Ergänzungen zum CME-Artikel Chronische koronare Herzerkrankung

Leserbrief zum oben genannten Artikel von Prof. Dr. med. Thomas Voigtländer et al., HÄBL 05/2021, S. 302-309

Angesichts der Bedeutung der chronischen koronaren Herzerkrankung (KHK) ist es zu begrüßen, dass die Kollegen einen Fortbildungsartikel diesem Thema gewidmet haben.

Allerdings ist die Leitlinie der European Society of Cardiology (ESC), welche die Autoren referieren, in wichtigen Aspekten durch neue Studienergebnisse nicht mehr aktuell. Zudem ist der Artikel aus der Sicht des Krankenhauses geschrieben und nimmt zu wenig auf wissenschaftliche Erkenntnisse aus der ambulanten Versorgung Bezug.

Die von Voigtländer und Kollegen erwähnte Systematik von Diamond-Forrester kann bestenfalls für den stationären Bereich eine gewisse Gültigkeit beanspruchen [1]. Für die ambulante Versorgung steht eine gründlich evaluierte Alternative zur Verfügung: Der Marburger Herz-Score bietet mit fünf Kriterien eine praktikable Orientierung, ob beim Symptom Brustschmerz eine KHK vorliegt oder nicht [2], siehe auch https://www.leitlinien.de/themen/khk/5-auflage/kapitel-4.

Bei der Diagnostik fehlt im Artikel die Feststellung der ESC, dass die Diagnose einer stenosierenden KHK im Regelfall nicht-invasiv zu stellen ist (3.1.5.6). Die Koronarangiografie soll wenigen Grenzfällen vorbehalten bleiben und dient im Wesentlichen der Therapieplanung.

Zur Revaskularisation wäre die inzwischen abgeschlossene und publizierte ISCHEMIA-Studie zu erwähnen [3]. Bei dieser weltweit durchgeführten randomisiert-kontrollierten Studie wurden Patienten mit KHK untersucht, bei denen mit einer Cardio-CT eine Linke-Hauptstamm-Stenose ausgeschlossen worden war. Diese wurden im Interventionsarm primär invasiv behandelt (Koronarangiografie, je nach Befund Revaskularisation [perkutane koronare Intervention – PCI, Bypass-OP]), im Kontrollarm wurde konservativ behandelt und nur bei Bedarf (v. a. Beschwerden) eine Revaskularisation angestrebt. Hier ergab sich keine Überlegenheit des primär invasiven Vorgehens. Als Konsequenz sollte die Indikation zur einer Revaskularisation aus rein prognostischer Indikation zurückhaltend gestellt werden. Nur die Bypass-OP kann für sich beanspruchen, einen Vorteil in Bezug auf das Überleben zu bewirken. Es gibt eine erdrückende Evidenzlage, dass die PCI keine prognostische Wirkung hat. Dies wissen wir aus zahlreichen randomisiert-kontrollierten Studien [4, 5]; die von der ESC-Leitlinie angeführten Beobachtungsstudien haben ein hohes Risiko für Verfälschungen und stellen keine belastbare Evidenzbasis dar.

Hier wäre der Bezug auf die Nationale Versorgungsleitlinie zur chronisch-stabilen KHK (NVL-KHK: https://www.leitlinien.de/nvl/khk) wichtig gewesen; diese liefert zur Frage der Revaskularisation einen Behandlungsalgorithmus, der gerade auch die Einbeziehung der betroffenen Patientinnen in die Entscheidung im Auge hat (derzeit in Überarbeitung).

Die NVL wird von Vertretern der verschiedenen Sektoren abgestimmt; dadurch können die Interessenskonflikte einer einzelnen Fachgruppe eher neutralisiert werden. Dies gelingt bei ESC, die ihre Leitlinienentwicklungen unter anderem von Pharma- und Medizinprodukte-Herstellern finanzieren und verbreiten lässt, nur in sehr eingeschränktem Maße. Es genügt nicht, dass die Autoren ihre Geldgeber aus der Industrie aufzählen. Problematisch ist vielmehr, wenn eine Fachgruppe bzw. ihre Vertreter Empfehlungen zu Technologien abgeben, aus denen sie Einkünfte erzielen (individuell und als Institution). Dies wird im Verfahren der NVL-KHK dadurch kontrolliert, dass auch andere Versorgungssektoren, wie z. B. die hausärztlichen Vertreter und die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, die Empfehlungen mittragen müssen.

