Bei gesellschaftlichen Prozessen und sozialen Bewegungen ist es immer umstritten, wann man ihren Beginn datiert. Immer gibt es schon etwas, das zuvor bereits bestand und das die Entstehung des Neuen begünstigte. Die Selbsthilfe-Bewegung, wie wir sie heute in Deutschland kennen, entfaltete sich in den 1970er- und 1980er-Jahren. Zuvor gab es schon krankheitsspezifische Patientenorganisationen, die aber stark ärztlich beeinflusst und eher „top-down“ organisiert waren, sowie Abstinenzgruppen in der Alkoholiker-„Fürsorge“, die von Geistlichen und christlich-humanitär motivierten Ehrenamtlichen getragen wurde.

Von anfänglicher Skepsis zur Kooperation

In den ’68er-Jahren kamen, entsprechend dem damals herrschenden Zeitgeist, kritisch-emanzipatorische Motive hinzu. Die „Halbgötter in Weiß“ mit ihrem autoritären, bestenfalls paternalistischen Gehabe wurden angeprangert. Gefordert wurde eine psychosoziale Wende (oder zumindest: Ergänzung) der Medizin („Sprechende Medizin“). Und es wurde große Hoffnung auf Gruppen jeglicher Form gesetzt – als Ausdruck von Solidarität und wechselseitiger Unterstützung, in diesem Falle von Patienten bzw. von „Betroffenen“, wie der Sprachgebrauch in der Selbsthilfe ist.

Auf Seiten ärztlicher Funktionäre erlebte die Selbsthilfe zunächst vielfach skeptische, ja ablehnende Reaktionen. Da war schon mal von „wildgewordenen Patientenmeuten“ die Rede, man warnte davor, dass die Selbsthilfe bloß „Alternativ“-Medizin propagieren würde, und befürchtete, dass „Geldströme an der Ärzteschaft vorbei in die Selbsthilfe gelenkt“ werden könnten. Einzelne Ärztinnen und Ärzte waren hingegen schon immer wichtige Partner, oft sogar „Anstifter“ von Selbsthilfeaktivitäten.

Solche Äußerungen sind natürlich schon lange nicht mehr vorstellbar, genauso wenig wie grundsätzliche Expertenfeindlichkeit auf Seiten der Selbsthilfe-Szene. Längst hat sich eine kooperative Einstellung auf beiden Seiten durchgesetzt. Und diese gegenseitige Wertschätzung findet einerseits Nahrung, andererseits Ausdruck in real existierender praktischer Zusammenarbeit, nicht zuletzt auch in einem solchen Themenheft des Hessischen Ärzteblatts.

In Hessen hat die Anregung und Unterstützung von Selbsthilfe eine ganz besondere Tradition. 1977 begann an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Universität Gießen ein erstes Forschungsprojekt über „psychologisch-therapeutische Selbsthilfegruppen“ (Prof. Dr. med. Michael Lukas Moeller). Es sollte herausgefunden werden, wie eine solche „Gruppentherapie ohne Therapeuten“ funktionieren und welche Unterstützung von Fachleuten angemessen sein könnte. Daraus entwickelte sich eine Fachorganisation für die Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen unabhängig von deren Thematik, die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e. V. sowie ein neuer Typ von Beratungsinstitution: die Selbsthilfe-Kontaktstelle. Sie wird professionell geleitet, arbeitet in Trägerschaft örtlicher Vereine, großer Wohlfahrtsverbände oder kommunaler Behörden. Über 300 davon gibt es bundesweit, 23 allein in Hessen. Sie sind auch für Ärztinnen und Ärzte in Praxen und Krankenhäusern die örtlichen Ansprechpartner zu allen Fragen der Selbsthilfe für ihre Patientinnen und Patienten: Welche Selbsthilfegruppen gibt es in der Region? Wie gelingt der Zugang am besten? Wie ließe sich ggf. eine neue Selbsthilfegruppe gründen? Wo finden Selbsthilfegruppen Räume, finanzielle Zuschüsse oder fachlich versierte Referenten? Wie können sie ihre Öffentlichkeitsarbeit gestalten?

Selbsthilfe-Bewegung

Die ersten dieser Selbsthilfe-Unterstützungseinrichtungen entwickelten sich im Umfeld universitärer Forschungsprojekte zu Selbsthilfegruppen (Gießen, Hamburg, Heidelberg) oder in anderen Einrichtungen (Psychologische Beratungsstelle, Volkshochschule, Studentenwerk etc.), wo aufgrund persönlichen Engagements einzelne Fachleute diese neue Aufgabe übernahmen. Auf den Fachtagungen der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen vernetzte man sich; das nach und nach entstehende Erfahrungswissen über professionelle Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen wurde zusammengetragen und systematisiert. Das Kontaktstellen-Konzept nahm Gestalt an.

