Zu dem Zeitpunkt seiner Geburt gibt es mehrere Versionen. So steht auf dem Anmeldeschein in München „1866, korrigiert zu 1864!“ Eine andere Quelle behauptet, Alexej von Jawlensky habe erst 1867 das Licht der Welt erblickt. Nach der Erzählung seiner alten Amme sei er sozusagen „auf dem Weg geboren“ worden, in Torschok oder einem benachbarten Ort in der russischen Provinz, schrieb der russische Künstler in seinen Erinnerungen. Inzwischen wird 1864 als sein Geburtsjahr angegeben. Am 15. März 1941 starb Alexej von Jawlensky in Wiesbaden.

Zwanzig Jahre zuvor, im Juni 1921, war der Maler nach Lebensstationen in Moskau, St. Petersburg, München und der Schweiz erstmals nach Wiesbaden gekommen. Bald darauf wählte er die damalige Kunstmetropole als künftigen Wohnsitz; seine bekanntesten Werke – vielfältige Variationen des menschlichen Gesichts – entstanden hier.

Von expressiven Köpfen zum seriellen Werk

Unter dem Titel „Alles! 100 Jahre Jawlensky in Wiesbaden“ widmet ihm das Museum Wiesbaden eine große Jubiläumsausstellung. Die 111 gezeigten Arbeiten aus dem Bestand des Museums, die Jawlenskys Schaffen von den expressiven Köpfen bis zum seriellen Werk umfassen, werden bis zum 27. März 2022 erstmals in der Geschichte des Museums komplett präsentiert. Alle Entwicklungsstufen des großen Expressionisten – seine frühe Münchener Phase, der Murnauer und Schwabinger Aufbruch, die Schweizer Exilzeit sowie die wichtige Wiesbadener Periode – sind mit Hauptwerken vertreten.

Was in den Jahren bis zu Jawlenskys Tod geschah und wie die Sammlung seiner Werke bis heute gewachsen ist, thematisiert die beeindruckende Schau mit einem durch 16 Räumen führenden erzählerischen Konzept: Eingerahmt werden die Werke des Künstlers von 30 Jawlensky-Geschichten. Biografische Ereignisse und Einblicke in die Freundschaften des Malers in Wiesbaden reihen sich an die Aufarbeitung museumsgeschichtlicher Erfolge und Skandale der Nachkriegszeit.

Geschichten und Anekdoten

Nicht nur um die Geburt, auch um das weitere Leben des Alexej von Jawlensky ranken sich viele Anekdoten. Mit dem Ziel, Offizier zu werden, war er als 16-Jähriger nach Moskau gekommen, wo er durch den Besuch einer Industrie- und Kunstausstellung 1882 seine Liebe zur Malerei entdeckte und an einer Akademie zu malen und zeichnen begann.

Wesentlich wurde sein neu entdecktes Talent unterstützt von Marianne von Werefkin, einer vermögenden Baronin und Malerin, die wegen ihres Erfolges „Russischer Rembrandt“ genannt wurde: „Ich (...) befreite ihn vom Dienst, gab ihm ein Atelier und die Möglichkeit, ohne Sorge zu arbeiten, pflegte seine Gesundheit, machte ihn frei von der Routine der Akademie, umgab ihn mit Glorienschein, (...) brachte ihn ins Ausland, formte seinen Geschmack, gab ihm Wissen, lehrte ihn die Kunst lieben, verschaffte ihm Gönner. (...) Ich habe ihn geschliffen“, hielt sie in ihren Lebenserinnerungen fest.

Blauer Reiter, Klassische Moderne

Von Werefkin wurde Jawlenskys Lebensgefährtin und gab zehn Jahre lang sogar ihre eigene Malerei auf, um sich der Förderung ihres Schützlings zu widmen. Sie inspirierte ihn 1894 zu dem Umzug nach München, damals Hauptstadt fortschrittlicher Malerei. Jawlensky begann mit Stillleben und Figurendarstellungen zu experimentieren, ein großes Vorbild für ihn war Vincent van Gogh. In München schloss er sich der Künstlergruppe „Der Blaue Reiter“ an und stieg zu einem der Hauptprotagonisten der Klassischen Moderne auf. Obwohl Werefkin und Jawlensky als eines der wegweisenden Künstlerpaare der Avantgarde in den Kanon der Kunstgeschichte eingegangen sind, war die Beziehung kompliziert und bekam schwere Risse, als Jawlensky ein Verhältnis mit Werefkins Dienstmädchen Helene begann.

