„Les gens bien portants sont des malades qui s’ignorent.“
„Gesunde sind Kranke, die nur noch nicht wissen, dass sie krank sind.“Jules Romains, Knock ou le triomphe de la médicine, 1924 [1]
Wenn eine Schwangere zur Vorsorge zum Gynäkologen geht, ein älterer Mann zum Urologen, ein Kind zum Kinderarzt, spricht man von einer Patientin, einem Patienten. Was wäre eigentlich die korrekte Bezeichnung für einen Menschen, der zum Arzt geht, ohne Patient zu sein?
Ein Gesunder, so weiß man, ist nur noch nicht lange genug untersucht, also doch letztendlich ein Patient. Wie soll man ihn sonst nennen? Klient, wie in der Gesprächspsychotherapie üblich; Partner, wie man beide bei der gemeinsamen Entscheidungsfindung heute nennen soll; Kunde, der den Supermarkt der Machbarkeit moderner Medizin betritt; Ratsuchender, der sich beraten lassen will; Pflichtvorsteller, der eine verpflichtende Vorsorge wie heute in der Kinderheilkunde üblich, wahrnimmt, oder Einbestellter, weil er einen Termin wahrnimmt? Oder gar Verbraucher? Nutzer, englisch User, wird zwar häufiger verwendet, aber nicht im Zusammenhang mit dem Arztkontakt, eher mit dem Gesundheitswesen allgemein.
Eingespielt hat sich der Terminus Patient, obwohl heute in den seltensten Fällen ein Patient wirklich Patient ist, im Wortsinn: ein Leidender, der sich vom Arzt Erlösung von seinem Leid erhofft. Aber lateinisch patiens heißt auch erduldend, ertragend und damit kommen wir dem Sinn des Wortes schon näher: Wer sich als Patient auf eine Arztpraxis einlässt, ist bereit, etwas zu erdulden, zu tolerieren, zu ertragen. Das fängt mit den Wartezeiten auf einen Termin an und hört mit der Wartezeit in der Praxis nicht auf. Insofern kann der Wortsinn weiterhin aktuell sein.
Das Patienten-Arzt-Verhältnis hat sich in den vergangenen Jahrzehnten erheblich verändert. Vor einem halben Jahrhundert war Krankheit etwas Schicksalhaftes, und der Patient erhoffte sich Heilung vom Arzt. Aus dieser Hoffnung ist heute ein Anspruch geworden, für den eine Versicherung aufzukommen hat. Der Arzt ist zum Auftragsnehmer und Leistungserbringer geworden.
Durch die zunehmende Kommerzialisierung im Gesundheitswesen geht es im Wesentlichen um dokumentierbare „Leistungen“ – Qualitäten eines therapeutischen Gesprächs sind nicht messbar, nicht überprüfbar und deshalb als Leistung auch nicht honorierbar. Anders ist es bei technischen Leistungen und Laboruntersuchungen, die nachvollziehbare objektive Ergebnisse erbringen und deswegen sowohl bei den Leistungserbringern als auch bei den Kostenträgern beliebter sind.
Das Patientenwohl bleibt dabei auf der Strecke, denn die Maxime „to do as much nothing as possible“ würde das ganze System untergraben. Durch dieses Denken im „Erbringen von Leistungen“ wird dabei ein ganzer Apparat, eine ganze Industrie unterhalten, was als tertiärer Krankheitsgewinn zu verbuchen ist und immense Ressourcen ohne den geringsten Gewinn für den Patienten verschwendet.
Von Usern, Noch-Usern und Non-Usern
Erfreulicherweise werden Patienten im Gesundheitswesen noch nicht als Verbraucher bezeichnet, auch nicht als Gebraucher, die direkte Übersetzung des englischen Begriffes User. Auch der Begriff Nutzer oder Nutznießer ist so ungebräuchlich, dass ich im Folgenden bei „User“ bleiben werde.
Wir haben gesamtgesundheitswirtschaftlich betrachtet ein großes Problem mit den so genannten Multi-Usern oder denjenigen Menschen, die unser Gesundheitssystem missbrauchen. Das sind diejenigen, die ungerechtfertigter Weise in hohem Maße Ressourcen beanspruchen, sozusagen Habituierte des Gesundheitswesens. Ich war sehr erschrocken, als ich bei meinen ersten klinischen Tätigkeiten solche Dauergäste in Krankenhäusern getroffen habe. Von deren Existenz wusste ich zuvor nichts.
