Der § 219a StGB regelte bisher, dass Ärztinnen und Ärzte keine öffentlichen Informationen über einen Schwangerschaftsabbruch bereitstellen dürfen. Am 9. März hat das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf zur Aufhebung des Verbots der Werbung für den Schwangerschaftsabbruch und damit die Abschaffung des § 219 StGB beschlossen. Die Ärztinnen Kristina Hänel, Nora Maria Szász und Christiane von Rauch berichten über die jahrelange Kriminalisierung von Ärztinnen und Ärzten durch den Paragrafen.

Kristina Hänel

Ihr Name ist mit dem § 219a StGB verknüpft: Kristina Hänel, in Gießen praktizierende Fachärztin für Allgemeinmedizin wurde bundesweit bekannt, als sie wegen Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft im Internet angeklagt und zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. In einer von Hänel eingelegten Revision hob das Oberlandesgericht Frankfurt im Juli 2019 die Verurteilung auf und verwies die Sache zurück an das Landgericht Gießen, das Hänel daraufhin im Dezember 2019 erneut zu einer Geldstrafe in Höhe von 25 Tagessätzen verurteilte. Im Januar 2021 verwarf das Oberlandesgericht die Revision Hänels, woraufhin sie Verfassungsbeschwerde einlegte.

Mit der angekündigten Streichung des § 219a geht ein langer Kampf von Ihnen hoffentlich zu Ende. Wann und warum haben Sie begonnen, Schwangeren in Konfliktsituationen zu helfen?

Kristina Hänel: Ich habe in den 1980er-Jahren wegen der Vereinbarkeit mit der Erziehung meiner Kinder angefangen, bei Pro Familia in Gießen zu arbeiten. Damals mussten Frauen, die eine Abtreibung vornehmen lassen wollten, von Gießen aus nach Wiesbaden oder Köln fahren. Als Beraterin habe ich mitbekommen, wie schwer es für viele von ihnen war, eine solche Reise zu machen, und mich für ein Zentrum in Gießen eingesetzt. Damals gab es Familienplanungszentren, in denen Beratung und Abbrüche unter einem Dach stattfanden. Heute existiert ein solches Zentrum nur noch in Rüsselsheim. Ja, und in diesem Zusammenhang gab es damals schon erste Proteste von Abtreibungsgegnern. Aus diesem Grund haben sich die Gynäkologen, die eigentlich bei uns Abbrüche machen wollten, zurückgezogen. So ist die Überlegung entstanden, dass auch ich Schwangerschaftsabbrüche durchführe. Ein Berufsziel ist das für niemanden, aber es war eben eine Notwendigkeit. Der Zulauf war groß, denn es gab keine andere Adresse in der Umgebung.

Wir vom medizinischen Team haben uns später von Pro Familia getrennt und uns unter meinem Namen selbstständig gemacht. Dabei kam auch die Idee mit der Internetseite auf. Ich hatte mich 2001 an den Justitiar der Landesärztekammer gewandt und ihm mein Konzept der Website vorgestellt, auch wegen des § 219a. Damals gab es noch keine Anzeigen von Abtreibungsgegnern und niemand konnte sich vorstellen, dass Aufklärung als Werbung gelten könnte. Er hat auch gar nicht bemängelt, dass ich meine Informationen im Internet zur Verfügung stellen wollte.

An Ihrer Internetseite entzündete sich schon damals die Kritik?

