Prof. Dr. med. Herbert Lewin (1899–1982)
Der Gynäkologe Herbert Lewin engagierte sich sozialmedizinisch und sozialpolitisch, bis die Nationalsozialisten sein berufliches Wirken und sein privates Leben zerstörten. Nach 1945 versuchte der Holocaust-Überlebende, sich ein neues Leben aufzubauen. Doch der Schatten des Nationalsozialismus war lang: Seine Berufung an die Städtische Frauenklinik in Offenbach am Main war vom ersten großen antisemitischen Skandal in der Bundesrepublik Deutschland überschattet.
Studium und erste Praxis
Am 1. April 1899 wurde Herbert Lewin als erstes von vier Kindern einer jüdischen Familie in Schwarzenau (Czerniejewo) in der Provinz Posen (Poznania) geboren. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges begann Lewin zunächst ein Studium der Landwirtschaft und Staatswissenschaften, um den Agrarbetrieb des Vaters zu übernehmen. Doch wegen des massiven Antisemitismus bei den Gutsgrundbesitzern wechselte er zum Medizinstudium.
Lewin wusste genau, dass der ärztliche Beruf seit langem eine Nische bildete, in der jüdische Deutsche in gewissem Sinne geduldet waren, auch wenn eine wissenschaftliche Karriere kaum eine Chance hatte: Auch im deutschen Bildungsbürgertum grassierte ein aggressiver Antisemitismus. Die meisten jüdischen Ärzte dürften deshalb seit der Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung 1883 in einer eigenen Praxis gearbeitet haben; die versprach Selbstständigkeit und relative Freiheit von beruflicher Diskriminierung.
Das Medizinstudium absolvierte Herbert Lewin in Breslau, Leipzig und Berlin. Im Juni 1924 wurde ihm die ärztliche Approbation erteilt, im selben Jahr folgte die Promotion mit einer Arbeit über die Dermoidzyste im Wirbelkanal. Das praktische Jahr absolvierte Lewin 1923/24 im Berliner Städtischen Rudolf Virchow-Krankenhaus. Hier dürfte er die 1923 approbierte Alice Belgard kennen und lieben gelernt haben, die dort als Medizinal-Praktikantin tätig war. Zwei Jahre später heirateten die beiden und praktizierten ein paar Jahre unter einem Dach – zunächst im Wedding, dann in Wilmersdorf – sie als praktische Ärztin, er als Arzt für Frauenleiden.
Wunsch nach akademischer Laufbahn
Herbert Lewins Wunsch war allerdings vielmehr eine wissenschaftliche Laufbahn. Deshalb absolvierte er von 1924 an seine medizinische Weiterbildung am Physiologischen Institut der Universität Berlin, im Wöchnerinnenheim der Heilsarmee, in der Chirurgie des Krankenhauses Moabit sowie der Universitätsklinik, in der Gynäkologisch-Geburtshilflichen sowie Chirurgischen Abteilung des Jüdischen Krankenhauses. Im Januar 1931 erkannte der Gross-Berliner Aerztebund zuständigkeitshalber Lewin als Facharzt für Frauenkrankheiten und Geburtshilfe an. 1935 übernahm Lewin die gynäkologisch- geburtshilfliche Chefarztstelle einer Poliklinik der Jüdischen Gemeinde in Berlin- Mitte.
In der Weimarer Zeit engagierte sich der Sozialdemokrat Herbert Lewin zum Beispiel im Reichsverein Volksernährung für die im sozialen Elend Lebenden. Der Reichsverein versuchte in der Hungersnot zu helfen und gab beispielsweise Rezepte heraus mit dem Titel „Satt werden für wenig Geld“; dieser Verein schuf auch Volksküchen [1]. Lewin war der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit, Ernährungsnot und deren Auswirkungen auf die Gesundheit klar, wobei er vor allem die Mehrfachbelastung vieler Frauen durch Haushalt, Kinder und außerhäusliche Arbeit hervorhob [3]. Das Thema Ernährung beschäftigte den Wissenschaftler Lewin neben Forschungen über den Schwangerschaftsabbruch, Schwangerschaftsreaktionen oder die Hormonforschung immer wieder: Ernährung für die Schwangere oder allgemein für Krebspatienten, die Ernährung als Parameter sozialer Probleme, aber auch für Wohlstand. Den Zusammenhang zwischen Überernährung, insbesondere durch tierisches Eiweiß, und Auftreten der Präeklampsie/Eklampsie erkennend, empfahl Lewin eine eiweiß- und kochsalzreduzierte Kost [4].
