124. Deutscher Ärztetag diskutiert über Lehren aus Corona und assistierten Suizid
Der 124. Deutsche Ärztetag war ein Novum. Pandemiebedingt musste die Tagung, die eigentlich in Rostock hätte stattfinden sollen, online veranstaltet und auf zwei Tage verkürzt werden. Während u.a. die Lehren aus dem Corona-Krisenmanagement, ärztliche Weiterbildung, Klinik- und Notfallreform, GOÄ-Novelle und assistierter Suizid auf dem Programm standen, soll das Thema „Klimaschutz und Gesundheit“ Schwerpunkt eines möglichen Präsenz-Ärztetages im Herbst sein. Zum ersten Mal in ihrer Amtszeit meldete sich Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU) mit einer Videobotschaft zu Wort, um der Ärzteschaft „für ihren aufopferungsvollen Einsatz für die Patienten, wie auch beim Testen und Impfen“ in der Corona-Pandemie zu danken.
Kritische Bilanz
Dass das Gesundheitswesen in Deutschland in der Corona-Pandemie enorm belastet, aber im Gegensatz zu vielen anderen Ländern zu keinem Zeitpunkt überlastet gewesen sei, stellte Bundesärztekammerpräsident Dr. med. Klaus Reinhardt zum Auftakt des Online-Ärztetages fest. Dies habe an dem beispiellosen Einsatz von Ärztinnen und Ärzten aus allen Versorgungsbereichen und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gelegen. Zugleich zog Reinhardt auch eine kritische Bilanz. So hätten die zurückliegenden Monate Defizite in der Organisation des Gesundheitswesens deutlich gemacht. Eine Lehre aus der Krise sei, dass das Gesundheitswesen nicht weiter ausgedünnt werden dürfe. Eindringlich warnte er vor einer weiteren Kommerzialisierung: „Erst kommt der Patient und dann der Profit. Das muss sich endlich in das kollektive Gedächtnis einbrennen.“
Neben einer verbesserten Planung von Krisenstäben forderte der Bundesärztekammerpräsident eine verbesserte strukturelle, technische und vor allem personelle Ausstattung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD). Auch die deutschen Krankenhäuser erhielten zu wenig Geld, kritisierte Reinhardt und machte dafür die Bundesländer verantwortlich, die ihrer Pflicht zur Finanzierung von Investitionen meist nur völlig unzureichend nachkämen. Da ein weiterer Appell nicht genüge, müsse der Bund die Krankenhäuser dauerhaft zusätzlich finanzieren.
Spahn: „Nicht katastrophal gelaufen“
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) gab sich in seiner Rede zuversichtlich, dass man sich bei der Bewältigung der Pandemie auf dem richtigen Weg befinde. Dennoch mahnte er weiter zur Vorsicht. Die Corona-Krise habe viel Leid verursacht, nicht nur durch Krankheit und Tod, sondern auch durch soziale Härten, bilanzierte Spahn. Allerdings wehrte er sich gegen den medial geschürten Eindruck, in der Krise sei „alles katastrophal“ gelaufen. Nachdem nach Ostern die Arztpraxen ins Impfen eingebunden wurden, sei der „große Turbo“ eingeschaltet worden.
Digitalisierung kein Selbstzweck
Die Pandemie habe gezeigt, dass es noch Nachholbedarf bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen gebe, hatte Reinhardt in seiner Rede erklärt, und gleichzeitig vor Digitalisierung als reinem Selbstzweck gewarnt. Diese müsse sich in erster Linie an den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten orientieren. Im Gespräch mit dem Bundesgesundheitsminister betonte er, dass die Details der digitalen Anwendungen sinnvoll geregelt werden müssten. Aktuell bestehe das Hauptproblem in den gesetzlich festgelegten Fristen, welche kaum zu halten seien und deshalb ausgesetzt werden müssten.
Spahn appellierte an die Ärzteschaft, sich möglichst schnell um einen elektronischen Heilberufsausweis (eHBA) zu bemühen, da dieser zwingende Voraussetzung für viele kommende TI-Anwendungen sei. Der Bundesgesundheitsminister sicherte zu, dass sanktionsbewehrte Fristen für die zeitnah vorgesehene Einführung von Anwendungen der Telematikinfrastruktur (TI) dort ausgesetzt werden würden, wo sie von der Ärzteschaft unverschuldet nicht zu halten seien.