Im Jahre 1987 hatte die wachsende Selbsthilfe-Bewegung das Interesse der Bundespolitik geweckt. Man fragte sich, wie solche Bürgerinitiativen im Gesundheitsbereich gefördert werden könnten, von denen man sich einerseits einen kostendämpfenden Effekt erhoffte, andererseits einen Beitrag zu einer demokratischen Zivilgesellschaft von engagierten und eigenverantwortlichen Menschen, in diesem Falle von Patientinnen und Patienten. Das Bundesgesundheitsministerium schrieb einen Modellversuch aus, in dem das Kontaktstellen-Konzept als professionelle, themenübergreifende, infrastrukturelle Fördereinrichtung für Selbsthilfegruppen und daran interessierte Personen bzw. Institutionen erprobt werden sollte. Allein sechs der 18 schließlich geförderten Standorte befanden sich in Hessen. Die bereits 1985 gegründete Landesarbeitsgesellschaft der Selbsthilfe-Kontaktstelle in Hessen bekam durch die geförderten Modell-Einrichtungen neue Mitglieder und eine Erweiterung des Know-hows. Inzwischen ist die Anzahl der beteiligten Einrichtungen auf 23 gestiegen, und es laufen Bemühungen, eine Landeskontaktstelle als koordinierende Service-Einrichtung zu gründen.

Nach der Wende

Nach der Wiedervereinigung wurde ein gleichartiges Förderprogramm in den neuen Bundesländern gestartet, um auch dort die Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen in Gang zu setzen, die es ja bis dahin wegen der politischen Verhältnisse nur ganz vereinzelt und meist im Verborgenen gegeben hatte.

Die Begleitforschung der beiden Modellversuche zeigte, kurz gefasst, folgendes: In den untersuchten Regionen stieg die Anzahl der Gruppen ebenso wie die ihrer Mitglieder, und ihre Stabilität nahm zu. Jahre später fanden Schweizer Forscher für ihr Land Ähnliches heraus.

Das Feld der Selbsthilfe in Deutschland hat inzwischen einen enormen Umfang angenommen: Die Zahl der Selbsthilfegruppen wird auf 70.000 bis 100.000 geschätzt. Etwa die Hälfte davon gehört übergeordneten Selbsthilfeorganisationen an, die andere Hälfte arbeitet autonom nur vor Ort. 116 Selbsthilfeorganisationen sind in der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung, chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e. V. (BAG Selbsthilfe) zusammengeschlossen, mehr als 120 in der Allianz chronischer seltener Erkrankungen e. V. (Achse) und 230, die sich speziell mit der Situation kranker und behinderter Kinder und Jugendlicher bzw. deren Familien befassen, im Kindernetzwerk e. V. Sie alle sind zentral zu finden über die Datenbank der Nationalen Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen (NAKOS) unter „grüne Adressen“, wie auch die lokalen oder regionalen themenübergreifenden Selbsthilfe-Kontaktstellen unter den „roten Adressen“. Die Website der NAKOS bietet darüber hinaus eine Fülle von Materialien zur Selbsthilfe (www.nakos.de). Eine weitere Fundgrube für Interessierte ist auch das Selbsthilfegruppenjahrbuch der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e. V., das seit 1999 Beiträge aus Selbsthilfegruppen, -organisationen und -Kontaktstellen, aber auch aus Politik, Verwaltung und Wissenschaft bezüglich Selbsthilfe enthält (Internet: www.dag-shg.de/service/jahrbuecher).

Die positiven Befunde verschiedener Forschungsprojekte und die bundesweit zunehmende Zahl von in der Selbsthilfe aktiven Menschen veranlasste die Politik, über Möglichkeiten einer verlässlichen öffentlichen Förderung der Selbsthilfe (Selbsthilfegruppen, -organisationen, -Kontaktstellen) nachzudenken. Dies wurde den Gesetzlichen Krankenversicherungen übertragen. Das geschah schrittweise in mehreren Gesetzesvorhaben, von einer „Kann“-Bestimmung über eine „Soll“-Bestimmung bis hin zur Festlegung der dafür bereitzustellenden Summe: derzeit über 80 Millionen Euro pro Jahr.

Mit dieser im internationalen Vergleich beeindruckenden Summe werden örtliche Selbsthilfegruppen, Selbsthilfeorganisationen auf Bundes- und Landesebene sowie Selbsthilfe-Kontaktstellen nach bestimmten Kriterien pauschal oder durch projektbezogene Mittel gefördert. Diese enorme Summe hat nicht nur die Arbeit und die Strukturen der Selbsthilfe gestärkt und stabilisiert, sondern sie drückt auch eine hohe gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung aus. Dazu hat ganz erheblich die Selbsthilfe-Forschung in Deutschland beigetragen, von den frühen Projekten der Arbeitsgruppen um Moeller und Trojan über die SHILD-Studie von Dierks, Kofahl und Schulz-Nieswandt bis zur Einrichtung einer Selbsthilfe-Professur mit Prof. Dr. phil. Joachim Weis in Freiburg (siehe Artikel „Selbsthilfeforschung im Bereich der Krebs-Selbsthilfe“ ab S. 172).