Später, in seiner Ghetto- und KZ-Haft, holte ihn das Thema Ernährung wieder ein. Hier konnte er unfreiwillig die Auswirkungen von jahrelanger extremer Unterernährung und systematischer Aushungerung beobachten: Er stellte eine starke Zunahme der Tuberkulose fest, aber auch eine starke Abnahme von Thrombosen, Embolien oder bösartigen Geschwülsten [5].
Antijüdische Politik des NS-Staates
Herbert Lewins Wunsch nach einer wissenschaftlichen Karriere wurde 1932 das erste Mal enttäuscht, als er seine Habilitationsschrift über das Blutdruckproblem in der Gynäkologie und Geburtshilfe einreichte. Sie wurde kommentarlos abgewiesen. Antisemitische Gründe liegen hier nahe. Wenige Jahre später bestand paradoxerweise die Möglichkeit, dass das Jüdische Krankenhaus eigene Dozenten stellte, das heißt außer-universitäre Habilitationen möglich waren: 1936 war Herbert Lewin Privatdozent. Ein Jahr später wurde er auf die Chefarztposition der gynäkologisch-geburtshilflichen Abteilung des Israelitischen Asyls in Köln berufen.
Diese Erfolge täuschen jedoch eine friedliche Normalität vor. Die antijüdische Politik des NS-Staates durch gesetzliche Maßnahmen, Repressalien und Terror steigerte sich von Jahr zu Jahr, vernichtete die soziale Existenz und verursachte eine massive Verelendung aller deutschen Juden. Nicht-jüdische Patienten gingen nicht mehr in ein jüdisches Krankenhaus, Juden flohen aus Deutschland, sobald sie konnten. Das Israelitische Asyl befand sich zu dieser Zeit genau wie alle anderen jüdischen Einrichtungen in einer äußerst schwierigen Situation und war zu einer jüdischen Enklave geworden, in denen die verbliebenen jüdischen Patienten eine medizinische Versorgung erhielten.
Mit der 4. Verordnung zum Reichsbürgergesetz erschien dann der vermeintlich letzte Coup gegen jüdische Ärzte: „Bestallungen (Approbationen) jüdischer Ärzte erlöschen am 30.9.1938.“ Von einem Tag auf den anderen gab es keine jüdischen Ärzte mehr. Wer sollte nun aber kranke oder verletzte Juden medizinisch versorgen? Es bedurfte eines besonderen Konstruktes, das des „Krankenbehandlers“. Ende 1938 waren knapp 300 „Krankenbehandler“ von einst etwa 8.000 jüdischen Ärzten in Deutschland für mehr als 200.000 Juden, die zunehmend in die Zwangsarbeit gedrängt wurden, zugelassen. Einer der 17 Kölner „Krankenbehandler“ war Herbert Lewin [2].
Deportation in mehrere Konzentrationslager
Diese relative Sicherheit endete im Oktober 1941, als Herbert und Alice Lewin mit über 1.000 weiteren Juden von Köln in das Ghetto Litzmannstadt deportiert wurden. Alice Lewin überlebte diese Hölle, die sie durch mehrere Konzentrationslager führte, nicht. Sie wurde an einem bis heute unbekannten Tag und Ort ermordet. Herbert Lewin überlebte die Odyssee mehrerer Konzentrationslager und kehrte im Sommer 1945 in das völlig zertrümmerte Köln zurück.
Überlebender des Holocaust
Mit aller Kraft versuchte er, sich ein neues Leben aufzubauen. Er heiratete erneut und wurde Vater einer Tochter, und er wollte seine ärztlich-wissenschaftliche Karriere fortsetzen. Der ordnungsgemäße Weg bedeutete eine erneute Habilitation. Mit einer Arbeit über die Biologie der „Cyclushormone des Weibes“ erteilte ihm die Medizinische Fakultät der Universität Köln im Mai 1948 die Venia Legendi [1, 6]. Daraufhin wurde Lewin zunächst Chefarzt, dann Direktor der Frauenklinik des Stadtkrankenhauses Offenbach/Main. 1952 wurde er außerplanmäßiger Professor an der Frankfurter Universität, die Ernennung zum ordentlichen Professor zog sich bis 1965 hin, als er die Berufungs- und aus Altersgründen zugleich die Entpflichtungsurkunde erhielt [2].
Gesellschaftliches Engagement
Wenngleich Herbert Lewin mit Leib und Seele Arzt und Wissenschaftler war, so blieb auch Zeit für ein sozialpolitisch-religiös-gesellschaftliches Engagement: Er setzte sich für ein jüdisches Leben in Deutschland ein, war verschiedentlich Vorsitzender jüdischer Gemeinden und sogar Vorsitzender und später Stellvertreter des Zentralrats der Juden. Er gehörte verschiedenen deutsch-jüdischen und auch israelischen Vereinigungen an. Er setzte sich für den Bereich der Gesundheitsgesetzgebung wie auch der Krankenhausversorgung in Deutschland ein. Lewin erhielt Auszeichnungen und Anerkennung. Aber all dieses täuscht erneut Normalität nur vor.
