„Es braucht mehr Mut zum wirksamen Umbruch und zu neuem zukunftsorientiertem Denken!“
Erinnern Sie sich an den Gesundheitsminister Horst Seehofer in den 1990er-Jahren? Er war im 4. Kabinett Kohl der verantwortliche Konstrukteur der gedeckelten Sektorenbudgets ambulant und stationär. An Gesundheits- und Sozialministerin Ulla Schmidt im Rot-Grünen Kabinett Schröder erinnert sich manche oder mancher eher? Sie hat 2002 quasi im Blindflug die Türen zum „Gesundheitsmarkt“ und der erdrutschartigen finanz- und renditegetriebenen Kommerzialisierung und Privatisierung aufgestoßen. Das Credo aus 2001 liest sich verkürzt wie folgt – schon damals mit hörbarem Änderungsversprechen zur Sektorenbildung und den damit verknüpften Budgetfesseln:
...Wir werden die Systeme der integrierten Versorgung stärken, eine bessere Abstimmung zwischen stationärem, teilstationärem und ambulantem Bereich ermöglichen und das Honorar- bzw. Entgeltsystem entsprechend ausrichten. In der ambulanten Versorgung können neben den freiberuflichen Ärztinnen und Ärzten Gesundheitszentren zusätzlich tätig werden. (...) Für die Behandlung der großen Volkskrankheiten und die strukturierten Behandlungsprogramme erfolgt die notwendige Qualitätssicherung auf der Basis allgemein anerkannter medizinisch-wissenschaftlicher und pflegerischer Standards. (...) Die integrierte Versorgung chronischer Krankheiten wird Regelversorgung. (...) Die Krankenkassen erhalten die Möglichkeit, Anreiz- und Bonussysteme zu etablieren.
Hat man die kleinteilig vorgestellten Ziele in den folgenden 20 Jahren unter den Folgeministern Rösler (FDP), Bahr (FDP), Gröhe (CDU) und Spahn (CDU) wenigstens ansatzweise erreicht? Offenbar nicht. Denn in den 2021er Wahlprogrammen der im Bundestag agierenden Parteien steht Dasselbe für die kommende Wahlperiode bis 2026. Zum Leid-Thema der getrennt und meist gegeneinander agierender Versorgungssektoren ist hier auszugsweise zitiert:
CDU/CSU (Regierungskoalition): „Gute Medizinische Versorgung unabhängig von Alter, Wohnort und Geldbeutel ist Anspruch und Ziel. (…) Vernetzte Zusammenarbeit der einzelnen Akteure.“
SPD (Regierungskoalition): „Neuordnung der Rollenverteilung zwischen ambulantem und stationären Sektor/Überwindung der Sektorengrenzen“. Bündnis 90/Die Grünen (Opposition): „Förderung von Gesundheitsregionen mit enger Anbindung an die Kommunen, übergreifende Planung von stationären und ambulanten Angeboten. FDP (Opposition): „Konsequenter Abbau der künstlichen Sektorenbarriere zwischen dem ambulanten und dem stationären Versorgungsbereich. Die Linke (Opposition): „Sektorenübergreifende Versorgung und gleichmäßigere Verteilung der Arztsitze (Kriterien: kurze Wartezeiten, Altersgerechtigkeit, ÖPNV-Erreichbarkeit, Barrierefreiheit). AfD (Opposition): keine Aussage.
Die Verantwortlichen in Bund und Ländern sind offenbar in den gesetzlich verfestigten Strukturhemmnissen und rein formalen, vordergründigen Gedankenwelten festgefahren. Die seit zwei Jahrzehnten immer wieder angesagte Korrektur findet nicht statt. Das – gebetsmühlenartig vorgetragene – Zuschüttenwollen effizienzhemmender Gräben in den Strukturen vernebelt das Handlungsdefizit. Es braucht offenbar deutlich mehr Mut zum wirksamen Umbruch und neues zukunftsorientiertes Denken!
Ein über Klein-Klein hinausreichendes Hauptziel in der Gesundheitspolitik zu formulieren ist nötig: gute gesundheitliche, den Menschen ganzheitlich dienende Daseinsvorsorge. In einer Welt von wirtschaftlichen Umbrüchen, Flüchtlings-, Kriegs-, Pandemie- und schon real gewordenen klimabedingten Gesundheitskrisen und sich rasant wandelnden Lebenswirklichkeiten der Bürgerinnen und Bürger muss Vorsorge für gute gesundheitliche Lebensbedingungen und Versorgung Vorrang haben. Die Wucht der Veränderungen ist groß, die Bewältigungsprozesse müssen kurzfristiger als bisher analysiert und immer wieder neu justiert werden.
Dazu gehört ein Konsens der Akteure zu übergreifenden, neuen Sichtweisen: z. B. zur planetary-health-Strategie, für nachhaltige Pandemievorsorge, zum gesundheitlichem Klimaschutz und zu einem Commitment für schnelle Klimaneutralität, auch in den medizinischen Institutionen, Klinken und Praxen. Daraus sollten tragende gesundheitspolitische Leitmotive für eine effiziente Neuaufstellung auch der medizinischen Fachberufe und ihrer Rahmenbedingungen abgeleitet werden. Es braucht dazu die Einbindung neuer wissenschaftlicher Expertise und stringent geänderte Ressourcenverteilungen. Technische, bürokratische, wirtschaftliche Umsetzungen haben sich demgegenüber dienend aufzustellen. Derzeit dominieren zu oft Interessen kommerziell aufgestellter Systembetreiber auf Kosten der solidarischen Versicherten-Gemeinschaft und damit zu Lasten der Ressourcen für den Ausbau guter Daseinsvorsorge. Die Renditeziele halten diese Player im „Gesundheitsmarkt“, nicht das Ringen um optimale gesundheitliche Fürsorge.
Für einen Umbruch zu solchem Denken sind robuste Impulse in den Bundestags-Wahlprogrammen für 2021 zu wenig erkennbar. Ärztinnen und Ärzte sollten trotzdem kritisch und motiviert im Schlusswahlkampf auf jegliches ausbaufähige Potenzial für bessere und zukunftstragende Gesundheitspolitik achten. Ihr Kreuz bei der Wahl ist sehr gefragt und muss auf die überfällige Neuorientierung im Gesundheitswesen mehr Druck entfalten!
Dr. med. H. Christian Piper, Präsidiumsmitglied der Landesärztekammer Hessen