Tumoren des zentralen Nervensystems (ZNS) mit dem Schwerpunkt Gliome standen im Fokus der dritten hessenweiten Online-Qualitätskonferenz, zu der das Hessische Krebsregister (HKR) Mitte Dezember 2021 eingeladen hatte. Hierbei fand ein einrichtungsübergreifender fachlicher Austausch über die Analysen zur Versorgungssituation in Hessen auf Grundlage der Krebsregisterdaten statt.

Erkrankungsgeschehen in Hessen

Legt man die Daten des HKR zugrunde, wurden in den Jahren 2015 bis 2020 jährlich im Median 1625 ZNS-Tumoren in Hessen behandelt. In 54 % der Fälle handelte es sich um primäre ZNS-Tumoren, die mit einem medianen Erkrankungsalter von 61 Jahren früher als sekundäre ZNS-Tumoren auftraten, bei denen das mediane Erkrankungsalter demjenigen der Ursprungstumoren der Hirnmetastasen entsprach: 64 Jahre bei Frauen und 67 Jahre bei Männern. Zerebrale Metastasen gingen überwiegend von Primärtumoren der Lunge (62 %), der Mamma (10 %) und von malignen Melanomen (7 %) aus. Die primären ZNS-Tumoren waren zu 57 % maligne, zu 33 % benigne und zu 10 % unbekannten oder unsicheren Verhaltens. Frauen erkrankten 1,7-mal häufiger als Männer an benignen Tumoren. Diese betrafen bei den Frauen zu 63 % die Meningen, zu 15 % die endokrinen Drüsen des Gehirns und zu je 10 % Gehirn und Rückenmark/Hirnnerven, während bei den Männern insbesondere der Anteil von meningealen Tumoren mit 42 % niedriger und von Tumoren der endokrinen Drüsen mit 27 % höher lag als bei den Frauen. Im Gegensatz dazu waren Männer 1,4-mal häufiger von malignen Erkrankungen betroffen als Frauen. Diese traten bei beiden Geschlechtern fast ausschließlich im Gehirn auf (97 %). Dort stellten Glioblastome mit 74 % den häufigsten histologischen Tumortyp dar (WHO-Grad IV), gefolgt von Astrozytomen (13 %, WHO-Grad 2 und 3) und Oligodendrogliomen (5 %, WHO-Grad 2 und 3).

Regionale Versorgungssituation für Patienten mit Gliomen

Die beobachteten Fälle im Krebsregister spiegeln aktuell noch nicht flächendeckend die Versorgungssituation wider, weshalb die erwartete jährliche Fallzahl maligner Hirntumoren (ICD10 C71) in der hessischen Bevölkerung auf Grundlage der deutschlandweiten altersspezifischen Fallzahlen des Robert Koch-Instituts (RKI) für die Jahre 2015–2017 mit 497 geschätzt wird. Für die onkologischen Versorgungsstrukturen in den sechs Versorgungsgebieten Kassel, Gießen/Marburg, Fulda/Bad Hersfeld, Wiesbaden/Limburg, Frankfurt/Offenbach und Darmstadt zeigt sich unter Berücksichtigung der Bevölkerungsanzahl, Altersstruktur und der erwarteten Fallzahl an malignen ZNS-Tumoren ein regional unterschiedliches Bild (Tabelle 1).