Antisemitischer Skandal
Seine Berufung nach Offenbach war vom ersten großen antisemitischen Skandal in der Bundesrepublik überschattet: Direkt nach der Wahl durch den Offenbacher Magistrat wurde die Berufung Lewins abgelehnt! Da ein Protokoll nicht geführt worden war, erzwang das Ermittlungsverfahren gegen den Magistrat ein Gedächtnis-Protokoll.
Demnach soll Offenbachs Zweiter Bürgermeister Karl Kasperkowitz gesagt haben, Lewin würde mit den Ressentiments seiner Rasse und mit dem Rachegefühl des KZ’lers seine Arbeit antreten; Oberbürgermeister Johannes Rebholz habe gemeint, die Magistratsmitglieder würden sozusagen über das Schicksal der Offenbacher Frauen entscheiden.
Erst die Intervention der vorgesetzten Behörden und ein weltweiter öffentlicher Protest veranlassten den Offenbacher Magistrat, sein Votum zu korrigieren. Die Magistratsmitglieder mussten ihre Ämter und Mandate nicht niederlegen; lediglich die beiden Bürgermeister mussten ihren Dienst quittieren [1].
Herbert Lewin wurde also doch noch nach Offenbach berufen. Er sah dies als Wiedergutmachung an. Wir wissen nicht, was die Lewins angesichts dieses skandalösen Verhaltens gefühlt haben mögen, aber die unbewältigten Folgen des Nationalsozialismus zogen auch in das Privatleben der Lewins ein. Irma Lewin, ebenso Holocaustüberlebende, fand wie viele Überlebende keine Möglichkeit, mit ihren Erlebnissen fertig zu werden; sie war eine gebrochene Frau und starb am 4. Februar 1978 in ihrem 60. Lebensjahr.
Tochter Margerit Beate nahm sich gut drei Jahre später das Leben, erst 31-Jährig. Sie konnte das Wissen um das Schicksal ihrer Eltern offensichtlich nicht ertragen. Nach all den Schicksalsschlägen und Hürden, die Herbert Lewin immer wieder überwand, muss ihm der Verlust des einzigen Kindes endgültig das Herz gebrochen haben. Mittlerweile selbst im 83. Lebensjahr starb er am 21. November 1982, seine dritte Ehefrau Charlotte Auguste hinterlassend. Sein Grab befindet sich auf dem Alten Jüdischen Friedhof in Offenbach [2].
Schwere Erinnerungsarbeit
1986 gedachte die Öffentlichkeit Herbert Lewin zum ersten Mal, als die Kölner Haedenkampstraße, damals noch Sitz der Bundesärztekammer (BÄK) und Kassenärztlicher Bundesvereinigung, in Herbert-Lewin-Straße umbenannt wurde. Die Bundesärztekammer, von der Stadt Köln um Stellungnahme gebeten, leugnete die NS-Vergangenheit ihres ehemaligen Kammervertreters Karl Haedenkamp obstinat, der aber als überzeugter Nationalsozialist sehr wohl in die höhere Riege ärztlicher Standespolitik in der NS-Zeit gehörte.
BÄK-Präsident Prof. Dr. med. Karsten Vilmar (* 1930) protestierte in einem siebenseitigen Schreiben an die städtischen Verantwortlichen gegen die Umbenennung und nannte Haedenkamp einen hochverdienten Repräsentanten der deutschen Ärzteschaft [2]. Dieser jahrelange Prozess war symptomatisch für die Reaktion auf Versuche einer kritischen Auseinandersetzung mit der Medizin im Nationalsozialismus, die lange gegen eine Wand des Schweigens oder der Abwehr prallten [7].
Aber die Zeiten haben sich geändert: In Berlin gibt es den Herbert-Lewin-Platz, der Herbert-Lewin-Forschungspreis wird für Publikationen über die Rolle der Ärzteschaft im Nationalsozialismus ausgelobt, das Kölner Studierendenwerk befindet sich im Herbert-Lewin-Haus, auf dem Gelände des Offenbacher Sana Klinikums trägt das Gebäude des MVZ den Namen Herbert-Lewin-Haus.
PD Dr. phil. Rebecca Schwoch, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, E-Mail: r.schwoch@uke.de
Die Literaturhinweise finden Sie am Ende dieser Seite unter „Artikel herunterladen“ in der PDF-Version dieses Artikels.