Prof. Kai Zacharowski zum Projekt „Envision“ und den Sandman.IC
Envision (zu Deutsch „Sichtbarmachen“) ist der Name eines Projekts, das auf die Initiative von Prof. Dr. med. Dr. phil. Kai Zacharowski, Universitätsklinikum Frankfurt, zurückgeht und die medizinische und technologische Expertise mehrerer europäischer Länder vereint. Mit Hilfe künstlicher Intelligenz (KI) will man die Versorgung von Covid-19-Patientinnen und -Patienten entscheidend verbessern.
Im Rahmen von „Envision“ entwickeln Sie das digitale Instrument Sandman.IC, das eine Ganzzeitbeobachtung von an Covid-19 erkrankten Patienten ermöglichen soll. Wie funktioniert das?
Prof. Kai Zacharowski: Der Sandman.IC ist eine Applikation auf dem iPad und beinhaltet die Funktionsweise eines typischen Patienten-Management-Systems sowie verschiedener Machine-Learning-Modelle. Er soll die Entscheidung für eine optimale Behandlung von schwer erkrankten Covid-19-Patienten auf der Intensivstation (ICU) unterstützen. Eine bessere Vorstellung davon, wie der Sandman.IC funktioniert, kann die Schilderung eines vereinfachten Behandlungsablaufs vermitteln:
Nachdem ein Patient mit schweren Covid-19-Symptomen in den Intensivbereich verlegt beziehungsweise direkt aufgenommen worden ist, wird er zunächst an die überlebensnotwendigen Medizintechnikgeräte, wie u. a. Beatmungsgerät und Vitalmonitor, angeschlossen. Diese Gerätschaften werden zusätzlich mit dem Sandman.IC verbunden, der sämtliche aufgenommenen Gesundheitsparameter der Patienten direkt übernimmt und sie in pseudo-anonymisierter Form temporär auf dem iPad abspeichert.
Ebenso kann das medizinische Personal Daten manuell in den Sandman.IC eingeben (z. B. verschiedene Laborwerte oder anderweitige Stammdaten des Patienten), was der Funktionsweise eines typischen Patienten-Management-Systems nahekommt. Die aufgenommenen beziehungsweise eingegebenen Daten werden vom Sandman.IC regelmäßig mithilfe der Machine-Learning-Modelle analysiert. Detektiert der Sandman.IC eine Auffälligkeit bei den Vitalparametern des Patienten, wird ein Alarm ausgelöst. Automatisch werden daraufhin passende Handlungsempfehlungen generiert, die das medizinische Personal bei der optimalen Behandlung unterstützen sollen.
Der Alarm ist in der App als Ampelsystem integriert. Hierbei bedeutet „Grün“, dass der Patient sich aktuell und in der nahen Zukunft in einer stabilen Verfassung befindet. Schaltet die Ampel auf „Gelb“, droht sich der Zustand des Patienten zu verschlechtern. „Rot“ signalisiert höchste Dringlichkeit: Das Leben des Patienten ist in Gefahr. Diese Alarme werden dann zum weiteren Training und zur Optimierung der Vorhersagemodelle vom Sandman.IC wieder ausgewertet. So kann die KI iterativ durch jede weitere Behandlung eines Covid-19-Patienten optimiert werden, um genauere Handlungsempfehlungen zu erzielen.
Wie kann die Sicherheit der personenbezogenen Daten der Patienten gewährleistet werden?
Zacharowski: Die Sicherheit ist bei jedem Forschungsprojekt mit Patientenbezug eine brisante Thematik. Für das Envision-Team war es essenziell, dass die Daten vollständig nach den Richtlinien der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) und bei den europäischen Partnern* nach dem General Data Protection Regulation (GDPR) sowie eventuell vorherrschenden länderspezifischen Regularien verarbeitet werden. Daher wurde schon seit Projektstart eng mit Datenschutzexperten zusammengearbeitet. Wir haben uns für ein Drei-Wege-Anonymisierungs-Konzept entschieden, bei dem die Daten pre-anonymisiert, pseudo-anonymisiert und schlussendlich vollständig anonymisiert werden. Die Pre-Anonymisierung und Pseudo-Anonymisierung finden direkt bei der Datenaufnahme durch den Sandman.IC statt: Dabei wird der Name des Patienten durch eine ID ersetzt und einige der wichtigsten Stammdaten des Patienten werden in Kategorien unterteilt (Gewicht, Alter, Größe etc.).