Prof. Dr. med. Norbert Donner-Banzhoff, MHSc, Prof. Dr. med. Erika Baum, Dr. Jörg Haasenritter, MSc, Abteilung für Allgemeinmedizin, präventive und rehabilitative Medizin der Universität Marburg, Karl-von-Frisch Str. 4, 35043 Marburg

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Stellungnahme der Autoren zum Leserbrief

Wir freuen uns über das Interesse an unserem Artikel zum Chronischen Koronarsyndrom. Die Ergänzungen möchten wir gerne aufnehmen und im Einzelnen diskutieren. 

  1. Die Neuformulierung der Vortestwahrscheinlichkeit war den Autoren der neuen Guideline ein besonderes Anliegen. Im Gegensatz zur alten Systematik wurde nun die Dyspnoe als Symptom mit eingeführt. Auch die aktuellen (geringeren) Prävalenzen wurden berücksichtigt. Insbesondere war es den Autoren wichtig, die vaskulären Risikofaktoren im engen Kontext mit der Vortestwahrscheinlichkeit zu sehen. Ähnliche Aspekte werden in der Nationalen Versorgungsleitlinie adressiert und sind gleichermaßen hilfreich. Beide Ansätze ergänzen sich sinnvoll. Die weiteren ersten Diagnostikschritte erfolgen mit dem Ziel, ein Chronisches Koronarsyndrom ein- oder auszuschließen.
  2. Diese Diagnostik im Sinne des Rule-in/ Rule-out ist bis auf wenige Ausnahmefälle nichtinvasiv. Ein wesentlicher Baustein ist u. a. das Koronar-CT, diese Methodik der nichtinvasiven Koronardiagnostik wurde nochmals aufgewertet. Nicht berücksichtigt wurde allerdings, dass die Verfügbarkeit von modernen, strahlenarmen Kardio-CT-Systemen limitiert ist. Dies führt dazu, dass im Einzelfall die invasive Koronardiagnostik eingesetzt wird. 
  3. Die Therapie des Chronischen Koronarsyndroms ist in der Guideline sehr differenziert dargestellt. Die Kollegen Donner-Banzhoff et al. weisen mit Recht darauf hin, dass der Ischemia trial [1] zwischenzeitlich veröffentlich ist und berücksichtigt werden sollte. Allerdings sollten die Ergebnisse differenziert betrachtet werden. In einem mittleren Follow-up von 3,2 Jahren zeigte sich bei 5179 randomisierten Patienten kein Unterschied des kombinierten primären Endpunktes („The primary outcome was a composite of death from cardiovascular causes, myocardial infarction, or hospitalization for unstable angina, heart failure, or resuscitated cardiac arrest.“) Der primäre Endpunkt trat bei 318 der invasiv behandelten Patienten und bei 352 der konservativ behandelten Patienten auf. Die prognostisch wichtigen Gruppen der Patienten mit einer Hauptstammstenose und mit einer eingeschränkten EF (< 35 %) wurden primär ausgeschlossen. Eine zusätzliche Einschränkung der Aussagekraft der Studie besteht darin, dass in 20 % der zum invasiven Vorgehen randomisierten Patienten keine Intervention oder OP erfolgte und bei 21 % der für eine konservative Therapie randomisierten Patienten eine Intervention oder OP erfolgte. Hinsichtlich der Symptomatik war die invasive Therapie signifikant erfolgreicher. Die Studie ist ein wichtiger Baustein für die Entscheidungsfindung konservativ versus invasiv. Aufgrund der vorgenannten Limitationen kann eine generelle Empfehlung zur konservativen Therapie bei symptomatischen Patienten mit auch bedeutsamer Ischämie nicht abgeleitet werden.
  4. Erfreulicherweise stehen mit der PCI und der aortokoronaren Bypassoperation (CABG) zwei über Jahrzehnte bewährte Verfahren der invasiven Therapie zur Verfügung. Bei Betrachtung der Langzeitprognose ist eine rein medikamentöse Therapie der invasiven Therapie (PCI/CABG) unterlegen [2]. Die Wahl der Art der invasiven Therapie ist u. a. abhängig von den Komorbiditäten des Patienten, der linksventrikulären Funktion und insbesondere vom Koronarstatus. Die PCI-Techniken bei der Behandlung von Hauptstammstenosen, von chronischen Koronarverschlüssen und von verkalkten Läsionen sind in den letzten Jahren bedeutsam weiterentwickelt worden, sodass die PCI immer häufiger eine Option ist. Dennoch behält insbesondere bei der 3-Gefäßerkrankung und bei der komplexen Hauptstammstenose die Bypassoperation ihren Stellenwert [3]. Die Empfehlungen der Leitlinien bei der Wahl des invasiven Therapieverfahrens werden der Komplexität der Entscheidungsfindung gerecht und sind umfangreich mit Literatur hinterlegt. Wenn auch die Sterblichkeit in den vergangenen Jahren deutlich rückläufig ist, bleibt die chronische ischämische Herzkrankheit in Deutschland weiterhin Todesursache Nummer 1. Der plötzliche Herztod hat in 80 % eine Koronarproblematik als Ursache. Wir stimmen den Kollegen vollkommen zu, dass eine optimale Behandlung dieser Patienten durch die Zusammenarbeit aller Ärztinnen und Ärzte in den unterschiedlichen Versorgungseben erfolgen muss.

