In den beiden oben genannten Artikeln liegt das Augenmerk vor allem auf der Differenzierung des Schweregrades des depressiven Krankheitsbildes, der Empfehlung der verhaltenstherapeutischen Behandlungsmethode sowie der Bedeutung von Kooperation und Vernetzung der behandelnden Institutionen.

Zu kurz scheint uns die Auseinandersetzung mit den depressionsauslösenden und -aufrechterhaltenden Faktoren gekommen zu sein. Um hier einen Verstehenszugang zu öffnen, ist es erforderlich, die krisenauslösende Situation zu rekonstruieren: Wann wurden die ersten Zeichen einer gedrückten Stimmung, eines passiven Rückzugs, einer Erschöpfung spürbar? Welche Lebensumstände haben zu der Krise geführt? Eine solche Situationsdiagnostik ist eminent wichtig und kann durch die Hinzuziehung der nahen Angehörigen ergänzt und differenziert werden. Wobei oft deutlich wird, wie groß die Belastungen auch für sie geworden sind – mit einem entsprechend großen Bedürfnis, mit dem Arzt darüber sprechen zu wollen.

Welche Konfliktthemen können sich nun in einer Depression manifestieren? Aus psychodynamischer Sicht [1] können wir anhand des „Drei-Säulen-Modells“ folgende, regelmäßig wiederkehrende Auslösefaktoren feststellen:

  • Schwere Erschütterungen des Selbstwertgefühls durch Kränkungen, Misserfolge, Versagen oder auch körperliche Mängel, Verletzungen oder altersbedingte Einschränkungen können depressionsauslösend sein. Wir sprechen von einer Schieflage des narzisstischen Gleichgewichts.
  • Gewissenskonflikte durch ein extrem strenges Über-Ich mit einer entsprechenden Neigung zu Schuldgefühlen und einem Zuviel an Verantwortung, an Aufopferung sowie Verzicht auf Erholung und Befriedigung eigener vitaler Lebenswünsche (nicht selten zu beobachten beim sogenannten Burnout oder Chronic Fatigue Syndrom (CFS), oft ausgeprägt in Helferberufen).
  • Verlust von nahestehenden Personen – wobei es sich nicht immer um einen realen Verlust oder Trauerfälle handeln muss. Auch eine wahrgenommene Erschöpfung und ein Rückzug, beispielsweise in der Partnerbeziehung, können schwerwiegende Verunsicherungen auslösen. Diese Dynamik kann naturgemäß am ehesten durch die Einbeziehung des Partners oder der Partnerin, bereits am Anfang der Diagnostik, erfasst werden.

Die alleinige Empfehlung der verhaltenstherapeutischen Methode wird den Bedürfnissen dieser Patientengruppen und deren Angehörigen nicht gerecht.

Einerseits gibt es sicherlich Patienten, die von einer handlungsanweisenden Therapie profitieren, wenn sie konkrete Unterstützung bei den Schritten aus ihrem resignativen und passiven Zustand finden. Die stützende, haltgebende und verständnisvolle Beziehung zum Therapeuten bzw. zur Therapeutin ist hierbei gewiss ein wichtiges therapeutisches Agens. Andererseits gibt es auch eine Vielzahl depressiver Patienten, die auf der Suche nach Einsicht in die eigenen emotionalen Reaktionen und auch den selbstwirksamen Bewältigungsmöglichkeiten von konflikthaften Lebenssituationen sind. Diese Patientengruppe möchte nicht so sehr „an die Hand“ genommen werden, wie in einer Verhaltenstherapie. Sie wünschen sich einen Raum, in dem sie vom Therapeuten – ohne Druck – auf ihrer Suche begleitet werden. Dass für diese mentalisierende [2] Entwicklungs- arbeit mehr Behandlungssitzungen in Anspruch genommen werden müssen, liegt auf der Hand.

Die Wahl des für die einzelne Patientin und den einzelnen Patienten passenden Therapieverfahrens wird in den probatorischen Stunden getroffen. Dass Verhaltenstherapie und psychodynamische Verfahren sich gegenseitig befruchten können, zeigen methodenübergreifende Fortbildungsveranstaltungen in Psychosen-Psychotherapie, wie z. B. die seit vier Jahren regelmäßig angebotenen Samstagsveranstaltungen im Horst-Eberhard-Richter-Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie Gießen e. V. Hier wird am 14.5.2022 eine Veranstaltung zum Thema Depressionsbehandlung angeboten. Dabei lernen die unterschiedlichen Berufsgruppen – ÄrztInnen, PsychologInnen, SozialarbeiterInnen und -pädagogInnen, ErgotherapeutInnen – sich und die Institutionen, in denen sie tätig sind, kennen.

Dr. med. Verena Bonnet, Dr. med. Serge Croes, Dr. med. Terje Neraal, Dr. med. Michael Putzke

Kontakt per E-Mail: t.neraal@t-online.de

Alle Autorinnen und Autoren sind Organisatoren der Gießener Fort- und Weiterbildung in Psychosen-Psychotherapie am Horst-Eberhard-Richter-Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie Gießen e. V. Im Internet: www.gpi.dpv-psa.de

[1] Mentzos, S. (2002): Depression und Manie – Ein psychodynamisches Modell. In: Forum der psychoanalytischen Psychosentherapie, Band 9, S. 9–21. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht

[2] Rottländer, P. (2020): Mentalisieren bei Paaren. Stuttgart: Klett-Cott