Reisebuchungen und Bankgeschäfte lassen sich über das Internet abwickeln, an der Supermarktkasse kann man per Handy bezahlen, die Autozulassung und die Steuererklärung sind elektronisch möglich. Die Digitalisierung erschließt viele neue Möglichkeiten. Wenn es schließlich auch die ärztlichen Berufsordnungen – so die Hessische in § 7 Abs. 4 – ihren Mitgliedern erlauben, in Einzelfällen dann über sogenannte Kommunikationsmedien zu beraten und zu behandeln, wenn es ärztlich vertretbar erscheint und die erforderliche Sorgfalt gewahrt ist: Was liegt dann näher, als dass früher oder später ein findiger und mit den neuen Medien vertrauter Jungunternehmer auch in diesem Bereich eine Regelungslücke wittert, ein Geschäftsmodell ersinnt und auf den Gedanken verfällt, Ärzte anzustelllen, die ihm dabei helfen, mittels einer Handy-App und unter Nutzung eines entsprechenden Computerprogramms Einnahmen zu generieren.
Von einem solchen Versuch erfuhr die Rechtsabteilung durch die Nachfrage eines Arbeitnehmers, der hier Rat suchte. Er wollte wissen, ob sein Arbeitgeber denn ohne weiteres eine von ihm übers Handy eingeholte ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ablehnen und ihm deshalb die Lohnfortzahlung verweigern dürfe. Diese Nachfrage leitete über zu Erkenntnissen über ein erstaunliches Unternehmen.
Einfach Antippen: Diagnose Erkältung
Kein Arzt leitete jenes Unternehmen, sondern ein Jurist, der bei Anweisung von jeweils 9 € die Übersendung einer von einem Arzt unterzeichneten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wegen Erkältung über die Internetplattform „what’s app“ und per Post versprach. Auf dem Mobiltelefon wurden vom Programm zuvor Symptome abgefragt, die sich durch Antippen bejahen oder verneinen ließen. Wie es auf der Internetseite hieß, könne eine Krankschreibung für ein bis drei Tage erfolgen – und der Arzt folge immer dem Wunsch des Patienten. Wenn die durch Antippen von einer der per Vorgaben mitgeteilten Symptome mit der Diagnose einer Erkältung übereinstimmten und der Nutzer auch noch die Hürde genommen hatte, schwere Krankheiten und Risikofaktoren zu verneinen, wurde die gewünschte, allerdings „computergestützt“ erstellte und von einem Arzt unterschriebene Bescheinigung übermittelt. Und wenn die automatisch vom Computer generierte Erklärung einmal ausblieb, so ließ sich der Vorgang noch beliebig viele Male wiederholen, so lange, bis es klappte; es musste dazu nur genügend oft das „Ja“ angeklickt werden, wenn vom Programm etwa nach verstopfter Nase und Rachenschmerzen, nach Husten, Schüttelfrost, Niesen oder Heiserkeit gefragt wurde. Auch die Bescheinigung einer Prüfungsunfähigkeit nach einem solchen Prozedere bot das Unternehmen an. Die Kommunikation erfolgte ausschließlich über „what’s app“.
Da der in diesem Fall durch das Unterzeichnen der Bescheinigung tätig gewordene Arzt – ein unbelasteter junger Mann, der noch nicht lange ärztlich tätig war und einen Nebenverdienst gefunden hatte – in Hessen wohnte, war die Landesärztekammer für die Prüfung zuständig, ob er gegen die Berufsordnung verstoßen hatte. Er erhielt Gelegenheit zur Stellungnahme, ob er für seine Tätigkeit versichert sei (§ 21 Berufsordnung, BO), ob er die Bescheinigung mit der erforderlichen Sorgfalt und nach bestem Wissen ausgestellt hatte (§ 25 BO) und ob der erforderliche persönliche Kontakt zum Patienten bestanden hatte (§ 7 Abs. 4 S. 1 BO)
Der eigentliche Verantwortliche, der Unternehmer, hatte dagegen mit Maßnahmen einer Ärztekammer nicht zu rechnen. Denn er war ja kein Arzt. Allerdings verteidigte er dann schriftlich das Verhalten seines Angestellten. Im Grunde verteidigte er natürlich sein eigenes Geschäftsmodell.
Er berief sich darauf, dass die Telemedizin inzwischen nach § 7 Abs. 4 BO grundsätzlich erlaubt sei. Das „Überprüfen“ der angetippten Symptome sei im Grunde auch nichts anderes als eine ärztliche Untersuchung. Wenn die Dauer der Krankschreibung den Angaben des Patienten folge, so korrespondiere das doch nur mit der Frage des Hausarztes an den Patienten, wann er sich denn wohl wieder fit fühlen werde. Und vortäuschen ließe sich eine Arbeitsunfähigkeit schließlich auch bei einem Hausarzt. Immerhin sei dem Unternehmen bisher trotz mehr als 70.000 Ferndiagnosen noch kein Fehldiagnose bekannt geworden. Eine einfache Erkältung könne ein Patient schließlich auch selbst erkennen. Ergänzend legte er die Bescheinigung über eine übliche ärztliche Berufshaftpflichtversicherung vor.