Natürlich müssen die pseudo-anonymisierten Daten trotzdem noch vollständig anonymisiert werden, damit keinerlei Bezug zu einzelnen Patienten hergestellt werden kann. Hierzu werden die Daten der Patienten erst auf eine gesicherte Cloud gesendet. Dort findet mit einem gezielten Algorithmus die eigentliche Anonymisierung nach der K-Variante statt (K-Anonymität). Nach vollständiger Anonymisierung können die Daten frei verarbeitet werden. Zur späteren KI-Optimierung werden die Daten nach vollständiger Anonymisierung auf eine Big-Data-Cloud der „European Society of Anaesthesiology and Intensive Care” (ESAIC) abgespeichert und von dort aus verwendet.
Mithilfe künstlicher Intelligenz soll der Sandman.IC Handlungsempfehlungen für die Therapie anzeigen. Was kann diese KI leisten?
Zacharowski: Die Vorhersagemodelle des Sandman.IC werden während der Projektlaufzeit von Envision trainiert. Hierfür werden sämtliche behandlungsrelevanten Parameter aufgenommen, welche unter anderem die Informationen über die Vitalparameter, verabreichte Medikationen, Diagnosen und verschiedene medizinische Prozeduren beinhalten. Die Covid-19-Erkrankung weist derzeit noch viele Unbekannte auf. Daher ist es notwendig, so viele Messdaten wie möglich für die KI aufzunehmen, um bessere Machine-Learning-Modelle zu entwickeln. Möglicherweise gibt es auch schon erfolgversprechende Therapieansätze von Kliniken in Europa, die zu wenig bekannt sind und daher nicht allgemein angewendet werden. Deshalb sollen Informationen zwischen den parallel laufenden Sandman.ICs geteilt und die effizientesten Therapiemethoden herausgefiltert werden.
Wie werden die Daten für die KI strukturiert?
Zacharowski: Für ein effizientes Training der KI ist zwar eine hohe Datenmenge durchaus relevant, jedoch nicht der entscheidende Faktor. Entscheidend ist, dass die entsprechende Datenqualität stimmt. Zum einen sollten definierte Endpunkte bei der Patientenuntersuchung hinterlegt werden (Vorerkrankungen, Diagnosen, Medikamenteneinnahme etc.), zum anderen muss auch eine große sozioökonomische Varietät der Patienten vorliegen. An dieser Stelle gilt, je höher die Qualität der gesammelten Daten ist, desto umfangreicher und passender werden die Handlungsempfehlungen aussehen. Daher muss die Schulung des medizinischen Personals auf die Bedürfnisse der individuellen klinischen Partner* eingehen, um einen definierten Qualitätsstandard während der Projektlaufzeit von Envision einzuhalten.
Sie arbeiten und forschen derzeit mit insgesamt 23 verschiedenen Partnern* aus 13 verschiedene Ländern und 13 Kliniken europaweit zusammen. Wie sieht diese Zusammenarbeit aus?
Zacharowski: Aufgrund der großen Zahl unterschiedlicher Partner aus verschiedenen Bereichen der Gesellschaft in ganz Europa ist Envision ein ebenso komplexes wie herausforderndes Projekt. Die allgemeine Koordination des Projekts sowie das technische Projektmanagement wird von dem Team am Universitätsklinikum in Frankfurt geleistet. Hier laufen alle Fäden bzw. Work Packages von Envision zusammen: Das multi-disziplinarische Team, bestehend aus Ärzten, Statistikern, IT-Spezialisten und Ingenieuren, koordiniert zum Beispiel einerseits die Umsetzung der technischen Anforderungen an Sandman.IC mit den Projektpartnern, andererseits werden auch die klinischen Partner bei der Erfüllung der rechtlichen und ethischen Pflichten unterstützt.
