Im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung können Versicherte seit 1967 nach den Psychotherapierichtlinien von entsprechend qualifizierten Ärzten behandelt werden. Die Durchführung der Therapie konnte an psychotherapeutisch ausgebildete Diplom-Psychologen delegiert werden. 1999 trat das Psychotherapeutengesetz in Kraft, mit dem Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten einen selbstständigen Heilberuf ausüben, der von der Delegationspflicht durch Ärzte entbunden wurde.

Bei der Bundespsychotherapeutenkammer sind 52.000 Psychologische Psychotherapeuten, inklusive der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, registriert [1]. Ihre Anzahl übersteigt mittlerweile die der psychotherapeutisch weitergebildeten Ärzte. Bei den Ärztekammern waren 2020 43.365 psychotherapeutisch qualifizierte Ärzte registriert (siehe Kasten).

Verlust spezifisch medizinischer Kenntnisse

Mit der weiter zunehmenden „Psychologisierung“ der Psychotherapie geht der Verlust spezifisch medizinischer Kenntnisse und berufsspezifischer Haltungen bei den praktisch tätigen Psychotherapeuten ebenso einher wie ein Paradigmenwechsel. Der wissenschaftliche Mainstream psychologischer Psychotherapie folgt dem nomothetischen Wissenschaftsverständnis der Verhaltenstherapie mit einem lerntheoretischen Verständnis der Psyche des Menschen. Demgegenüber steht aufgrund der historischen Entwicklung in der ärztlichen Psychotherapie ein psychodynamisches Verständnis psychischer Funktionen, das Symptome als Ausdruck innerer, oft unbewusster Konflikte oder als Folge seelischer Traumatisierungen versteht, die psychisch nicht verarbeitet werden können. Auf diesem Krankheitskonzept beruhen die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und die analytische Psychotherapie, die auch von einem immer geringer werdenden Anteil psychologischer Psychotherapeuten praktiziert wird.

Dem lerntheoretischen Verständnis psychischer Symptome als Störung entspricht, dass im ICD seit 1991 psychische Störungen und nicht mehr psychische Krankheiten klassifiziert werden. Interessanterweise wird bei fast allen Organsystemen, außer dem Immunsystem, der Krankheitsbegriff nach wie vor verwendet. Ein Ohr, ein Herz, eine Lunge und ein Bein können erkranken, eine Seele nicht mehr, sie ist „gestört“. Entstehungsursachen, die dem psychodynamischen Krankheitsmodell zugrunde liegen, werden im ICD nicht mehr berücksichtigt. Damit wurde der Versuch, sich bereits bei der Klassifikation der Erkrankungen ihnen verstehend zu nähern, aufgegeben. Im Unterschied zum Störungsbegriff verbindet sich mit dem Krankheitsbegriff das Leiden des Betroffenen und damit das Erleben des Kranken.

Was geht der Psychotherapie durch diese Entwicklung verloren?

In einer psychodynamisch orientierten Psychotherapie tritt ein Patient mit einem anderen Mensch in eine Beziehung. Wenn beim Menschen etwas nicht störungsfrei verläuft, wenn er Schmerzen, Unwohlsein oder andere ungewohnte körperliche Phänomene wahrnimmt oder wenn seine Stimmung, seine Wahrnehmung, sein Erinnerungsvermögen oder seine Denkprozesse nicht wie gewohnt ablaufen, irritiert und beunruhigt ihn das. Er sucht nach Erklärungen. Als Kleinkind hat er sich dazu an die Pflegeperson, in der Regel die Mutter, gewandt. Als Erwachsener wendet er sich an Fachkundige, in der Regel an den Arzt. Dieser teilt nach der Untersuchung seine Diagnose und Therapieempfehlung mit. Allein schon die Bezeichnung eines Symptoms, seine Benennung, beinhaltet einen Ansatz seines Verständnisses und kann es als etwas Bekanntes und damit weniger Beunruhigendes erscheinen lassen.

In ihrer erstberuflichen Sozialisation überschreiten Mediziner in der Beziehung zu ihren Patienten Grenzen. Ärzte sind es gewohnt, Menschen zu begegnen, die ihre Bekleidung abgelegt haben, sie sehen sich mit menschlicher Blöße konfrontiert. Sie sehen durch Körperöffnungen ins Körperinnere, verletzen Körpergrenzen und kommen mit allen Ausscheidungsprodukten des menschlichen Körpers „hautnah“ in Berührung. Sie dringen in den Patienten körperlich und seelisch ein und werden ihrerseits von ihm durchdrungen. Sie erleben existenzielle Vorgänge wie Gebären, das Ringen mit dem Tode und das Sterben mit allen dazugehörigen Gefühlen auf unmittelbare Weise. Sie übernehmen Verantwortung, die ihnen angetragen wird und die nicht selten in großer Not durch regressive Bedürfnisse verunsicherter Patienten verstärkt wird.