Tabelle 1: Regionale Versorgungssituation maligner Gehirntumoren

Versorgungsgebiet

Bevölkerung1

Erwartete Fälle C712 pro Jahr

Neurochirurgie3

Neurologie3

Strahlentherapie4

Neuroonko. Zentrum5

Anzahl KH

Fälle/KH

Anzahl KH

Fälle/KH

Anzahl KH

Fälle/KH

Anzahl KH

Kassel

  875.609

  74

1

74

8

9

2

37

    1

Fulda/Bad Hersfeld

  449.507

  38

1

38

3

13

2

19

    -

Gießen/Marburg

  1.079.430

  85

2

43

7

12

3

28

    2

Frankfurt/ Offenbach

  2.145.497

161

4

40

10

16

7

23

    1

Wiesbaden/ Limburg

  637.546

  51

1

51

5

10

2

26

    -

Darmstadt

  1.100.491

  87

1

87

2

43

2

43

    -

Hessen gesamt

  6.288.080

497

10

50

35

14

18

28

    4

Legende: Angaben zu Fällen auf ganze Zahlen gerundet; KH = Krankenhäuser

Statistische Ämter des Bundes und der Länder, www.regionalstatistik.de, Stichtag 31.12.2019, Datenabfrage 19.10.2021 Schätzung auf Grundlage der deutschlandweiten Daten des Zentrums für Krebsregisterdaten am Robert Koch-Institut Berlin, Diagnose ICD-10 C71 (inkl. DCO), Erstdiagnose 2015–2017, Alter ≥ 15 Jahre, Personen mit Wohnort Hessen, Datenabfrage 19.10.2021

Plankrankenhäuser laut Krankenhausplan 2020, Hrsg. Hessisches Ministerium für Soziales und Integration Plankrankenhäuser laut Krankenhausplan 2020 (vgl. 3) und weitere strahlentherapeutische Einrichtungen Neuroonkologische Zentren mit Zertifizierung durch die Deutsche Krebsgesellschaft, Datenabfrage 19.10.2021

In der primären Diagnostik spielt die histologische Sicherung mittels Biopsie oder Resektion eine zentrale Rolle. In Hessen gibt es zehn neurochirurgische Abteilungen für die primäre Diagnostik, darunter vier zertifizierte neuroonkologische Zentren, die sich in Kassel, Marburg, Gießen und Frankfurt befinden. Bei gleichmäßiger Verteilung ergeben sich jährlich etwa 50 zu behandelnde Fälle pro neurochirurgischer Klinik. Werden die unterschiedlichen Bevölkerungsstrukturen in den Regionen mitberücksichtigt, sind für die einzige neurochirurgische Klinik in der Region Kassel 74 zu versorgende Fälle im Jahr zu erwarten, während in der Region Frankfurt/Offenbach die Versorgung von 161 Fällen jährlich auf vier neurochirurgische Kliniken verteilt werden kann. Ähnliche Unterschiede in der regionalen Versorgungssituation zeigen sich auch in den erwarteten Behandlungszahlen für die 18 strahlentherapeutischen Einrichtungen mit 19 bis 43 erwarteten Fällen und für die 35 neurologischen Einrichtungen Hessens mit 9 bis 43 erwarteten Fällen pro Einrichtung und Jahr in den verschiedenen Versorgungsgebieten.

Ein Vergleich zwischen dem Wohn- und Behandlungsort der Patientinnen und Patienten mit Gliomen auf Basis der HKR-Daten wies weitere regionale Unterschiede auf. In den Gebieten Kassel, Gießen/Marburg und Frankfurt/Offenbach wurden zwischen 81 % – 94 % der Gliome innerhalb des Gebiets versorgt, davon je mehr als 80 % in einem der vier dort ansässigen neuroonkologischen Zentren. Dahingegen wiesen die Gebiete Wiesbaden/Limburg, Fulda/Bad Hersfeld und Darmstadt, die über kein zertifiziertes neuroonkologisches Zentrum verfügen, deutlich niedrigere Anteile regional Versorgter auf. Patientinnen und Patienten, die eine überregionale Behandlung in Anspruch nahmen, waren mit einem medianen Erkrankungsalter von 59 Jahren jünger als die regional behandelten mit 63 Jahren, was sich mit ähnlicher Tendenz auch für die Behandlung in neuroonkologischen Zentren mit einem Altersmedian von 61 Jahren im Vergleich zu 63 Jahren in den weiteren Einrichtungen Hessens zeigte.

