Anfang April konnten wir im Deutschen Ärzteblatt interessante Berichte über Resilienz und Selbstschutz in der Pandemie lesen. Gerade Angehörige helfender Berufe haben oftmals einen mehr oder minder deutlichen Hang zur Selbstausbeutung einerseits und zur Überschätzung der eigenen Ressourcen andererseits. Dies betrifft Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte gleichermaßen. Eigentlich kann man sagen, dass ein nicht unerheblicher Teil dieser Berufsgruppen vor sich selbst geschützt werden muss. Hier müsste die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers greifen. Doch der steht in aller Regel selbst unter Druck, denn eine Geschäftsführung muss Zahlen liefern, und zwar schwarze und nicht etwa rote. Und doch können sich Geschäftsführungen mit dem Hinweis auf die Ökonomie nicht so einfach aus der Affäre ziehen und damit aus der Verantwortung stehlen. Ein Krankenhaus, dem das Personal, insbesondere aus der Pflege „abhandenkommt“, wird kaum noch eine adäquate Behandlung kranker Menschen gewährleisten können. Wenn die Pflege leidet, leidet auch die Medizin – und umgekehrt. Wenn beide leiden, sind Patientinnen und Patienten nicht nur Leidende, sondern auch Leidtragende.
Die von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) veröffentlichten Handlungsempfehlungen zur klinischen psychosozialen Notfallversorgung im Rahmen von Covid-19 sind daher sehr zu begrüßen, denn sie nehmen nicht nur Ärztinnen und Ärzte, sondern das gesamte klinische Personal wie auch Patientinnen und Patienten sowie deren Angehörige und im traurigsten Fall deren Hinterbliebene in den Blick. Die Fürsorge muss aber schon vor der psychosozialen Notfallversorgung einsetzen. Dies bedingt jedoch einen Paradigmenwechsel.
Um in der Sprache der Ökonomen zu bleiben, darf klinisches Personal nicht als bloßer Kostenfaktor angesehen werden, sondern es muss vielmehr als wertvolle Ressource geschätzt und entsprechend behandelt werden. Wenn dies nicht gelingt, werden nicht nur die so dringend benötigten Pflegekräfte dem Gesundheitswesen den Rücken kehren. Zu befürchten wäre dann auch eine Entwicklung, wie sie in dem 1978 erschienenen Buch „House of God“ von Samuel Shem, ein Pseudonym des Professors für Psychiatrie Stephen Bergman, beschrieben wurde. Darin schildert der Autor, wenn auch sicher überspitzt, den Verwaltungs- und Alltagsalbtraum im damaligen Gesundheitssystem der USA. Permanente Überforderung und Überlastung hoch- motivierter Hilfswilliger führen, wenn auch nicht immer zur äußeren, dann doch vielfach zur inneren Kündigung verbunden mit Gleichgültigkeit und/oder Zynismus. Zur Veranschaulichung nenne ich nur drei der dreizehn im Roman beschriebenen „Regeln“: Die Überweisung ist die wichtigste Erstmaßnahme. Wer keine Temperatur misst, kann auch kein Fieber feststellen. Die beste Therapie ist, nichts zu tun – und das reichlich.
Eine solche innere Haltung kann niemand wollen. Es ist übrigens nicht so, dass die allseits beklagten Missstände erst im Verlauf der Coronapandemie entstanden sind. Nein, die Pandemie wirkt lediglich wie ein Brandbeschleuniger. Es ist allerhöchste Zeit, einen Flächenbrand zu verhüten. Spätestens nach der Bundestagswahl muss sich die neue Regierung diesem Problem stellen. Ein „weiter wie bisher“ darf es nicht geben.
Das gilt auch für die Impfungen gegen Corona. Seit wenigen Tagen können sich die hausärztlichen Vertragspraxen endlich an der Impfkampagne beteiligen. Die Beschränkung auf diesen Kreis beruht auf der noch immer zu geringen Verfügbarkeit von Impfstoffen.
Auf Basis der aktuellen Impfverordnung vom 1. April 2021 sieht die Planung mit zunehmenden Impfstoffmengen im weiteren Verlauf den Einbezug von Fachärzten, Privatärzten und Betriebsmedizinern in den Kreis der Impfenden vor. Ich hoffe sehr, dass dies schneller als erwartet der Fall sein wird. Auch wenn dies bedeuten wird, dass die Arbeitsbelastung für einige Monate sicher das übliche Maß übersteigt. Entgegen meiner vorherigen Worte – ich bitte um Nachsicht – zähle ich in dieser Ausnahmesituation auf die überdurchschnittliche Einsatzbereitschaft von Ärztinnen und Ärzten, damit wir alle, so rasch wie es die Impfstofflieferungen erlauben, wieder in einen einigermaßen normalen Zustand gelangen, der dann endlich Erholungspausen und womöglich sogar Urlaub ermöglicht.
Vorher müssen jedoch Altenpflegeheimbewohnerinnen und -bewohnern wieder die gemeinsame Mahlzeit, den Singkreis und die Altengymnastik wahrnehmen können. Denn die Erstimpfungen in den Altenheimen sind nach Mitteilung des Hessischen Sozialministeriums vom 8. April 2021 in unserem Bundesland zum Glück abgeschlossen und in drei Viertel der Fälle auch die Zweitimpfungen.
Dr. med. Edgar Pinkowski, Präsident