Hänel:Das dauerte etwas. Im Jahr 2005 gab es die ersten Anzeigen des Abtreibungsgegners Klaus Günter Annen, der sich rühmt, rund 600 Ärztinnen und Ärzte, darunter auch mich, angezeigt zu haben. Die Verfahren sind immer eingestellt worden. In zwei Fällen kam es allerdings zu einer Verurteilung, einmal in Bayern und einmal in NRW. Wir haben unsere Internetseite daraufhin so umgestellt, dass Informationen nur noch über E-Mail abgerufen werden konnten. Ich bin immer davon ausgegangen, dass alles rechtlich korrekt ist und man Aufklärung und Information nicht als Werbung bezeichnen kann. Zehn Jahre lang hatte ich Ruhe, bevor 2015 die Anzeige eines anderen Abtreibungsgegners kam. Als ich dann zu Gericht musste, war ich wirklich völlig erstaunt, denn ich hatte wieder mit einer Einstellung gerechnet. Die meisten Anzeigen gehen auf Annen zurück, der alle Verfahren auf seiner Seite auflistet. Ich habe circa 150 ebenfalls betroffene Ärztinnen, Ärzte und Krankenhäuser angeschrieben. Etwa 50 haben mir geantwortet und ihre Verfahren geschildert.

Haben sich die Vorwürfe auf Anzeigen beschränkt, oder waren Sie auch direkten Anfeindungen ausgesetzt?

Hänel: Ich bin schon immer angefeindet worden, aber das hat sich durch den Bekanntheitsgrad nochmals enorm verändert. Da kommen schon richtige Drohmails, die dann auch zur Staatsanwaltschaft gehen. Ich bin jetzt noch mehr im Fokus, als ich es am Anfang war.

Wie geht man damit um?

Hänel: Man versucht, das mal mehr, mal weniger an sich heranzulassen. Ich hatte jetzt einen Prozess, weil ich gegen Annen wegen Beleidigung und Volksverhetzung Strafantrag gestellt hatte. So etwas wühlt natürlich emotional nochmals so richtig auf und war sehr belastend. Am stärksten belastet mich der Holocaust-Vergleich, der schon seit vielen Jahren erhoben wird. Was mir hilft, ist der enorme Rückhalt von Patientinnen, Ärztinnen und Ärzten.

Sie sind den Anfeindungen begegnet, indem Sie das Thema in die Öffentlichkeit getragen haben. Warum? Was wollten und wollen Sie damit erreichen?

Hänel:Die breite öffentliche Unterstützung ist wichtig: Die Abtreibungsgegner – Organisationen oder Einzelpersonen – agieren so, dass sie Ärztinnen und Ärzte bedrohen, die die Frauen unterstützen. Und das hält man alleine nicht aus, die Verfahren kosten ja auch Geld und bedrohen damit ganz existenziell. Und deshalb ist für mich die Öffentlichkeit auch immer ein Schutz gewesen. Zugleich haben die Anzeigen gegen mich auch eine Lawine losgetreten. Die Gesellschaft hat dadurch wahrgenommen, welchen Zugriff die Abtreibungsgegner versuchen, auf Frauen auszuüben. Die Zeit war einfach dafür reif, dass die Öffentlichkeit das Thema wahrnimmt. Auch die kollegiale Unterstützung bedeutet mir sehr viel, da das Ganze ja den Kern unserer Berufsausübung trifft: Dass wir nicht sagen dürfen, was wir machen. Dass man uns verbietet, aufzuklären. Es geht ja nicht um Werbung. Und daher ist es natürlich besonders schmerzhaft, wenn man unterstellt bekommt, man würde werben. Tatsächlich geht es um Aufklärung und Information für die Betroffenen.

Wie haben sich die Prozesse und ihre wachsende Bekanntheit auf das Verhältnis zu den Patientinnen ausgewirkt?

Hänel: In der Praxis hat es sich sehr verändert. Viele Frauen kommen ja eigentlich mit Angst und Misstrauen hierher. Seitdem ich so bekannt bin, wissen sie jedoch genau, was sie hier erwartet. Noch mehr als früher. Dadurch ist auch das Vertrauen stärker geworden.

Fühlen sich Ärztinnen, Ärzte und Patientinnen ausreichend geschützt?

Hänel: Während wir Ärztinnen und Ärzte für die Information der Frauen bisher bestraft wurden, haben die anderen, die die Frauen belästigen – Stichwort Gehsteigbelästigung – freies Spiel. Der Staat schützt leider weder die Betroffenen noch uns Ärztinnen und Ärzte in ausreichendem Maß vor dem Zugriff der Abtreibungsgegner. Da gibt es auf jeden Fall noch Handlungsbedarf.

