Bad Nauheimer Gespräch mit Professor Dieter Riemann

„Ein geringes Maß an Schlaflosigkeit ist nicht ohne Nutzen dafür, den Schlaf richtig schätzen zu lernen und außerdem sein Dunkel ein wenig aufzuhellen“, behauptete der französische Schriftsteller Marcel Proust. Wenn Schlafstörungen allerdings häufig auftreten, man sich im Bett hin und her wälzt, in Gedankenspiralen verfängt und am nächsten Tag wie gerädert fühlt, wird Insomnie (Schlaflosigkeit) zu einem Problem. Dass das Thema viele bewegt, zeigten die hohen Einschaltquoten zu dem Bad Nauheimer Gespräch „Schlaf, Schlaflosigkeit und psychische Erkrankungen“ am 11. März mit dem Referenten Prof. Dr. rer. soc. Dipl.-Psych. Dieter Riemann vom Universitätsklinikum Freiburg. Pandemiebedingt fand die in Zusammenarbeit mit der Akademie für Ärztliche Fort- und Weiterbildung der Landesärztekammer Hessen organisierte Veranstaltung, in deren Verlauf sich 177 Interessierte zuschalteten und mit vielen Fragen beteiligten, online statt.

Vor einem Jahr sei sie „in die großen Fußstapfen“ ihrer Vorgängerin Dr. med. Ingrid Hasselblatt-Dietrich getreten, erzählte Prof. Dr. med. Ursel Heudorf, 1. Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Bad Nauheimer Gespräche und Moderatorin des Abends, in ihrer Begrüßung und erinnerte daran, dass die Veranstaltungsreihe inzwischen auf eine 50-jährige Geschichte zurückblicken kann. Als Schlafforscher, Abteilungsleiter für klinische Psychologie und Psychophysiologie am Universitätsklinikum Freiburg, Gastprofessor an der Universität Oxford und Herausgeber des Journal of Sleep Research stellte sie Professor Riemann vor, der sich vor dem Hintergrund eines üppig bestückten Bücherregals live in das Bad Nauheimer Gespräch einblendete. Anfangs gelegentlich von technischen Übertragungsschwierigkeiten unterbrochen, widmete er sich in seinem Vortrag der Beziehung zwischen Insomnie und psychischen Erkrankungen bis hin zu Vorbeugung und Behandlung von Schlaflosigkeit.

Insomnie und Depression

Gibt es einen Zusammenhang zwischen Schlaflosigkeit und Depression? Insomnie begleite Menschen mit Depressionen in hohem Maße, stellte Riemann fest. Bis heute sei die von Emil Kraeplin 1909 in dem „Lehrbuch Psychiatrie“ hergestellte Verbindung zwischen Melancholie und Schlaflosigkeit prägend. „Schlafstörungen gelten nach wie vor als ein Kriterium für Depression.“ Was die Häufigkeit typischer Symptome bei Depressionen betreffe, stehe Insomnie mit 100 % an erster Stelle. Doch die Zusammenhänge seien zweidimensional, so Riemann. Denn das eine könne zum anderen führen: Schlaflosigkeit zur Depression und vice versa.

Einführung: Schlafphasen

Wie unterscheidet sich das Schlafverhalten guter und schlechter Schläfer? Schlaf bestehe aus verschiedenen Phasen – Leichtschlafphasen, Phasen mitteltiefen Schlafes, Tiefschlafphasen und der sogenannte REM- Schlaf (REM steht für Rapid Eye Movement), bei denen im Gehirn zahlreiche Verarbeitungsprozesse stattfinden und die sich in der Nacht mehrmals wiederholen, erklärte Riemann. Die 1953 entdeckte REM-Phase sei durch schnelle Augenbewegungen bei geschlossenen Lidern gekennzeichnet, begleitet von einem verringerten Tonus der Skelettmuskulatur und einem spezifischen Aktivationsmuster im EEG. Beobachtungen und Messungen von Schlafenden hätten gezeigt, dass sich guter Schlaf durch die ungestörte Abfolge, das heißt den zyklischen Abstand der REM-Phasen auszeichne. Bei depressiven Patienten seien die Abstände zwischen den Schlafphasen dagegen unregelmäßig, der Tiefschlaf reduziert und der REM-Schlaf vorverlagert.

Biomarker gefunden?