Die Entwicklung des Sandman.ICs erfolgt ebenfalls in engem Austausch zwischen den klinischen und technischen Partnern. Dabei ist es wichtig, dass der Projektkoordinator beide Seiten der oftmals gleichen Medaille versteht. Schlussendlich steht die Patientenversorgung beim Projekt Envision im Mittelpunkt – und als höchstes Gut wird die Reduzierung der Sterblichkeitsrate von Patienten mit Covid-19- Erkrankung angesehen. Obwohl die große Anzahl und Vielfältigkeit der beteiligten Partner großes Potenzial für den Sandman.IC versprechen, stellt die Koordination der Wünsche durchaus eine komplexe Herausforderung dar.
Konnten bereits verbesserte Behandlungsoptionen erarbeitet werden?
Zacharowski: Aktuell werden bei allen klinischen Partnern* die Sandman.IC-Prototypen installiert, sodass bei der derzeit laufenden vierten Welle jeder klinische Envision-Partner in der Lage ist, die Datenaufnahme mit hoher Datenqualität zeitnah durchführen zu können. Die Frage, wann wir optimalere Behandlungsoptionen erwarten können, hängt natürlich auch von der Anzahl der Patienten und damit von der zur Verfügung stehenden Datenmenge ab. Die ersten Ergebnisse zur Behandlungsoptimierung erhoffen wir uns zum Jahresende.
Welche Perspektiven ergeben sich daraus auch langfristig für die Therapie von Corona-Erkrankungen?
Zacharowski:Eines der großen Ziele, das nach dem Projektende von Envision verfolgt wird, ist die Modifikation bzw. Skalierbarkeit von Sandman.IC auf andere medizinische Bereiche und Krankheiten. Der Sandman.IC soll künftig neben der Covid-19-Erkrankung auf andere und allgemeinere Krankheitsbilder Anwendung finden können. Unser Wunsch und unser Traum ist es, den Sandman.IC als universales Tool nicht nur im intensivmedizinischen Bereich, sondern auch in vielen anderen Sektoren zu etablieren. So soll der Sandman.IC als unverzichtbar für das medizinische Personal im Arbeitsalltag gelten. Unsere „enVision“ ist, einen für jeden Mediziner erschwinglichen „kleinen Helfer” zu entwickeln und zukünftig das gesamte europäische Gesundheitssystem mit der Unterstützung durch künstliche Intelligenz zu revolutionieren. Wichtig: Der Sandman.IC soll zu jeder Zeit lediglich als Tool behandelt werden und niemals die Kompetenz und Entscheidungshoheit des medizinischen Personals ersetzen.
Welche andere Krankheiten haben Sie bei der künftigen Anwendung des Sandman.IC im Blick?
Zacharowski: Grundsätzlich werden im Rahmen der Datenerfassung Vorerkrankungen, Komplikationen während der Behandlung, Stammdaten sowie die Vitalparameter des Patienten erfasst. Die mit den Daten von Covid-19-Patienten trainierten KI-Modelle sollen dabei optimale Behandlungsempfehlungen für eben diese Erkrankung liefern. Die eingerichtete technische Struktur aus Applikation, Datenübertragung, und Anonymisierungsprozess wiederum ist jedoch nicht nur auf die Covid-19-Erkrankung beschränkt.
Patientendaten anderer Erkrankungen können ebenso vom Sandman.IC aufgenommen und weiterverarbeitet werden. Dabei stehen vor allem jene Krankheiten im Fokus, bei denen aktuelle Richtlinien und Leitfäden noch zu wenig befriedigenden Ergebnissen führen. Grundsätzlich gilt allerdings, dass vor allem Krankheiten in Frage kommen, an denen eine große Anzahl von Patienten erkrankt. Die KI-Modelle können genauere Behandlungsempfehlungen erst dann treffen, wenn die Berechnungen auf Grundlage einer großen Datenbasis erfolgen.