Dass jetzt der § 219a gestrichen wird, ist zu nicht geringem Teil Ihr Erfolg. Lassen Sie es dabei bewenden, oder werden Sie weiterkämpfen müssen?

Hänel: Ich denke schon, dass es noch viele Probleme in Zusammenhang mit dem Schwangerschaftsabbruch, der medizinischen Versorgung und der Finanzierung gibt. Ich werde sicher bei dem Thema bleiben, aber nicht mehr als Frontfrau. Das Ganze hat mich einfach wahnsinnig viel Kraft gekostet.

Nora Maria Szász

Die in einer Kasseler Gemeinschaftspraxis praktizierende Gynäkologin Nora Szász erlangte überregionale Bekanntheit, nachdem sie und ihre Kollegin Natascha Nicklaus 2017 wegen Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft (§ 219a StGB) angeklagt wurden und vor Gericht standen.

Warum hat es Ihrer Meinung nach so lange gedauert, bis die Entscheidung zur Streichung des § 219a fiel?

Nora Maria Szász: Der § 219a hat nach 1945 die längste Zeit kaum Beachtung gefunden, bis vor mittlerweile mehr als 20 Jahren Abtreibungsgegner anfingen, diesen dazu zu nutzen, massenhaft Kliniken, Ärztinnen und Ärzte mit Strafanzeigen nach § 219a einzuschüchtern. Was dann folgte, war, von wenigen Ausnahmen abgesehen, immer das gleiche: Die Einträge und Informationen zum Schwangerschaftsabbruch wurden aus Angst vor Strafverfolgung und auf Empfehlung der zuständigen Staatsanwaltschaft von den Websites genommen. Der Protest setzte im November 2017 ein, als die Ärztin Kristina Hänel vom Amtsgericht Gießen zu einer Geldstrafe von 6.000 Euro verurteilt wurde. Zu dieser Zeit waren auch meine Kollegin und ich in Kassel von zwei Abtreibungsgegnern wegen angeblicher Werbung für den Schwangerschaftsabbruch auf unserer Website angezeigt worden. Trotz der Einschüchterungsversuche durch Abtreibungsgegner wie Klaus Günter Annen und der zu erwartenden hohen Prozesskosten war es wichtig, sich zur Wehr zu setzen. Die Empörung über die Anzeigen und auch die Verurteilungen führten dazu, dass ein öffentliches Bewusstsein für dieses Unrecht entstand.

Hat die Politik damals nicht auf die Proteste reagiert?

Szász: Doch, nach dem skandalösen Urteil in Gießen haben verschiedene Parteien, die SPD, Linke und Grüne Gesetzentwürfe zur Streichung, die FDP zur Änderung des Paragrafen 219a eingebracht. Die SPD zog ihren Entwurf aufgrund des Drucks der Großen Koalition damals zurück, sodass die erhoffte freie Abstimmung im Bundestag dann leider nicht zustande kommen konnte. Das war eine riesige Enttäuschung. Doch in der Öffentlichkeit gingen die Proteste massiv weiter, so dass die damalige Bundesregierung sich zur einer Reform des § 219a gezwungen sah, die im März 2019 in Kraft trat. Sie hatte vor allem zum Ziel, den § 219a zu erhalten und nicht zu streichen. Uns Ärztinnen und Ärzten wurde zwar nun zugestanden, dass wir auf unseren Websites künftig mitteilen dürfen, dass wir Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Darüber hinausgehende Informationen wie etwa zu den angebotenen Methoden blieben aber weiterhin strafbar. Diese als Kompromiss ausgegebene Reform des § 219 war nichts als Augenwischerei – weder gab sie uns Ärztinnen und Ärzten Rechtssicherheit, noch den betroffenen Frauen freien Zugang zu für sie wichtigen Informationen.

Wie wirkte sich die Anzeige gegen Sie und die Reform des Paragrafen im Jahr 2019 auf Ihre Arbeit aus?