„Die beobachtete Vorverlagerung des REM-Schlafs war eine Stimulanz für die Forschung“, sagte Riemann. Denn man habe geglaubt, einen Biomarker gefunden zu haben. Seither unterdrücken 90 % aller Antidepressiva den REM-Schlaf. „Neu entdeckte Veränderungen im Gehirn konnten zeigen, dass es Neuronengruppen gibt, die im leichten Schlaf, und solche, die im Tiefschlaf aktiv sind“, führte Riemann weiter aus. So werde in dem Ende der 1970er-Jahre entwickelten Robson/Mc Carley-Modell deutlich, dass der Übergang von Wachheit zu Schlaf mit auffälligen Veränderungen der neuronalen Aktivität einhergeht.

Schlaf und Schlaflosigkeit manifestierten sich bei depressiven Menschen deutlich, fuhr der Referent fort und überraschte mit folgender Erkenntnis: Wenn depressive Patienten eine ganze Nacht über wach blieben, führe dies dazu, dass ihre Stimmung am nächsten Morgen gut sei. „Der Mensch ist tagaktiv, nicht nachtaktiv“, stellte Riemann fest. Man schlafe umso tiefer, ja länger man wach sei. Dies lasse sich auch im EEG nachweisen. Warum sich der Schlafentzug für eine Nacht bei depressiven Menschen positiv auswirke, wisse man nicht, räumte Riemann ein. „Es ist ein absolut paradoxer Effekt.“ Tatsächlich wirke sich Schlafentzug auf längere Sicht allerdings auch bei Menschen mit Depressionen negativ aus.

Neue Erkenntnisse

Die Erkenntnisse zu den REM-Phasen entsprachen der Studienlage bis zum Ende der 1980er Jahre. „1992 kam dann der Rückschlag“, sage Riemann. In einer Meta-Analyse zum Schlaf sei untersucht worden, wie häufig früher REM-Schlaf bei verschiedenen psychischen Störungen auftrete. Mit dem Ergebnis, dass sich die Euphorie, den Marker einer Krankheit gefunden zu haben, abgeschwächt habe. Alle 90 bis 100 Minuten werde das Gehirn im Schlaf hochgefahren. Die REM-Phase sei die Zeit der Träume und wichtig für die Verarbeitung positiver und negativer Emotionen. Bei Depressiven sei diese Verarbeitung gestört.

Zur REM-Schlaf-Erlebnisverarbeitung zeigte Riemann einen Film aus dem Schlaf­labor. Darin vollführt ein schlafender Patient ruckhafte, heftige Bewegungen im Bett und spricht Unverständliches. „Man dachte zunächst, dies sei ein seltenes Phänomen, tatsächlich aber tritt es häufiger auf“, kommentierte Riemann. „Und zwar meistens bei Männern über 60.“ Es handele sich um einen Prädiktor dafür, in den nächsten zehn Jahren neurodegenerativ zu erkranken.

Was kann der Schlaf?

Schlaf spart Energie, ist wichtig für das Gedächtnis, für die Informationsverarbeitung und das Lernen. Wenn zwischen Lernen und Abruf der erlernten Inhalte geschlafen werde, funktioniere das Gedächtnis weitaus besser als ohne Schlaf, fügte Riemann erklärend hinzu. Von nächtlichem Lernen riet er dagegen ab: So sollten mindestens zwei bis drei Stunden „Pufferzone“ zwischen Lernen und Schlafen liegen. Lernen im Schlaf funktioniere jedoch nicht: „Lernen ohne Anstrengung bleibt ein Wunschtraum.“

Schlaf kann noch mehr: In den USA hätten Tierversuche gezeigt, dass er auch als „Müllabfuhr des Gehirns“ fungiere. So werden beispielsweise die für Alzheimer verantwortlichen Beta-Amyloide während des Schlafens abtransportiert. „Das bedeutet, dass die Gefahr der Demenz- Entwicklung durch mangelnden Schlaf langfristig steigt.“ Einen klaren Zusammenhang sah Riemann zwischen Schlaf und psychischer Gesundheit.

Gene, Persönlichkeit und Stress

Nach dem 3-Faktoren-Insomnie-Modell von Spielman (3-P-Modell) werde Schlaflosigkeit durch Gene, Persönlichkeitsstruktur, akuten Stress, beispielsweise am Arbeitsplatz oder in der Partnerschaft, hervorgerufen. Während stressbedingte Schlafstörungen meist vorübergehender Natur seien, zählten die Konzentration auf Schlaflosigkeit und dysfunktionale Überlegungen wie „Ich schlafe so schlecht! Drehe ich deshalb irgendwann durch?“ zu den aufrecht erhaltenden Faktoren. Wie viel Schlaf braucht der Mensch eigentlich? Laut Riemann benötigen Erwachsene bis 65 Jahren täglich zwischen sechs und acht Stunden Schlaf.