Was bedeutet KI für die Zukunft der Medizin?
Zacharowski:Derzeit wird künstliche Intelligenz im weltweiten Gesundheitssystem nur sehr vereinzelt eingesetzt. In vielen Bereichen des Gesundheitswesens steckt sie noch in den Anfängen, da die Digitalisierung oft eher langsam voranschreitet und die Akzeptanz der Gesellschaft für KI erst am Wachsen ist. Wir sind aber dennoch fest davon überzeugt, dass in nicht mehr so weiter Zukunft die technischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für einen breiteren Einsatz von KI erreicht sind, sodass KI-Systeme in jeglichen Sektoren ihre Anwendung finden werden.
Richtig eingesetzt, bieten KI-Systeme unvorstellbare Möglichkeiten innerhalb der medizinischen Grundversorgung, ob nun beispielsweise bei der Erkennung verschiedener Krankheitsbilder, der korrekten Verabreichung von Pharmazeutika oder auch als Entscheidungsunterstützung bei der Behandlung von Patienten. Eine ausgereifte und mit Bedacht eingesetzte KI wird das weltweite Gesundheitssystem revolutionieren.
Interview: Katja Möhrle
Team Envision des Universitätsklinikums Frankfurt am Main
Das Forschungsteam am Universitätsklinikum Frankfurt/Main: Dr. med. Benjamin Friedrichson, MHBA, und Dr. med. Jan Andreas Kloka – Ärzte an der Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin und Schmerztherapie – unterstützen bei klinischen und ethischen Fragestellungen. Das Data-Scientist- und Statistiker-Team – Lea Grebe, Markus Ketomäki und Oliver Old – arbeitet mit den technischen Experten der Sandman.IC und KI zusammen. Die Koordinierung aller Arbeitsabläufe sowie Ansprechpartner übernimmt Dr. Benjamin Ginski. Die Finanzen obliegen Dr. rer. nat. Patrick Booms.
Partner Envision
an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, DE
- app@work, DE
- Intelligent Data Analytics, DE
- Löwenstein Medical Innovation, DE
- accelopment Deutschland/Schweiz
- Central Hospital of Southern Pest, HU
- Semmelweis Egyetem, HU
- Centro Hospitalar e Universitario de Coimbra E.P.E., PT
- European Society of Anaesthesiology and Intensive Care, BE
- Institut Catala de la Salut, ES
- Lietuvos Sveikatos Mokslu Universiteto Ligonine Kauno Klinikos, LT
- Tampere University, FI
- Universita degli Studi di Perugia, IT
- Universita degli Studi di Torino, IT
- Universitair Medisch Centrum Groningen, NL
- Universitatea de Medicina si Farmacie Carol Davila din Bucuresti, RO
- Spitalul Clinic Judetan De Urgenta Pius Brinzeu Timisoara, RO
- Univerzitetni Klinicni Center Ljubljana, SI
- Univerzitetni Klinicni Center Maribor, SI
- University College London, UK
Univ.-Prof. Dr. med. Dr. phil. Kai Zacharowski, ML FRCA (Foto), ist seit 2009 Ordinarius und Direktor der Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin und Schmerztherapie am Universitätsklinikum Frankfurt. Seine Forschungs- und Lehrtätigkeit sowie sein klinisches Interesse gelten sowohl klinischen als auch grundlegenden Aspekten der Patientensicherheit, dem Patient Blood Management, der angeborenen Immunität und deren Erkrankungen, der kardiovaskulären Medizin, der Intensivmedizin sowie „Big Data“ in der Anästhesie und Intensivmedizin. Seit 2016 ist er Mitglied der ältesten Akademie der Wissenschaften der Welt (Leopoldina). Zwischen den Jahren 2020 und 2021 fungiert er als Präsident der Europäischen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (ESAIC).
* Die klinischen und technischen Partner des Projektes Envision sind in der Online-Ausgabe aufgeführt.