Corona-Update Gesundheitsämter: Gespräch mit Dr. med. Birgit Wollenberg
Zur aktuellen Covid-19-Situation bei den Gesundheitsämtern berichtet zum zweiten Mal im HÄBL Dr. med. Birgit Wollenberg. Sie leitet das Gesundheitsamt des Landkreises Marburg-Biedenkopf und ist Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft der ärztlichen Leitungen der hessischen Gesundheitsämter. Das erste Interview mit ihr zum Thema findet sich in Ausgabe 6/2020, S. 332.
Im Frühjahr 2020 bezweifelten Sie, dass die Gesundheitsämter einen erneuten exponentiellen Anstieg in einer zweiten Welle schaffen würden. Wie beurteilen Sie das heute?
Dr. med. Birgit Wollenberg: In der ersten Welle im Frühjahr 2020 haben die Gesundheitsämter die Krise aus eigener Kraft bewältigt. Auch in unserem Gesundheitsamt mussten wir alle anderen Aufgaben stilllegen und alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in die Bewältigung der Krise einsetzen. Durch den Lockdown konnte die Welle damals gebrochen werden. Im Landkreis Marburg-Biedenkopf hatten wir im März 2020 eine 7-Tages-Inzidenzspitze von 26 Neuinfektionen/100.000 Einwohnerinnen und Einwohner, die wir unter Aufbietung aller Kräfte im Gesundheitsamt bewältigen konnten.
Jetzt in der zweiten Welle war der Ansturm noch viel gewaltiger. Der Landkreis Marburg-Biedenkopf war als einer der ersten Landkreise von der zweiten Welle betroffen. Wir hatten mit einem exponentiellen Anstieg mit einer Verdreifachung der Fallzahlen von einem auf den anderen Tag zu tun. Die Gesamtinzidenz ist dann auf knapp 260 Neuinfektionen/100.000 Einwohner angestiegen. In dieser Zeit hat es das Gesundheitsamt nicht mehr aus eigener Kraft geschafft. Wie in allen Gesundheitsämtern ist Verstärkung aus den verschiedensten Bereichen gekommen: Verwaltungsmitarbeiter aus anderen Bereichen, befristete Neuanstellungen von Helfern, sogenannte RKI-Containmentscouts, Medizinstudierende aus dem Programm Medis4ÖGD und auch durch die Bundeswehr. Einige Landkreise, auch wir in Marburg-Biedenkopf, haben die Personenzahl, die mit der Pandemiebekämpfung beschäftigt ist, mindestens verdoppelt, teilweise verdreifacht. Die Gesundheitsämter leiten jetzt zwei Bereiche: das „Rumpfgesundheitsamt“, wo alle Aufgaben in reduzierter Form weitergemacht werden. Und sie leiten ihr Pandemieteam. Es gibt immer noch eine Basisversorgung im sozialpsychiatrischen Dienst, im kinder- und jugendärztlichen Dienst, auch in der Trinkwasserüberwachung, bei Hygienefragen bei Begehungen, im Gutachtenwesen etc. Überall werden die Aufgaben zwar mit verminderter Intensität, aber im Basisprogramm weitergeführt. Unser Pandemieteam ist mindestens doppelt so groß wie die ursprüngliche Besatzung. Wir sind normalerweise 70 Leute im Gesundheitsamt und mein Corona-Team sind allein 150. Dann kann man das schaffen. Fulda hat zum Beispiel die Kontaktpersonennachverfolgung von 55 auf 200 Personen erhöht.
Immer wieder wird davon berichtet, dass die Gesundheitsämter nicht mehr in der Lage seien, sämtliche Fälle zu ermitteln. Können Sie dies bestätigen?
Wollenberg: Wir schaffen das jetzt. Wir schaffen die Kontaktpersonennachverfolgung, wir schaffen die Fallermittlung, wir haben jetzt ein ganz neues großes, aber auch sehr gut organisiertes Team mit mehreren spezialisierten Einheiten für Alten- und Pflegeheime, Krankenhäuser und Arztpraxen, Schulen und Kitas mit festen Ansprechpartnerinnen und -partnern und einem direkten Draht für die jeweiligen Einrichtungen. Wenn man diesen Aufwand betreibt, dann geht es.
In der Umstellungsphase, als wir am Anfang der zweiten Welle waren und diesen rasanten Anstieg innerhalb weniger Tage hatten, haben wir das auch nicht geschafft. Da hatten wir das Gefühl, ein Tsunami reißt uns die Füße weg. Man muss ja diesen ganzen Apparat erst aufbauen. Das dauert einige Tage. In der Umstellungsphase läuft dann nicht gleich alles reibungslos. Da kann es auch mal zu Meldeverzug oder Doppelmeldungen kommen – nicht alle bestätigten Fälle und Kontaktpersonen werden zeitnah angerufen. Das geht allen Regionen so, in denen gerade ein massiver Anstieg vorkommt, und das sind Dinge, die in einer steilen Anstiegsphase wahrscheinlich nie zu 100 Prozent zu verhüten sind. Bis man alles zusammen hat und der Laden dann wirklich rund läuft, braucht es etwas Zeit. Die inhaltliche Personalschulung ist dabei ein wichtiger Faktor, aber auch die Beschaffung der Infrastruktur wie z.B. Arbeitsplatz, PCs; Telefon und Headsets, Software ( Schulung) sind zu leisten.