Hinsichtlich der Haftpflichtversicherung ergab sich aus einer bei der Versicherung eingeholten Auskunft, dass nur die hauptberufliche Arzttätigkeit, nicht aber die freiberufliche Tätigkeit für jenes Unternehmen versichert war. Die weiteren Einwände überzeugten ebenfalls nicht, weshalb der Arzt unter entsprechender rechtlicher Würdigung beim Berufsgericht angeschuldigt wurde. Denn im Grunde genommen stellte sich der Nutzer des Programms bei dieser Methode seine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung selbst aus. Im Vordergrund der Anschuldigung stand das Bestreben, die Einwände des Unternehmers zu widerlegen und die Rechtslage verbindlich geklärt zu wissen.
Mangelnde ärztliche Sorgfalt
Mit Erfolg. Am 28. April 2021 ist das Berufsgericht im Wesentlichen der Argumentation der Kammer gefolgt und hat gegen den Arzt wegen Verstoßes gegen seine Berufspflichten eine Geldbuße verhängt (VG Gießen 21 K 4779/19).
Wichtig war Folgendes: Die Einführung der Vorschrift über die sogenannte Telemedizin erlaubt solche Methoden unverändert nicht, da auch weiterhin die Beratung und Behandlung „im persönlichen Kontakt“ erforderlich ist (§ 8 Abs. 1 S. 1 BO). Kommunikationsmedien können nur unterstützende Funktion haben. Und auch, wenn jetzt ausnahmsweise allein auf die Medien zurückgegriffen werden kann, müssen die Maßnahmen nach dem unmissverständlichen Wortlaut der Vorschrift doch ärztlich vertretbar sein und mit der erforderlichen ärztlichen Sorgfalt erbracht werden, was unverändert verbietet, ohne jeden persönlichen Kontakt tätig zu werden und sich nur auf einen Algorithmus zu verlassen. Das Gericht fand deutliche Worte, indem es ausführte, das vom Beschuldigten mitverantwortete Verfahren entspreche nicht den ärztlichen Standards (§ 2 Abs. 3 BO) und widerspreche „massiv“ dem Berufsbild eines gewissenhaft handelnden und der Gesundheit des Patienten verpflichteten Arztes. Auch der Vorwurf mangelnder Versicherung wurde bestätigt (§ 21 BO).
Zu dem eher praktischen Einwand, dass der Arzt auch im persönlichen Kontakt auf die eigenen Angaben des Patienten angewiesen sei, der nicht immer korrekt antworte, wies die Entscheidung darauf hin, dass der Arzt im persönlichen Kontakt aufgrund seiner Ausbildung, Weiterbildung und Erfahrung sehr wohl imstande sei, sich ein Bild von der Befindlichkeit des Patienten zu machen. Das könne einem Algorithmus nicht überlassen bleiben, insbesondere dann nicht, wenn dessen Benutzung dem Patienten die Möglichkeit einräume, sich nach dem System „trial and error“ die richtigen Symptome herauszusuchen, um die Krankschreibung zu bewirken.
Die Entscheidung ist rechtskräftig; der Beschuldigte hat kein Rechtsmittel eingelegt.
Nachtrag
Übrigens, was den Unternehmer angeht: Tatsächlich musste dieser nur bei vordergründiger, rein formaler, Betrachtung keine Reaktion der ärztlichen Berufsvertretung befürchten. Denn über die Ärztekammer am Unternehmenssitz wurde ein klageberechtiger Verein gegen den Unerlaubten Wettbewerb auf ihn aufmerksam. Jener Wettbewerbsverein erreichte dann in zwei Instanzen, obergerichtlich im November 2020, eine Verurteilung wegen Verstoßes gegen das Heilmittelwerbegesetz, nämlich wegen unzulässiger Werbung für die Fernbehandlung oder Fernerkennung von Krankheiten nach § 9 jener Vorschrift. Die in § 9 vorgesehene Ausnahme für den Fall, dass die Verwendung der Kommunikationsmedien keinen persönlichen Kontakt erforderte, ließ das zuständige Oberlandesgericht aus den bekannten Gründen nicht gelten. Bei Zuwiderhandlung drohen ein Ordnungsgeld bis 250.000 Euro oder Ordnungshaft, zu vollziehen am Geschäftsführer. Manchmal bedarf es halt der Umwege, um ein Ziel zu erreichen.
Wenn das berufsrechtliche Verfahren sich auch nur gegen einen Arzt richtete, der einen geringen und leicht ersetzbaren Tatbeitrag leistete, so hat es doch ein wichtiges Ziel erreicht. Denn die Rechtslage erscheint jetzt so weit geklärt, dass sich in Zukunft hoffentlich kein Arzt mehr guten Glaubens für ein solches Unternehmen wird einspannen lassen. In Hessen ist seitdem jedenfalls niemand mehr aufgefallen.
Klaus Eckhardt, Vorsitzender Richter am LG a. D., Ermittlungsbeauftragter der Berufsgerichtsabteilung, Landesärztekammer Hessen, E-Mail: berufsgericht@laekh.de