Allerdings könne die Wahrnehmung der eigenen Schlaflosigkeit täuschen, sagte der Referent und zeigte exemplarisch einen Film aus dem Schlaflabor: Während der schlechte, sich häufig im Schlaf hin und her werfende Schläfer anschließend subjektiv der Meinung war, zwei Stunden kürzer geschlafen zu haben, als der ruhig daliegende gute Schläfer, betrug die Differenz der Schlafdauer beider Probanden tatsächlich nur 25 Minuten.

Grübeln statt Träumen

Allerdings existieren eindeutige Unterschiede zwischen guten und schlechten Schlafenden. Bei Menschen, die unter Insomnie litten, beobachte man viele kurze Aufwachvorgänge, die zu einem instabilen REM-Schlaf führten, erläuterte Riemann. Da es sich bei dem REM-Schlaf um einen sehr aktiven Gehirnvorgang handele, sei die Hypothese aufgestellt worden, dass Menschen mit Insomnie im REM-Schlaf nicht viel träumten, sondern grübelten.

„Wir haben ein aktivierendes System und ein Schlafsystem im Gehirn“, sagte Riemann. „Bei Insomnie gelingt es nicht, sich vollständig im Schlaf zu halten.“ Gibt es einen Zusammenhang zwischen schlechtem Schlaf und Hypertonie? Ja, Schlaflosigkeit sei ein Risikofaktor für Bluthochdruck und umgekehrt, so der Referent. Ob es wichtig sei, jede Nacht acht Stunden zu schlafen, lautete eine Frage aus dem Zuschauerkreis. Die acht-Stunden-Ideologie sei falsch, entgegnete Riemann. „Gradmesser ist vielmehr, wie man sich fühlt.“

Schlafen Durchschläfer besser?

Auch gut Schlafende würden nachts wach, stellte Riemann klar. „Aber sie bekommen das in der Regel nicht mit.“ Die Länge des Schlafs sei übrigens auch eine Frage des Alters. So sei es etwa bei 70- oder 80-Jährigen überhaupt kein Problem, nachts zwei oder dreimal wach zu werden. Werde die Kontinuität des Durchschlafens dagegen häufig gestört, müsse Schlaflosigkeit möglicherweise als etwas Übergreifendes betrachtet werden, sagte Riemann. Eine Metanalyse seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter habe gezeigt, dass Insomnie auch ein unabhängiger Prediktor für psychische Erkrankungen, darunter Schizophrenie, sei.

Was hilft gegen Insomnie?

Unter dem Hinweis auf „Schlafhygiene“ beantwortete Riemann die Frage nach Vorbeugung und Behandlung von Insomnie mit einem ganzen Katalog von Maßnahmen: Keinen Kaffee mehr nach Mittag, Alkohol weitgehend vermeiden und keinesfalls als Schlafmittel einsetzen, keine schweren Mahlzeiten am Abend zu sich nehmen, regelmäßige körperliche Aktivität, jedoch keine körperliche Anstrengung vor dem Zubettgehen und ein einfaches persönliches Einschlafritual. Wichtig sei, erst dann zu Bett zu gehen, wenn man müde sei, das Bett nur zum Schlafen und nicht etwa zum Lesen oder Fernsehen zu nutzen, tagsüber nicht zu schlafen und morgens stets zur gleichen Zeit aufzustehen.

Wie geht man mit dem gedanklichen Teufelskreis rund um Schlaflosigkeit um? Riemann riet zu Strategien: Aktuelle Probleme nicht mit ins Schlafzimmer nehmen, sondern präventiv tagsüber auf einem „Gedankenstuhl“ zurücklassen. Bei der Behandlung von Schlafstörungen sei eine kognitive Verhaltenstherapie erste Behandlungsoption. Kurzfristig könnten Schlafmittel eingesetzt werden, allerdings erzeugten sie keinen physiologischen Schlaf. Antidepressiva wiederum unterdrückten den REM-Schlaf. „Alles nicht ideal. Die Lösung liegt nicht in Medikamenten, sondern in Schlafhygiene“, bekräftigte Riemann. Zur Entspannung empfahl er u. a. progressive Muskelentspannung, autogenes Training, Achtsamkeitstraining und Meditationsübungen.

Katja Möhrle