Pandemiemanagement optimieren
Dem Auftakt des Ärztetages schlossen sich bis in den Abend hinein lebhafte Diskussionen an. Als Konsequenz aus dem Umgang mit der Corona-Pandemie forderten die Delegierten in einem mit großer Mehrheit gefassten Beschluss zur gesundheits- und sozialpolitischen Generalaussprache die Optimierung des Pandemiemanagements in Deutschland. Neben der Einrichtung fester Krisenstäbe der Bundesländer sollten Reserven für wichtige Medizinprodukte, Arzneimittel und Impfstoffe angelegt und innereuropäische Produktionsstandorte dafür ausgebaut werden.
Struktureller Reformbedarf
Mit Blick auf den strukturellen Reformbedarf im Gesundheitswesen forderte das Ärzteparlament die Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, die Neuregelung der Krankenhausplanung und -finanzierung, die Sicherung ambulanter Versorgungsstrukturen, den Ausbau der Digitalisierung sowie weitere Anstrengungen zur Fachkräftegewinnung im Gesundheitswesen. Auch sprach sich der Ärztetag für eine Stärkung der interprofessionellen Zusammenarbeit der Beschäftigten im Gesundheitswesen und die Förderung von Vernetzung und Kooperationen innerhalb und zwischen den jeweiligen Versorgungsbereichen aus. Amtsärztinnen, Amtsärzte und ihre Mitarbeitenden hätten in der Corona-Pandemie Herausragendes geleistet, betonte der Ärztetag. Neben einer tariflich gesicherten, arztspezifischen Vergütung der Amtsärztinnen und Amtsärzte sollten die angedachten Maßnahmen der Novelle der Ärztlichen Approbationsordnung (ÄApprO) zur Stärkung des ÖGD in der ärztlichen Ausbildung zeitnah umgesetzt werden.
Patientengerechte Krankenhausplanung
Nachdrücklich forderte das Ärzteparlament die Sicherung einer patientengerechten Krankenhausplanung, -finanzierung und -vergütung. Neben einem stärkeren Engagement der Bundesländer zur Auflösung des Investitionsstaus von derzeit mindestens sieben Milliarden Euro pro Jahr sei eine dauerhafte additive Kofinanzierung durch den Bund notwendig. Um dem zukünftigen Versorgungsbedarf gerecht zu werden und die Fehlanreize des G-DRG-Fallpauschalensystems zu beheben, müsse die bisherige erlösorientierte Krankenhausbetriebsmittelfinanzierung grundlegend reformiert werden.
Arztpraxen unterstützen
Die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte und insbesondere auch die Medizinischen Fachangestellten trügen maßgeblich dazu bei, die Corona-Pandemie zu bewältigen und das Gesundheitssystem vor Überlastung zu schützen, betonte das Ärzteparlament. Im Sinne einer qualitativ hochwertigen Patientenversorgung, auch über Krisenzeiten hinaus, wurden Bund und Länder dazu aufgefordert, die ambulanten Strukturen zu sichern und zukunftsfähig zu machen. Der in der Pandemie eingeführte Schutzschirm für die Vertragsärztinnen und Vertragsärzte müsse als Schutzinstrument für den Bedarfsfall dauerhaft im SGB V verankert werden. Die Delegierten unterstützten die Forderung des Verbandes medizinischer Fachberufe e.V., die herausragenden Leistungen der Medizinischen Fachangestellten in der Pandemie nach dem Vorbild der Pflege mit einem steuerfinanzierten Bonus zu würdigen.