Neben wirklich chronisch Kranken mit objektiv schwer zu behandelnden Erkrankungen oder Organausfällen sind es auch die so genannten Koryphäenkiller. Das sind Patienten, die sich mit hohen Erwartungen stationär aufnehmen lassen und eine lange und schillernde Krankengeschichte hinter sich haben. Sie sehen jetzt in dieser Klinik die letzte Rettung, weil die vorbehandelnden Ärzte alle „nichts getaugt“, da nicht geholfen haben. Sie wiederholen – unbewusst – immer wieder in diversen Kliniken mit Ärzten und Pflegenden im Sinne einer zunächst idealisierend, dann aggressiv entwertenden Übertragungsneurose die Enttäuschungen an ihren ursprünglichen primären Bezugspersonen wie Mutter oder Vater.
Das Koryphäenkiller-Syndrom ist eine besondere Form der Beziehungsgestaltung zwischen einer narzisstisch gestörten Persönlichkeit und den behandelnden Ärzten und gar nicht so selten [2]. Die Betreuung eines solchen Patienten kann nur mit EntTäuschung enden, mit dem Ende einer Täuschung, und dann mit einem Arztwechsel oder weiteren Aufenthalten in einer anderen Klinik, die endlich feststellen soll, was der Patient hat. Ein hoffnungsloses Unterfangen, weil, wie eingangs festgestellt, Gesundheit nicht beweisbar ist.
Der Beschreiber dieses Syndroms, der bekannte Lehranalytiker und Professor für Psychosomatik in Basel Dieter Beck wurde übrigens 1980 vom Partner einer seiner Patientinnen wohl aus Eifersucht erschossen.
Wir wären allerdings gut beraten, wenn wir uns nicht nur mit den „Multi-Usern“ beschäftigen, die unser Gesundheitssystem auf Trab halten und missbrauchen, sondern auch mit den geschätzten 10 % „Non-Usern“ und deren Gesundheitszustand. Sind die nun gesünder oder kränker? Sind sie Non-User, weil sie gesund sind, oder weil sie sich von der praktizierten kurativen Medizin abgewandt haben? Hierfür gibt es nur wenige Belege. Ein interessantes Ergebnis ist das einer amerikanischen Studie an über 320.000 Kindern, die sich mit ungeimpften und geimpften Kindern und deren Gesundheitszustand beschäftigt hat. Hier wurde erstmalig unterschieden, ob die ungeimpften Kinder absichtlich aufgrund elterlicher Entscheidung nicht geimpft wurden, oder ob sie aus Nachlässigkeit oder gar Vernachlässigung nicht geimpft wurden.
Dabei zeigte sich, dass willentlich und bewusst ungeimpfte Kinder eine wesentliche geringere Inanspruchnahme von Notfallambulanzen und Praxen zeigten als die zeitgerecht geimpften, während sie bei aus Nachlässigkeit ungeimpften Kindern gegenüber den normal geimpften höher war. Der Schluss, dass ungeimpfte Kinder gesünder sind, kann aus diesen Ergebnissen nicht unbedingt gezogen werden, weil allein die Inanspruchnahme von Gesundheitseinrichtungen nicht unbedingt mit Erkrankungsschwere und -häufigkeit zu tun hat. Dementsprechend folgerten die Autoren der Studie, dass Ungeimpfte vielleicht eher andere und alternative Heilmethoden nutzen: Undervaccinated children appear to have different health care utilization patterns compared with age-appropriately vaccinated children [3]. Non-User bei Kindern kann und darf es gar nicht geben, denn seit den verpflichtenden Vorsorgeuntersuchungen [4], in Hessen seit zwölf Jahren, müssen alle Eltern mit ihren Kindern regelmäßig zum Arzt. Sie vertrauen sich ihm an – oder sind ihm ausgeliefert [5].
Aus der subjektiven Erfahrung in 30 Jahren glaube ich feststellen zu können, dass „Systemverweigerer“ gesünder sind als die übrigen Patienten. Vielleicht leben sie auch anders, privilegierter und gesundheitsbewusster. Eine verzerrte Sichtweise, ein Bias, ist sicher anzunehmen. Irgendwann finden Patienten den Arzt, der zu ihnen passt. Jedenfalls geraten sie nicht in die häufige, eingangs beschriebene Spirale eines Teufelskreises pathogenetischer Verkettungen.