Die in solchen Situationen wach werdenden Abhängigkeitsbedürfnisse der Patienten können mit Allmachtsfantasien von Ärzten, ihrer Bestätigung und ihrer Enttäuschung korrespondieren. In der Arzt-Patient-Interaktion geht es neben der sachlichen Abklärung also stets auch um emotionale Bedürfnisse. Das Beunruhigende, das Angstauslösende, das mit den Symptomen, die zum Arzt führen, verbunden ist, soll aufgelöst werden. Der Patient sehnt sich nach einer Entlastung von der Angst, er begibt sich vertrauensvoll in die Hände des Arztes. Es werden Gefühle aus der frühen Mutter-Kind-Beziehung wach. Der Arzt selbst wirkt als „Droge Arzt“, wie der Psychoanalytiker Michael Balint (1957) schrieb.

Bedürfnis nach Anlehnung

Diese frühen Beziehungserfahrungen gehen in den Umgang mit Krankheitssymptomen, die das Bedürfnis nach Wiederherstellung der Gesundheit erzeugen, mit ein. Als „Halbgötter in Weiß“ wurden die Mediziner in den 1970er-Jahren kritisch beschrieben. Trotz einer weitgehenden Überwindung patriarchaler Abhängigkeiten, oft allerdings auch um den Preis verzweifelter Orientierungslosigkeit, ist gerade in Momenten großer Hilflosigkeit das Bedürfnis kranker Menschen nach Anlehnung besonders groß. So wird von Ärzten erwartet, dass sie unabhängig von der Tages- oder Nachtzeit für ihre Patienten in Not zur Verfügung stehen und sich ihre Patienten nicht auswählen können. Sie sollten mit noch so schwierigen Menschen unterschiedlichster Herkunft umgehen können.

Ärzte fühlen als menschliche Wesen unvermeidbar mit ihren Patienten mit und müssen sich zugleich distanzieren, um professionell handlungs- und überlebensfähig zu bleiben. Nähe und Distanz müssen ständig neu justiert werden. Diese unumgängliche Aufgabe des Mitfühlens und des sich Distanzierens wird auf sehr unterschiedliche, allzu oft leider auch auf zynisch-abwehrende Weise gelöst. Eine sich aus diesen Erfahrungen entwickelnde taktvoll-teilnehmende und zugleich reflektierende, Distanz wahrende und Abstinenz ermöglichende, für den anderen Verantwortung übernehmende Haltung ist eine wertvolle Basis und ein Modell für die Entwicklung einer psychotherapeutischen Haltung, die Psychologen in ihrer Grundausbildung in der Regel auf diese Weise nicht erlernen.

Unterschiedliche therapeutische Haltungen

Auf unterschiedlicher beruflicher Sozialisation beruhende differierende therapeutische Haltungen werden mit folgender Fallgeschichte verdeutlicht:

Eine Psychologische Psychotherapeutin betreut eine schwer kranke Patientin mit Anorexia Nervosa in einer lebensbedrohlichen Situation. Nach jahrzehntelangen erfolglosen therapeutischen Bemühungen wiegt sie heute 28 kg. Ihr ist bewusst, dass sie sterben wird. Die Therapeutin behandelt sie über viele Jahre und hat intensiv mit der Patientin über die Entscheidung zu leben oder zu sterben gesprochen. Sie sieht ihre Aufgabe jetzt darin, die Patientin bei ihrer freien Entscheidung zum Sterben zu begleiten.

Der freie Wille der Patientin wird in einer interdisziplinären Falldiskussion von Ärzten in Frage gestellt. Sie halten die Einleitung einer juristischen Betreuung für dringend geboten. Es gehöre zur ethischen Verantwortung, lebensrettend tätig zu werden. Die Ärzte sehen eine Einschränkung des freien Willens der Patientin und begründen dies sowohl mit den bei diesem Gewicht eingeschränkten Hirnfunktionen als auch mit dem für diese Erkrankung charakteristischen Autonomiewahn. Die beteiligten Psychologischen Psychotherapeuten sehen hingegen die Autonomie der Patientin als schützenswertes Gut, das aus ethischen Gründen nicht verletzt werden dürfe.

Diesen unterschiedlichen Einschätzungen liegen unterschiedliche berufliche Entwicklungen zugrunde. Dem Verständnis der Patientenautonomie, das hier die Einschätzung der Psychologin leitet, steht das Primat, das Leben der Patientin zu erhalten – eine Voraussetzung für Autonomie – auf ärztlicher Seite gegenüber.

Bei den deutschen Ärztekammern 2020 registrierte Ärztinnen und Ärzte mit Facharzttitel und Zusatzbezeichnung

Ärzte für Psychiatrie und Psychotherapie

13.711

Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie

3.197

Ärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

5.433

Ärzte mit der Zusatzbezeichnung Psychotherapie

17.915

Ärzte mit der Zusatzbezeichnung Psychoanalyse

3.109

Gesamt

43.365

Quelle: Gesundheitsberichterstattung des Bundes [2, 3]

Prof. Dr. phil. Martin Teising, Facharzt für Psychosomatische Medizin; Psychiatrie und Psychotherapie, Psychoanalyse

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