Szász: Wir waren schnell entschieden, uns nicht einschüchtern zu lassen und dass wir mit dieser Anzeige und den damit verbundenen Einschränkungen der Rechte unserer Patientinnen an die Öffentlichkeit müssen. Die Anklage, das Gerichtsverfahren und das Engagement, die dann folgten, waren natürlich sehr zeitintensiv, aber es gab für uns keine Alternative dazu. Wir wollten den Abtreibungsgegnern nicht das Feld überlassen, über die Gesundheit und Selbstbestimmung von ungewollt Schwangeren zu entscheiden.

Gab es auch positive Erfahrungen?

Szász: Ja, die gab und gibt es und die geben Kraft, dass es richtig ist, sich zur Wehr zu setzen und für eine wirkliche Reform im Umgang mit Schwangerschaftsabbrüchen zu kämpfen. Das sind zum einen unsere Patientinnen, von denen so viel Zuspruch und Unterstützung kam. Es gab Spendensammlungen und viele Solidaritätsbekundungen bis hin zum Oberbürgermeister der Stadt Kassel.

Wie geht es nach der Streichung des § 219a weiter?

Szász: Wir sind erst mal sehr froh, dass unter der neuen Bundesregierung der § 219a endlich gestrichen wird. Was ich mir wünsche ist, dass der Schwangerschaftsabbruch zukünftig nicht mehr als Straftat gewertet wird, sondern als eine medizinische, sehr persönliche Angelegenheit der Betroffenen. An meine Kolleginnen und Kollegen appelliere ich, die für ihre Patientinnen wichtigen Informationen zum Schwangerschaftsabbruch auf ihren Webseiten einzustellen, sobald es rechtlich wieder möglich ist.

Christiane von Rauch

Wie sind Sie als niedergelassene Allgemeinärztin in Frankfurt mit dem § 219a in Berührung gekommen?

Christiane von Rauch: Ich bin seit drei Jahren im Ruhestand und hatte in meinen letzten Berufsjahren keinen Kontakt mehr mit dem Thema. Aber ich stamme aus der alten 218er-Bewegung und habe 1978 bis 1980 bei Pro Familia Schlüchtern als Ärztin in der Schwangerschaftskonfliktberatung, Familienplanungsberatung und Indikationsstellung gearbeitet. Später war ich ehrenamtlich im Landesvorstand der Pro Familia Hessen tätig. Zu dem Thema 219a bin ich über Kristina Hänel gekommen, als bekannt wurde, dass sie angezeigt worden war und sich vor Gericht verantworten musste. Ich habe damals mit Kolleginnen eine Solidaritätsaktion in Gang gesetzt. Wir betreiben eine Website zur Unterstützung der angeklagten und verurteilten Ärztinnen.

Mit welcher Resonanz?

Von Rauch: Innerhalb kurzer Zeit kamen weit über 300 Solidaritätszuschriften zusammen, die von Entsetzen über die Anklage geprägt waren. Vielen von uns war ja damals der § 219a gar nicht präsent. Bekannt war er jenen, die damit konfrontiert waren und Anzeigen erhielten. Die wenigsten haben sich öffentlich dazu geäußert. Kristina Hänel war die erste. Durch ihren Prozess ist das Thema bekannt geworden.

Bedeutet die Streichung des § 219a eine deutliche Verbesserung für die Frauen ?

Von Rauch: Nein, ich sehe die Streichung als ersten Schritt zur Veränderung. Tatsächlich gibt es noch viel zu tun, da die medizinische Versorgungslage von Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen wollen, in Deutschland zu wünschen übrig lässt. Es stehen nicht genügend medizinische Fachkräfte dafür zur Verfügung und es gibt immer noch zu viele Curettagen. Hier muss unbedingt etwas geschehen, denn es geht um die Gesundheit der Frauen. Abtreibung steht immer noch unter Strafe nach § 218 und ist ein gesellschaftliches Tabu. Wir erwarten von der neuen Bundesregierung, die eine Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin einsetzen will, Regulierungen für den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuches.

Interviews: Katja Möhrle