In Wiesbaden erwartet

Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs gingen Werefkin und Jawlensky ins Schweizer Exil, wo sie in engen räumlichen Verhältnissen miteinander lebten und arbeiteten, bevor sie sich 1921 schließlich trennten. Werefkin blieb in Ascona, während Jawlensky mit seiner Familie – Helene hatte 1902 den gemeinsamen Sohn Andreas Jawlensky zur Welt gebracht – nach Wiesbaden zog. „In Wiesbaden man erwartet mich schon“; schrieb Jawlensky 1921 an den Schweizer Sammler Karl Im Obersteg. Ein Satz, in dem die Hoffnung auf einen Neuanfang mitschwingt. In dem Kurort Wiesbaden, wo gerade seine Bilder im Nassauischen Kunstverein und im Neuen Museum ausgestellt wurden, fühlte sich Jawlensky willkommen.

„Hier liebt und versteht man Ihre Kunst wirklich“, versicherte ihm seine Agentin Galka Scheyer. Jawlensky lernte den Kunstmäzen Heinrich Kirchhoff kennen und mit Unterstützung des Kunstvereins wurde 1922 für den Künstler und seine Familie eine erste gemeinsame Wohnung in der heutigen Bahnhofstraße 25 gefunden. Noch im gleichen Jahr gab der Kunstverein Jawlenskys druckgrafisches Mappenwerk Köpfe heraus, deren sechs Grafiken den Beginn der Ausstellung „Alles!“ bilden.

Künstlerisches Neuland

Auch künstlerisch beschritt Jawlensky in Wiesbaden Neuland: In der Schweiz hatte er angefangen, Köpfe in kräftigen Farben zu malen – „Variationen“ – sowie in Pastell gehaltene kleinformatige „Meditationen“, die sogenannten Heilandsgesichter. Noch bis 1920 waren Jawlenskys Porträts geprägt von den weit geöffneten Augen, die den Betrachter geradezu anstrahlten. Doch mit seinem Wunsch, in der Kunst „mehr in die Tiefe zu gehen“, schlossen sich auch die Augen seiner Gesichter bis hin zu der Werkreihe der Meditationen, denen er sich bis zu seinem Lebensende widmete. Mit winzigen Nuancen änderte er immer gleiche Motive.

Dass der Werkkomplex von Jawlensky heute einen der großen Schwerpunkte im Museum Wiesbaden bildet, ist nicht selbstverständlich. So lösten die Nationalsozialisten zwischen 1933 und 1937 die erste, noch zu Lebzeiten des Künstlers aufgebaute Sammlung auf. Seine Werke galten als „entartet“. Die heutige Wiesbadener Jawlensky-Sammlung wurde in den vergangenen 25 Jahren zur bedeutendsten Sammlung weltweit ausgebaut. Gezeigt werden die Arbeiten nach ihrem Erwerbungsdatum von 1922 bis 2021. Neueste Ergänzung der Jawlensky-Sammlung ist ein Blumenstillleben. 1937 gemalt, ist es eine der letzten künstlerischen Arbeiten des in seinen späten Lebensjahren schwer an Arthritis erkrankten Künstlers.

Jawlensky-Pfad

Jawlensky hatte es geliebt, durch Wiesbaden zu flanieren. Hier fand er Anerkennung und erfuhr später auch als politisch diskreditierter Künstler Zuspruch. Ergänzend zu dem Besuch der Ausstellung kann man sich in der Stadt auf seine Spuren begeben: Mit dem Jawlensky-Pfad (www.jawlenskypfad.de) rufen 27 Orte im Stadtgebiet – Cafés, Geschäfte, Kultureinrichtungen, Park- und Friedhofsanlagen – das Leben des Künstlers in Erinnerung.

Informationen zur Ausstellung (bis 27.03.) im Internet unter https://museum-wiesbaden.de/alles

Katja Möhrle