Auch wenn die neue Ampelkoalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP in ihrem 178-seitigen Koalitionsvertrag dem Thema Notfallversorgung lediglich acht Zeilen gewidmet hat, aus denen die konkreten Pläne nicht sicher zu entnehmen sind, so wird die Reform dieses Bereichs sicherlich ein wichtiges Gesundheitsprojekt hoffentlich im ersten Jahr der Legislatur werden. Leider hat der Gesetzgeber entgegen vielfachen Ankündigungen und mehreren Referentenentwürfen in der vergangenen Wahlperiode die dringend notwendige sektorenverbindende grundlegende Reform der Notfallversorgung nicht umgesetzt. Eine verbindliche Kooperation aller handelnden Akteure: des Rettungsdienstes, der Kassenärztlichen Vereinigungen und der Krankenhäuser muss jetzt zügig erreicht werden.
Grundlage eines Konzeptes muss es sein, die knappen Ressourcen gerade im personellen Bereich im Sinne einer guten Patientenversorgung einzusetzen. Zentrale Anlaufstellen und ein koordiniertes Vorgehen der Beteiligten können die Notaufnahmen der Krankenhäuser entlasten und eine medizinisch sinnvolle Inanspruchnahme der Notfallversorgung fördern. Deswegen ist es wichtig, die Patientinnen und Patienten mit akuten Beschwerden möglichst früh und sicher der richtigen Versorgungsebene zuzuleiten. Die Akzeptanz der Patienten für eine algorithmenbasierte telefonische Ersteinschätzung, die diesen Prozess unterstützt, wird umso größer sein, je besser der Zugang zu dieser telefonischen Ersteinschätzung unter der Nummer 116 117 rund um die Uhr sichergestellt wird und je kürzer die Wartezeiten in der Telefonschleife sind.
Der Gemeinsame Bundesausschuss wird bis zum Juli 2022 Kriterien für den Einsatz eines solchen Ersteinschätzungssystems vorlegen. Wichtig ist, dass die Algorithmen offengelegt und anhand von Outcomedaten validiert werden, damit die Qualität der Versorgung nicht der Effizienzsteigerung geopfert wird. Eine wissenschaftliche Begleitung ist hier zwingend erforderlich. Dieses Ersteinschätzungssystem kann auch in den jeweiligen Notaufnahmen angewandt werden, jedoch darf niemand ohne ärztliche Konsultation nach Hause geschickt werden. Patienten kommen mit der Erwartung in die Notaufnahme eines Krankenhauses, dass sie dort ärztliche Hilfe erhalten. Dieses Vertrauen würde massiv erschüttert, wenn Patienten zukünftig ohne ärztliche Abklärung ihrer Beschwerden allein aufgrund eines Software-Algorithmus abgewiesen werden können. Die Patientensicherheit muss die oberste Prämisse in der Notfallversorgung bleiben und die Ersteinschätzung kann nur ein Teil eines zeitnah benötigten schlüssigen Gesamtkonzeptes sein.
Dringend vermieden werden muss die Schaffung eines „dritten Sektors“. Bürokratie und administrative Komplexität würden so sicherlich eher gesteigert als vermindert. Stattdessen bietet die Notfallversorgung eine exzellente Gelegenheit für gelebte sektorverbindende Versorgung. Beispiele für diese gute und reibungslose Zusammenarbeit gibt es bereits in vielen Regionen. Leider hapert es noch an einem unkomplizierten Datenaustausch zwischen den verschiedenen Systemen. Hier sind innovative digitale Lösungen gefragt. Die Ergebnisse der telefonischen Ersteinschätzung sollten beim Eintreffen in der Notaufnahme oder beim ÄBD bereits vorliegen; erhobene Befunde sollten durch elektronischen Datenaustausch sofort verfügbar sein. Sowohl durch die räumliche Nähe als auch durch eine gute Dateninteroperabilität ist dann ein ggf. notwendiger Wechsel der Versorgungsebene ohne zusätzlichen Personalaufwand leicht möglich. Erforderlich sind auch gesetzliche Leitplanken, um eine für die Notfallversorgung ausreichende Zahl von Standorten zu gewährleisten. Krankenhäuser, die an der stationären Notfallversorgung nach den G-BA-Vorgaben teilnehmen, müssen auch weiterhin ambulante Notfallpatienten ohne Vergütungsabschläge behandeln können.
Ich wünsche mir, dass die Politik bei der Neuordnung dieses wichtigen Bereichs der Gesundheitsversorgung die Expertise der Ärztinnen und Ärzte in Krankenhaus und niedergelassener Praxis einbindet.
„Notaufnahme: Algorithmen bei der Ersteinschätzung können die ärztliche Konsultation nicht ersetzen“
Dr. med. Susanne Johna, Präsidiumsmitglied der Landesärztekammer Hessen