In 2020 stieg die Zahl der sexuellen Missbrauchsfälle von Kindern in Deutschland im Vergleich zum Vorjahr um 6,8 Prozent auf eine Gesamtzahl von 14.600 Fällen. Hinzu kommt eine um ein Vielfaches höher geschätzte Dunkelziffer [1]. Noch höher sind die Fallzahlen, wenn es um den Konsum von Missbrauchsabbildungen geht, die häufig verharmlosend als „Kinderpornographie“ bezeichnet werden. Die Zahlen verweisen auf die Dringlichkeit von Prävention.

Sexueller Missbrauch von Kindern wird oft mit Pädophilie gleichgesetzt, doch handelt es sich in den meisten Fällen um Ersatzhandlungen, hinter denen andere Probleme stehen [2]. Es muss also – ungeachtet der Schnittmenge – klar differenziert werden zwischen sexuellem Missbrauch (strafbare sexuelle Verhaltensstörung) und Pädophilie (sexuelle Präferenzstörung). Eine tatsächliche pädophile Neigung liegt epidemiologischen Daten zufolge bei etwa 1 % der männlichen Bevölkerung vor [3]. Längst nicht alle Betroffenen begehen Übergriffe, doch unter denen, die straffällig geworden sind, liegt die Rückfallquote bei 50–80 % [4].

Aus der klinischen Praxis ist bekannt, dass es Menschen mit (teilweiser oder ausschließlicher) pädophiler Präferenzstörung gibt, die therapeutische Unterstützung suchen. Hier geht es zum einen um die Verringerung des mit der Neigung einhergehenden Leidensdrucks, zum anderen um den Wunsch, keine sexuellen Übergriffe (mehr) zu begehen. Ein ebenfalls sehr häufig geäußerter Wunsch ist der, Unterstützung bei der Einstellung des Konsums von Missbrauchsabbildungen zu bekommen. Allerdings besteht hier ein gravierender Versorgungsmangel.

Um diese Lücke zu schließen, wurde 2005 das Projekt „Kein Täter werden“ vom Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin an der Charité in Berlin ins Leben gerufen. Seither ist ein bundesweites Netzwerk von insgesamt 13 Standorten entstanden. In Hessen wurde im November 2013 an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie eine „Kein Täter werden“-Ambulanz eröffnet. Hier finden all jene eine Anlaufstelle für Diagnostik, Beratung und Therapie, die

a) sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen,

b) einen entsprechenden Leidensdruck verspüren,

c) sich hinsichtlich möglicher Übergriffe und/oder des Konsums illegalen Bild-/Filmmaterials für gefährdet halten,

d) sich im juristischen Dunkelfeld befinden (d. h. keine aktuelle Anzeige, kein laufendes Verfahren, keine Bewährungsstrafe usw. vorliegt) und

e) therapiewillig und therapiefähig sind.

Die therapeutische Erfahrung zeigt, dass es vielen Betroffenen – in der Regel sind es Männer – schwerfällt, mit der Neigung und den damit verbundenen sexuellen Fantasien umzugehen. Im Rahmen der Therapie lernen die Patienten, ihre Neigung als Teil ihrer Persönlichkeit zu akzeptieren, der nicht „wegtherapiert“ werden kann. Den Betroffenen wird einerseits vermittelt, dass sie sich ihre sexuelle Neigung nicht ausgesucht haben, aber andererseits durch therapeutische Unterstützung lernen können und sollen, sich bezüglich ihrer sexuellen Wünsche verantwortungsbewusst zu verhalten. Verantwortungsbewusst heißt, dass es nicht zu sexuellen Übergriffen auf Kinder kommt und keine Missbrauchsabbildungen konsumiert werden. Ein besonderer Schwerpunkt in der Therapie liegt auf der Entwicklung einer angemessenen Wahrnehmung und Bewertung sexueller Bedürfnisse sowie der Identifizierung und Bewältigung von Risikosituationen. Bei Bedarf ist auch eine medikamentöse Unterstützung zur Triebdämpfung möglich.

Die Patienten können sich nicht nur in besonderem Maße auf die Einhaltung der Schweigepflicht verlassen, sondern auch auf die Wahrung der Anonymität. Dass Diagnostik und Therapie anonym möglich sind, ist auch durch die Art der Finanzierung sichergestellt. Seit Anfang 2018 wird „Kein Täter werden“ durch den Spitzenverband der GKV für einen Zeitraum von zehn Jahren als Modellvorhaben finanziert. Ärztinnen und Ärzte können betroffene Patienten an diese Anlaufstelle verweisen. Eine Überweisung ist nicht nötig. Interessierte Patienten, aber auch ärzt­liche Kolleginnen und Kollegen können sich hier über das Projekt informieren:

Die Hotline des Gießener Standorts ist unter Fon 0641 985-45111 zu erreichen.

Prof. Dr. med. Johannes Kruse, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie des Uniklinikums Gießen und Marburg, Standort Gießen, E-Mail: Johannes.Kruse@psycho.med.uni-giessen.de

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