Therapeutische Versorgung beim Gliom

Gliome, die größte Subgruppe der malignen ZNS-Tumoren, wurden einer eingehenderen Analyse der therapeutischen Versorgung unterzogen. Tumorresektionen konnten bei 53 % der Gliome im Rahmen der primären Therapie durchgeführt werden, wobei der Anteil bei Patientinnen und Patienten unter 70 Jahren mit 58 % höher lag als bei den älteren mit 40 %. In Abhängigkeit von der Lokalisation zeigten sich für Tumoren des Frontal-, Temporal-, Parietal- und Okzipitallappens Resektionsraten von 56 %–69 %, während Resektionen bei Tumoren in tiefer liegenden bzw. empfindlicheren Hirnarealen (Hirnventrikel, Hirnstamm, Zerebrum, Zerebellum) oder in mehreren Teilbereichen des Gehirns nur zu etwa 33 %–48 % durchgeführt wurden.

Bestrahlungen fanden in 53 % der Fälle statt, wobei 70 % konventionell, 17 % hypofraktioniert und 13 % nach sonstigem Schema bestrahlt wurden. Die hypofraktionierte Bestrahlung erfolgte entsprechend den Leitlinien der European Association of Neuro-Oncology (EANO, 2021) überwiegend bei über 70-Jährigen (37 %), während sie bei den Jüngeren (< 70 Jahren) eine untergeordnete Rolle spielte (9 %). Bei den Patientinnen und Patienten unter 70 Jahren wurden Bestrahlungen zu etwa 80 % in Kombination mit einer Chemotherapie durchgeführt, wohingegen multimodale Therapien bei den älteren nur noch bei etwa 50 % erfolgten.

Ob durchgeführte Behandlungen den europäischen Leitlinien entsprachen, konnte nur teilweise evaluiert werden. Die für die Therapiestratifizierung auf Grundlage einer integrierten histologischen und molekularpathologischen Diagnostik notwendigen molekularen Merkmale wie bspw. der IDH-Mutationsstatus, die 1p19q- Kodeletion, die MGMT-Promotormethylierung oder die Histonmodifikationen lagen zwar bereits in etwa 42 % der Fälle vor, reichten aber für eine vollumfängliche Analyse nicht aus.

Das geschätzte mediane Gesamtüberleben lag für die in Hessen behandelten Patientinnen und Patienten mit Gliomen bei 12,9 Monaten (95 %-CI in Monaten: 11,9–13,9) bei einem geschätzten medianen Follow-up von 24,9 Monaten.

Ausblick

Nach erfolgtem Umbau des HKR in ein klinisch-epidemiologisches Register zum 31.12.2020 wird mit zunehmender flächendeckender und sektorenübergreifender Registrierung eine umfassendere Evaluation der onkologischen Versorgung in Hessen möglich sein. Grundlage hierfür sind strukturelle Verbesserungen der Übermittlungswege, so dass die noch bestehende Untererfassung in einzelnen Regionen sowie von sekundären ZNS-Tumoren und molekulargenetischen Markern aufgehoben wird. Für die Evaluation von Behandlungen ist durch die stetig wachsenden Kenntnisse molekulargenetischer Mechanismen die strukturierte Dokumentation molekularer Merkmale unerlässlich, die ab Mitte dieses Jahres mit dem novellierten bundeseinheitlichen onkologischen Basisdatensatz möglich sein wird. Mittelfristig tragen diese Änderungen zu einem erweiterten Spektrum der Datennutzung für die Qualitätssicherung hinsichtlich der Umsetzung von Therapieempfehlungen sowie zu differenzierteren Analysen zu Einflussfaktoren für die Beantwortung von klinischen Fragestellungen auf Basis der Real-World-Daten des HKR bei.

Dr. rer. nat. Katharina Bernhardt, Petra Neuser, Dr. med. Soo-Zin Kim-Wanner

Landesauswertungsstelle, des Hessischen Krebsregisters, Lurgiallee 10, 60439 Frankfurt/Main, Fon: 069 580013-401, E-Mail: soo-zin.kim-wanner@hlpug.hessen.de, www.hessisches-krebsregister.de