Wenn der Apparat dann steht, können die Leute bei sinkender Inzidenz auch wieder an ihren ursprünglichen Arbeitsplatz zurück, Urlaub machen oder freigestellt werden – so auch bei uns: Der Landkreis Marburg-Biedenkopf hat gerade eine der niedrigsten 7-Tages-Inzidenzen von Deutschland von knapp über 40. Damit die bewährten Kräfte sofort wieder aktiviert werden können, ist jedoch wichtig, dass sie geschult bleiben, da sich fachliche und auch organisatorische Dinge laufend ändern. Außerdem nutzen wir die relativ niedrigen Fallzahlen, um alle Prozesse auf die Software Sormas umzustellen.
Welche Auswirkungen haben die nun auch in Deutschland aufgetretenen Virusmutationen aus Ihrer Sicht?
Wollenberg: Bei uns ist die Virusvariante B.1.1.7 bisher in 18 Fällen nachgewiesen worden (Stand 12.2.2021). Dabei handelt es sich um einen Ausbruch in einem Alten- und Pflegeheim mit Folgeinfektionen. Trotzdem haben wir sinkende Inzidenzen. Unsere Erfahrung ist daher, dass die Mutationen zurzeit noch keine Auswirkungen auf die Inzidenzzahlen haben. Bislang setzt sich unser Trend weiter fort und die Inzidenz wird immer niedriger. Dennoch schätzen wir die Lage als brisant ein. Es ist nicht vorhersehbar, ob die Maßnahmen des aktuellen Lockdowns ausreichen, um einen erneuten exponentiellen Anstieg abzubremsen, und erst recht nicht, was passiert, wenn der Lockdown gelockert wird. Wir sind da sehr aufmerksam und nehmen die Lage sehr ernst.
Wie steht es derzeit um die personellen Ressourcen bei den hessischen Gesundheitsämtern? Und wie belastet ist das Personal?
Wollenberg: Die zusätzlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wie z. B. auch die RKI-Scouts sind befristet eingestellt oder abgeordnet. Viele Befristungen laufen gerade aus. Wir bemühen uns derzeit um Verlängerungen aller befristeten Verträge bis mindestens Ende Juni – am Besten länger.
Unser Kernpersonal, also das ärztliche und medizinische Fachpersonal des Gesundheitsamtes, ist allerdings dauerhöchstbelastet. Da macht sich eine gewisse Erschöpfung bemerkbar. Die Krise dauert ja jetzt auch schon elf Monate. Und die Krise ist dadurch gekennzeichnet, dass es immer wieder phasenweise Verschärfungen oder Zuspitzungen gibt. Das geht bei allen an die Substanz.
Was ist aus Ihrer Sicht erforderlich, um an dieser Stelle Abhilfe zu schaffen?
Wollenberg: Das Fachpersonal braucht Gelegenheit für eine längere Erholungsphase. Das ist leider gar nicht in Sicht. Das kann nur gewährleistet werden, indem mehr Fachpersonal eingestellt wird, z.B. über den Pakt für ÖGD. Der Persoanlaufbau muss zügig gehen, damit die Möglichkeit für Urlaub und Stundenabbau überhaupt besteht.
Gibt es denn genügend Fachpersonal, das eingestellt werden könnte?
Wollenberg: Das könnte regional unterschiedlich sein, aber insgesamt glaube ich schon. Die Gesundheitsämter haben einen großen Imagezuwachs erlebt. Den Medizinstudierenden und allen, die bei uns arbeiten, macht die Arbeit große Freude. Sie stellen heraus, dass sie eine sinnvolle und vielseitige Aufgabe machen, bei der man viel bewirken kann. Ich bin daher zuversichtlich, dass wir in Zukunft – sofern wir gute Rahmenbedingungen bieten können – bessere Chancen haben als vor der Krise, gutes Personal zu bekommen. Das ist ein positiver Nebeneffekt der Pandemie: Viele hatten und haben die Gelegenheit, die Arbeit des Gesundheitsamtes kennenzulernen. Dadurch ist die Wertschätzung für unsere Arbeit sehr gestiegen!
Interview: Maren Grikscheit
Stand: 17.02.2021
Dr. med. Birgit Wollenberg: „Die Wertschätzung für unsere Arbeit ist sehr gestiegen!“
Dr. med. Birgit Wollenberg ist Fachärztin für Öffentliches Gesundheitswesen sowie Fachärztin für Innere Medizin (Zusatzbezeichnung Suchtmedizinische Grundversorgung). Seit 2015 leitet sie das Gesundheitsamt des Landkreises Marburg-Biedenkopf. Zuvor war sie dort bereits als Ärztin tätig. Ihre Weiterbildung zur Fachärztin für Innere Medizin absolvierte sie am Universitätsklinikum Marburg. Danach erfolgte die Weiterbildung zur Fachärztin für Öffentliches Gesundheitswesen am Gesundheitsamt in Marburg.