Für die Autoren: Prof. Dr. med. Thomas Voigtländer

Die Literaturhinweise finden Sie am Ende dieser Seite unter „Artikel herunterladen“ in der PDF-Version dieses Artikels.

Hier findet eine Aus- und Abgrenzung statt

Leserbrief zum Titel „Gemeinsam einfach besser – Die Chirurginnen e. V. gegründet “, Hessisches Ärzteblatt 06/2021, S. 354

Gemeinsam einfach besser... so lautet das Motto der groß aufgemachten Vereinsgründung der „Chirurginnen e. V.“ im Hessischen Ärzteblatt. Toll!

Stellen Sie sich vor, an gleicher Stelle wäre ein Chirurgen-Verein ins Leben gerufen worden, der sich ausschließlich an männliche Kollegen richtet und sich um deren Belange kümmert. Ich bin sicher, dies hätte sämtliche Gleichstellungsbeauftragte auf den Plan gerufen. Eine Empörungswelle sondergleichen wäre durch die hessischen Lande geschwappt. Gemeinsam, wie oben zitiert, meint eben nicht gemeinsam, sondern Ausgrenzung. Während – 50 Jahre nach Alice Schwarzer – überall der Ruf nach Teilhabe, nach Mitgestaltung und Mitbestimmung laut wird, findet hier eine Aus- und Abgrenzung statt, die meines Erachtens nicht mehr zeitgemäß ist.

Dass man der Berichterstattung über die Vereinsgründung im Hessischen Ärzteblatt einen so großen Raum lässt, zeigt wie viele andere Dinge auch (vgl. Leserbriefe zur „genderneutralen Sprache“, Klimaschutzdebatten usw.), dass es mehr und mehr um eine bestimmte ideologische Richtung geht. Eine kleine Gruppe von „Aktivisten“ versucht, der schweigenden Mehrheit eine bestimmte Sprachregelung, eine Beschäftigung mit bestimmten Themen – kurzum ein bestimmtes Denken aufzuoktroyieren. Eine solche versuchte Bevormundung der Leserschaft halte ich in akademischen Kreisen für nicht akzeptabel und dies führt – zumindest bei mir – zu einer zunehmenden Entfremdung zum Hessischen Ärzteblatt.

Dr. med. Lothar Matzanke, Seligenstadt