Einschränkend muss ich dazu feststellen, dass wir eine Praxis führen, also Teil des Systems sind und die vollständigen Non-User dementsprechend auch nicht sehen. Ab und zu begegnen wir dann einem Non-User, der uns herzlich begrüßt und sagt, er habe sich die ganze Zeit so gut aufgehoben und betreut gefühlt, dass er uns gar nicht gebraucht hat. Das ist zwar schön, und so soll es auch sein, aber – leben können wir davon auch nicht.
Interessenskonflikt Vergütung
Diesen Interessenskonflikt benenne ich deutlich: Wir sind niedergelassene Ärzte, die davon leben, dass die Patienten möglichst jedes Quartal wiederkommen. Für die Salutogenese günstiger wäre es, wenn wir von gesunden Patienten leben würden und bei Krankheit leer ausgehen, wie im alten China. Denkbar wäre ein formales Einschreibesystem mit einer konstanten Grundvergütung, aus der dann im Krankheitsfall die zu erbringenden Leistungen bezahlt werden. Dann wüssten die Ärzte auch, welcher Patient wirklich ihr Patient ist – ein nicht zu unterschätzender Vorteil gegenüber der jetzt herrschenden Unverbindlichkeit – und sie würden sich überlegen, ob sie den Patienten auf ihre Kosten überweisen oder sich selbst des Problems annehmen wollen [6].
Im gegenwärtigen System verdient nämlich der Arzt am meisten, der das Kärtchen einlesen lässt und gleich am Tresen die Überweisung zu den diversen Fachkollegen ausstellt. Persönliches Engagement wird nicht honoriert, längere Gespräche werden abgestraft. Kein Wunder, dass kommerzielle Betreiber von Versorgungszentren in diesen lukrativ auszugestaltenden Markt einsteigen und dieses Geschäftsmodell vervollkommnen: Kärtchen einsammeln und Patienten weiterschicken, denn dafür gibt es – im Gegensatz zu Gesprächsleistungen – kein einschränkendes Budget.
Worin wir ganz groß geworden sind, das ist im Verwalten von Krankheiten. Disease Management Programme (DMP) sind Krankheitsverwaltungsprogramme, und das ist Programm: Bezeichnenderweise geht es nicht darum, Patienten, Menschen, Kinder, zu behandeln, sondern deren Krankheiten zu verwalten, am besten gleich mehrere, denn kein Begriff wird heute großzügiger angewandt als der der „Komorbiditäten“. Dass das mit den diagnosebezogenen Abrechnungssystemen zu tun hat, weiß jeder, aber wir arrangieren uns mit diesem zutiefst inhumanen System, in dem das Individuum in einzelne Organsysteme und deren Morbiditäten zerlegt wird, weil wir alle davon und damit leben. „Schleusen“ wir Menschen (die nicht immer, aber auch Patienten sind) in DMP ein und behandeln wir sie „leitliniengerecht“, dann haben wir sie optimal verwaltet – ob wir ihnen damit einen Gefallen tun oder uns nur aus der Verantwortung stehlen, sei dahingestellt.
So müssen wir uns fragen, was wir sein wollen: Der Internist und Medizinhistoriker Hermann Kerschensteiner (1873–1937) hat den viel zitierten Satz geschrieben: „Der ärztliche Beruf ist wunderlicher Natur“ – und immer wieder haben geistvolle Köpfe darüber nachgedacht, was eigentlich an diesem Gemisch von Wissenschaft, Kunst, Handwerk, Liebestätigkeit und Geschäft das Wesentliche ist. Heute sind zum Wissenschaftler, Künstler, Handwerker, Gutmenschen und Geschäftsmann noch die Funktionen des „Gatekeepers“ dazu gekommen: Desjenigen, der über Krankschreibungen und dem Zugang zu den „Leistungen“ der Gesundheitsindustrie entscheidet, er ist zum Leistungserbringer degradiert und soll am liebsten leitlinienorientierter Kochbuchmediziner sein. Aber wenn wir selbst zum Arzt gehen, an wen wenden wir uns? Nicht an den formal zuständigen, „einen“ Arzt, sondern an „den“ Arzt, den Arzt unseres Vertrauens.
Dr. med. Stephan Heinrich Nolte, Kinder- und Jugendarzt, Psychotherapeut, Fachjournalist und freier Kulturwissenschaftler, Lehrbeauftragter der Philipps-Universität Marburg, E-Mail: shnol@t-online.de
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