikums Fulda in vorbildlicher Weise bereitgestellt worden. Wichtig finde ich auch, dass die dortige Pflegedirektion und Krankenpflegeschule allen Pflegeschülerinnen und Pflegeschülern ermöglichen wollen, während ihrer Ausbildung mindestens einmal auf einer IPSTA gearbeitet zu haben. Dies kann meines Erachtens als ein klares Signal zur Attraktivitätssteigerung der Ausbildung für einen so wichtigen und von Nachwuchsmangel bedrohten Beruf angesehen werden.

Wie sind Sie persönlich zum Thema Patientensicherheit gekommen?

Opitz: Darauf aufmerksam wurde ich während meiner Zeit im Marburger Institut für Medizinische Informatik durch meinen damaligen Chef, Prof. Klaus Kuhn. Er hatte aufgrund der Lektüre der Harvard Medical Practice Study Patientensicherheit schon 1996 zum Bestandteil der curricularen Lehre der Medizinischen Informatik in Marburg gemacht, die dann ab 2007 ganz von mir übernommen wurde.

Wie soll es zukünftig mit dem Projekt weitergehen?

Opitz: Da ich schon recht bald in Rente gehen werde, wünsche ich mir natürlich, rechtzeitig meine Nachfolgerin oder meinen Nachfolger in das gesamte Kursprogramm einarbeiten zu können. In Bezug auf die IPSTA hoffe ich zum einen auf lokaler Ebene, dass im Laufe dieses Jahres auch die von unserer Fachschaft Medizin beantragte psychiatrische IPSTA in Betrieb gehen kann. Auf nationaler Ebene wünsche ich mir, dass mittelfristig für alle Medizinstudierenden und Pflegeschülerinnen wie Pflegeschüler ein mehrwöchiger IPSTA-Aufenthalt ganz selbstverständlich zu ihrer Ausbildung gehören wird.

Interview: Silke Nahlinger, Katrin Israel-Laubinger, Nina Walter

Eine Übersicht des Curriculums und die Literaturhinweise finden finden Sie am Ende dieser Seite unter „Artikel herunterladen“ in der PDF-Version dieses Artikels.

Dr. med. Egbert Opitz ist im Studiendekanat des Fachbereichs Medizin der Philipps-Universität Marburg zuständig für die Organisation von Kursen für PJ-Studierende sowie für die Projektierung interprofessioneller Ausbildungsstationen.

Nach dem Medizinstudium war er ab 1987 zunächst im Institut für Medizinische Informatik in Marburg tätig und nach einer Umstrukturierung ab 1997 als Leiter des Bereichs Projekte und Organisation in der Abteilung Zentrale Informationsverarbeitung des Klinikum der Philipps-Universität Marburg. Nach dessen Privatisierung wechselte er ins Dekanat des Fachbereichs Medizin, wo er bis 2020 parallel als Lehrkraft und als IT-Referent tätig war. Opitz besitzt das Zertifikat Medizinische Informatik und ist seit langem Mitglied im Aktionsbündnis Patientensicherheit.

Viktoria Radounikli hat den Wahlkurs Patientensicherheit 2020 absolviert. Sie arbeitet seit einem Jahr als Ärztin in Weiterbildung in der Kinderchirurgie am Evangelischen Krankenhaus Hamm. Hier schildert sie ihre Erfahrungen:

„Da mir das Thema ,Patientensicherheit’ sehr am Herzen liegt, fällt es mir schwer, meine Erfahrungen mit dem Curriculum kurz zusammenzufassen, da dies bei weitem nicht ausreicht, um die ganze Tragweite dieses Projektes zu beschreiben. Ich habe mich für die Teilnahme am Wahlkurs Patientensicherheit entschieden, weil die Vorstellung des Curriculums durch Herrn Dr. Opitz und ehemalige Teilnehmende mein Interesse geweckt hat. Uns wurde damals die Aufgabe gestellt, darüber nachzudenken, in welchem Umfeld und mit welchem Ziel wir Medizin praktizieren wollen. Der Kurs hat zunächst mein Bewusstsein für die Patientensicherheit geweckt und mit fortschreitender Dauer meinen Blick auf die klinische Tätigkeit verändert. Als angehende Ärztin/angehender Arzt steht man, kurz bevor man wirklich die Verantwortung für die Behandlung eines Patienten übernimmt, vor der Frage, wie Behandlungsfehler und Gefährdungen von Patienten vermieden werden können. Durch den Kurs kann man erleben, dass man dieses reale Problem nicht alleine lösen muss, sondern dass Patientensicherheit Teamarbeit ist. 