Demokratische Legitimation

Als zu Beginn dieses Jahrhunderts die Diskussion über die Vertretung von Patienten(-interessen) im deutschen Gesundheitswesen Fahrt aufnahm, geriet die Selbsthilfe-Bewegung, die sich in Deutschland wie sonst nirgends in Europa verbreitet und etabliert hatte, schnell in den Fokus der Überlegungen. Hier ließen sich „kollektive Patienten“ finden, die nicht nur ihre individuelle Betroffenheit einbringen konnten, sondern aus der längerfristigen Arbeit in ihren Gruppen und Organisationen über „Betroffenen-Kompetenz“ oder gar „Betroffenen-Expertise“ verfügten und darüber hinaus über demokratische Legitimation. So wurden 2004 der Deutsche Behindertenrat (ein Verbund etlicher Organisationen von chronisch kranken oder behinderten Menschen), die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e. V. (siehe oben) neben der Bundesarbeitsgemeinschaft der PatientInnenstellen (BAGP) und Verbraucherzentrale Bundesverband e. V. (vzbv) vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) nach bestimmten Kriterien dafür akkreditiert, „fachkundige Personen“ aus ihren Reihen in den neu aufgestellten Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) zu entsenden, um dort Patienteninteressen zu vertreten.

Auch hier erhoffte man sich eine inhaltliche Bereicherung der Diskussion und einen Zuwachs an demokratischer Legitimation. Etwa 250 Menschen, zum großen Teil aus der Selbsthilfe, sind auf diese Weise im G-BA engagiert. Entsprechendes gilt für Gremien auf Landesebene (Zulassungs-, Berufungs-, Landesausschuss und anderes mehr).

Während anfangs die traditionellen „Bänke“ (die sogenannten Leistungserbringer, also Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten und Krankenhäuser sowie die gesetzlichen Krankenkassen) und die neue Patientenvertretung zum Teil recht heftig miteinander „fremdelten“, hat sich inzwischen eine routinierte, teilweise durchaus vertrauensvolle Zusammenarbeit etabliert. Alle vertreten ihre jeweiligen Interessen, aber alle sollen auch gegenüber dem Funktionieren unseres Gesundheitswesens insgesamt Verantwortung zeigen.

Beteiligung an Leitlinien

Nicht durch gesetzliche Vorgabe, sondern als Selbstverpflichtung hat sich Patientenbeteiligung an der Erstellung von Behandlungsleitlinien etabliert. Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) hat dies in ihrem Regelwerk verankert. Und auch hier wird die Frage, wer geeignet, das heißt sachkundig und am besten legitimiert sei, an einem solchen Prozess von Evidenzbasierung und Konsensbildung teilzunehmen, in den meisten Fällen über Rückgriff auf einschlägige Selbsthilfeorganisationen gelöst.

Im Übrigen hat es sich eingebürgert, eigene Patientenleitlinien zu verfassen, die in abgespecktem Umfang und in laienverständlicher Sprache den Betroffenen Zugang zu medizinischem Wissen bezüglich ihrer eigenen Erkrankung verschaffen. Dies soll unter anderem dabei helfen, dass Patientinnen und Patienten im Sinne eines „shared decision making“ in produktiver Weise an Behandlungsentscheidungen mitwirken können.

Ausblick

Als neueste Entwicklung wird seit einigen Jahren sogar über Patientenbeteiligung an medizinischer Forschung diskutiert. Damit ist nicht gemeint, dass Menschen sich an Studien beteiligen, um Daten für neue Erkenntnisse zu liefern. Sondern dass sie sich – mit ihrer Betroffenenkompetenz – an der Formulierung von Fragestellungen und ihren Antworten beteiligen: Was entspricht Patientenbedürfnissen, wo erleben sie Lücken in der Versorgung? Welche patientenrelevanten Endpunkte gibt es – z. B. nicht nur hinsichtlich der Überlebensdauer, sondern auch bezüglich der Lebensqualität? Betroffene können an der Interpretation der Ergebnisse sowie an deren Verbreitung und womöglich sogar an wissenschaftlichen Publikationen beteiligt werden.

In bestimmten Bereichen wird heutzutage bereits in den Ausschreibungen der Forschungsförderer verlangt, dass die Antragsteller Angaben zur Patientenbeteiligung an der Planung, Durchführung und Auswertung ihrer Studien machen. Und wo sucht eine gut beratene Forschergruppe danach? Meist auf dem Feld der Selbsthilfe.

Dipl.-Psych. Jürgen Matzat, Psychologischer Psychotherapeut, Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen, Friedrichstr. 33, 35392 Gießen, Fon: 0641 985-45612, E-Mail: juergen.matzat@psycho.med.uni-giessen.de

Zum Autor: Dipl.-Psych. Jürgen Matzat leitet seit 1987 die Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen in Gießen. Er war einer der Gründer und langjähriges Vorstandsmitglied der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e. V. Seit 2004 ist er als Patientenvertreter im Gemeinsamen Bundesausschuss (Unterausschuss Psychotherapie) und in Ausschüssen auf Landesebene sowie in Arbeitsgruppen zur Erstellung von ÄZQ-Versorgungs- bzw. Patientenleitlinien engagiert.