Wallstein Verlag, Göttingen 2019. 96 Seiten, 34 zum Teil farbige Abbildungen, geb., ISBN 9783835335462, € 18
In Deutschland tragen mehr als 40 Millionen Menschen eine Brille – das sind 63,4 % aller Erwachsenen; davon müssen mehr als 22 Millionen die Brille ständig, 27,7 Millionen gelegentlich tragen, z. B. zum Lesen. Bei den über 60-Jährigen steigt der Anteil der Brillenträger auf 93 %. Nicht nur die Altersfehlsichtigkeit nimmt zu. Immer mehr 20- bis 29-Jährige sind kurzsichtig: 2008 waren es 27 %, 2018 schon 35 %. Diese Zahlen veranschaulichen, dass die Brille zu den alltäglichsten Gebrauchsgegenständen gehört.
Wie bei vielen Gebrauchsgegenständen lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, wer die Brille erfunden hat Tatsächlich ist weniger von einer Erfindung im Sinne eines einmaligen ingeniösen Akts auszugehen, als vielmehr von einer Entwicklung im Sinne eines allmählichen Prozesses, der von wissenschaftlichen und technischen Erkenntnissen begleitet wurde.
Wie die Entwicklung von den ersten schweren Lesesteinen aus Beryll zu den leichten modernen Brillen verlief, erzählt die Essayistin Stefana Sabin in einem kurzweiligen und zugleich schön gestalteten Buch mit dem passenden Titel „AugenBlicke“. Die Erzählung fängt mit dem grünen Smaragd von Kaiser Nero an, durch den er angeblich die Gladiatorenkämpfe betrachtete, und folgt dann den mittelalterlichen Mönchen und Gelehrten, die sich in Venedig konvexe und in Florenz konkave Gläser für ihre Brillen bestellten. Dabei wird immerhin klar, dass die Brille in ihrer noch heute üblichen Form in Italien entstanden ist – und die Frage, ob der Erfinder der Brille Florentiner oder Pisaner war, ist eine kleine und amüsante Geschichte für sich.
Historisch geht es weiter mit den Brillenverkäufern auf den Märkten des 17. Jahrhunderts über die selbst gebastelte Nah- und Fernsicht-Brille von Benjamin Franklin und die eleganten Lorgnons des 19. Jahrhunderts – bis zur Gegenwart. Die Erzählung endet mit der Katzen-Brille, die Marilyn Monroe trug und damit die Hersteller auf die Idee brachte, zwischen Männer- und Frauenmodellen zu unterscheiden. Die Entwicklung wird mit Beispielen aus der Kunstgeschichte bebildert und mit Episoden aus der Literaturgeschichte – bis zu Harry Potter – belegt. „AugenBlicke“ beschreibt, wie die Brille als Produkt medizinischer, technologischer und handwerklicher Bemühungen der Zivilisation einen Schub gegeben hat, indem sie dazu beitrug, dass sich die Lebensarbeitszeit mehr als verdoppelte, dass präziser gearbeitet werden konnte und dass Berufe, für die Lesen, Schreiben und Rechnen essenziell waren, überhaupt erst entstehen konnten. Man muss also kein Augenarzt sein, ja, man muss gar keine Brille tragen, um dieses Buch mit Genuss und Gewinn zu lesen.
Dr. med. Ulrich Wernhard, Augenarzt, Kassel