Neuer Facharzt für Infektiologie
Am Vormittag des zweiten Sitzungstages standen Änderungen und Ergänzungen zur (Muster)-Weiterbildungsordnung (MWBO) von 2018 auf der Tagesordnung. Zu den Änderungswünschen an der bis jetzt in 14 von 17 Landesärztekammern in das jeweilige Landesrecht umgesetzten MWBO gehörte u. a. die Aufnahme der „Auswirkungen des Klimawandels auf die Gesundheit“ in die Allgemeinen Inhalte der Weiterbildung. Diesem Antrag stimmten die Abgeordneten mit großer Mehrheit zu. Vor dem Hintergrund des Pandemiegeschehens wurde auch die Einführung der neuen Facharztweiterbildung „Infektiologie und Innere Medizin“ zunächst breit diskutiert und dann mit großer Mehrheit beschlossen. Dr. med. Wolf Andreas Fach (Fachärztinnen und Fachärzte Hessen), Präsidiumsmitglied und Vorsitzender des Weiterbildungsausschusses der Landesärztekammer Hessen (LÄKH), lobte die neue Facharztweiterbildung als „sinnvolles Add-On“ und als ein wichtiges inhaltliches Fach. Erklärtes Ziel der Neueinführung ist es, gemeinsam mit den Gebieten „Hygiene und Umweltmedizin“ und „Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie“ sowie der weiterhin bestehenden Zusatz-Weiterbildung „Infektiologie“ infektiologisches Wissen in der Breite und Tiefe der MWBO zu verankern.
Qualitätssicherung der Weiterbildung
Seit seinem Start am 01.07.2020 wird das eLogbuch aktuell von 10 der 17 Landesärztekammern verwendet. Zukünftig sollen eine Befugtensuche integriert und die Barrierefreiheit verbessert werden. Auch sollen Unterschiede zwischen den länderspezifischen WBOs in Zukunft visuell leicht erkennbar werden. Fach forderte die Bundesärztekammer dazu auf, sich über einheitliche Programme zur Qualitätssicherung in der Weiterbildung zu verständigen. Den zugehörigen Antrag, der die bundesweite Qualitätssicherung der Weiterbildung – neben eLogbuch und der abschließenden Prüfung – auch über qualitative Interviews und Befragungsprojekte ins Zentrum rückt, nahmen die Abgeordneten mit großer Mehrheit an.
Ärztlich assistierter Suizid
Sachlich und konzentriert, einfühlsam und ethischen Überzeugungen verpflichtet: Die von Dr. Klaus Reinhardt souverän moderierte, vierstündige Debatte über den ärztlich assistierten Suizid war von hohem Niveau. Zum Hintergrund: Das Bundesverfassungsgericht hatte in seinem Urteil vom 26. Februar 2020 den § 217 Strafgesetzbuch, der die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter Strafe stellte, für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar und damit für nichtig erklärt. Es leitete in seiner Entscheidung aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht als Ausdruck persönlicher Autonomie ein „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ ab, das die Freiheit einschließt, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen.
„Suizidassistenz ist keine ärztliche Aufgabe“ sagte Bundesärztekammerpräsident Dr. med. Klaus Reinhard. Dies schließe nicht aus, dass ein Arzt einem leidenden Patienten im Einzelfall nicht helfen dürfe.
„Wir wollen klarstellen, dass wir die Gewissensentscheidung des einzelnen Arztes akzeptieren und nicht mehr als Berufspflichtverletzung ahnden wollen“, sagte BÄK-Vorstand Sanitätsrat Dr. med. Josef Mischo. Die Delegierten des Deutschen Ärztetages beschossen, Satz 3 in Paragraph 16 der Muster-Berufsordnung (MBO) zu streichen und hoben damit das Verbot ärztlicher Suizidbeihilfe auf.
Eine große Mehrheit des Ärzteparlaments stellte sich auch hinter einen u. a. von Dr. med. Susanne Johna (Marburger Bund), Präsidiumsmitglied der Landesärztekammer Hessen, eingebrachten Beschlussantrag, eine Verpflichtung von Ärztinnen und Ärzten zur Mitwirkung beim assistierten Suizid ausdrücklich abzulehnen. Die „Herbeiführung des Todes war und ist nie Ziel einer ärztlichen Heilbehandlung“, hieß es in einem u. a. von Dr. med. Christoph Stork (LDÄÄ), Delegierter der Landesärztekammer Hessen, eingebrachten und ebenfalls mit großer Mehrheit beschlossenen Antrag. Für ihn sei es unvorstellbar, in einer Beratungsstelle als Arzt einen Sterbewilligen zu begutachten, der nicht sein Patient ist, sagte Dr. med. Pierre Frevert (LDÄÄ), ebenfalls Delegierter der LÄKH. Die Diskussion werde mit dem Ärztetag nicht zu Ende sein, erklärte Reinhardt.
Katja Möhrle, Alla Soumm