Meine wichtigste Erkenntnis ist, dass die beste Patientensicherheit erreicht werden kann, wenn die Fehlerkultur und die Zielsetzung einer medizinischen Institution das ,gemeinsame Arbeiten’ fördern. Dabei sollten alle Beteiligten vom Pfleger bis zum Arzt integriert werden. Vor allem habe ich gelernt, dass das gemeinsame Arbeiten bei einem selbst anfängt. So gehe ich heute noch gerne mit den Pflegekräften zusammen – wie im Kurs beigebracht – die Patientenakten durch. Junge Studierende sollten sich früh die Frage stellen, wie sie mit möglichen Fehlern im Arbeitsalltag umgehen wollen und wie sie zur Teamarbeit stehen. Die Sicherheit der Patienten steht und fällt mit unserem Selbstbild und mit der Verantwortung, die wir gegenüber anderen entwickeln können. Dafür bietet das Curriculum Patientensicherheit den richtigen Rahmen.“ 

Georg Brand hat den Wahlkurs Patientensicherheit 2018 absolviert. Er arbeitet seit 2019 als Arzt in der Klinik für Nephrologie am Universitätsklinikum Marburg. Hier schildert er seine Erfahrungen:

„Ich habe den Wahlkurs Patientensicherheit als Teil eines Kanons an Seminaren gesehen, die im ersten und zweiten Tertial des Praktischen Jahrs (PJ) vom Fachbereich in Marburg angeboten werden. Mich hat das umfangreiche Angebot bereits zu Beginn des Tertials begeistert – so habe ich mich zu einer Teilnahme entschlossen. Neben einem eigenständig aufzuarbeitenden theoretischen Teil wurde es in der eigentlichen Veranstaltung stets praktisch, immer mit der Möglichkeit, aktuelle Erfahrungen aus zwei PJ-Tertialen einfließen zu lassen – praktisch das erste Mal im Studium, dass das Konzept eines inverted classrooms erfolgreich angewandt wurde.

Der Kurs hat mein Bewusstsein für das Thema verändert. Patientensicherheit ist nicht nur abhängig von Strukturen, sondern von jedem Einzelnen. Schon Studierende im PJ können zur Verbesserung beitragen – zum Beispiel, wenn wir in der Medizin Aspekte aus der Flugsicherheit übernehmen und Hierarchien soweit abbauen, dass auch die ,Co-Piloten’ sich trauen, ihre Bedenken zu äußern. Auf jeden Fall beeinflussen die Erkenntnisse aus dem Kurs meinen Arbeitsalltag. Leicht umzusetzende Veränderungen des eigenen Verhaltens, wie die Nutzung von Closed-loop communication (1. Sender gibt Anweisung, 2. Empfänger gibt Gehörtes wieder, 3. Sender kann Missverständnis so rasch aufklären) [16], Suchmaschinen für seltene Erkrankungen bei kniffeligen Fällen oder die UpToDate-Datenbank [17] zu Wechselwirkungen von Arzneimitteln würde ich ohne den Kurs nicht kennen. Diese Unterstützungsmöglichkeiten sind auch für meine erfahreneren Kollegen oft unbekannt.

Jungen Studierenden kann ich nur raten: Nehmt am Patientensicherheitsseminar in Marburg teil! Patientensicherheit ist zwar kein Prüfungsfach, aber Kompetenz in diesem Bereich gibt Sicherheit im Arbeitsalltag.“