2017 schlossen die Landesärztekammer Hessen und die Ärzte- und Zahnärztekammer der Provinz Salerno (Ordine dei Medici ed Odontoiatri della Provincia di Salerno) eine Vereinbarung zur gegenseitigen Anerkennung von ärztlichen Fortbildungspunkten: Auftakt einer lebendigen Partnerschaft. Im vergangenen Jahr hat das Hessische Ärzteblatt über die Pandemiesituation in Italien mit Fokus auf Kampanien berichtet. In dieser Ausgabe veröffentlichen wir gekürzt und in deutscher Übersetzung einen Artikel von Dott. Giovanni D’Angelo, Präsident der Ärztekammer von Salerno, der im Original in „Salerno Medica“ (Nr. 2; 04 bis 06/2020) sowie gleichzeitig in „Il Mattino“, Neapel, erschienen ist. (moeh)
Der Sturm von Covid-19 scheint nachzulassen. Die Morbiditätsindikatoren nehmen tendenziell ab, obwohl das Virus noch immer jeden Tag zahlreiche Menschenleben kostet – als Gedenken an seine Stärke und Kraft. Unter den Toten sind auch jene, die es gewagt haben, den Kampf gegen das Böse auf Krankenstationen oder in Arztpraxen aufzunehmen. Bewaffnet mit Mut und Verantwortungsbewusstsein statt mit Schutzausrüstung. Für Ärzte und Krankenschwestern in den Krankenhäusern bedeutete dies permanente, hektische Arbeit mit endlosen Schichten, an die sich ein paar Stunden Ruhe schlossen.
Zwischen Wachsein und Schlaf
Versuchen Sie, sich Ihre Nächte zwischen Wachsein und Schlaf vorzustellen, in denen Ihnen immer wieder Bilder von Patienten mit ihren Schmerzen und ihren Hoffnungen durch den Kopf gehen. Einige dieser Patienten starren in die Leere, fern der tröstlichen Nähe ihrer Lieben. Manche schütteln dem Gesundheitspersonal als letzten Zeugen ihres irdischen Lebens die Hand. Nicht wenige Ärzte und Pfleger ziehen die Arbeit der Angst und Stille der Nacht vor – eine Arbeit, die sie hoch aufmerksam und innerlich angespannt erledigen und mit spontanen, liebevollen Gesten für die Kranken bereichern. Und dies trotz der Angst, sich selbst anzustecken. Über 12.000 infizierte Ärzte, Pfleger, Apotheker, Biologen, Tierärzte, Fahrer, Mitglieder des Sozial- und Gesundheitspersonals usw. wurden von ihren Angehörigen abgesondert und unter Quarantäne gestellt – wenn alles gut lief. Viele sind jedoch auch gestorben.
Sie alle wurden zu Heldinnen und Helden, aber zu welchem Preis und für wie lange? Als sie sich bei den ersten Anzeichen, dass die Aggressivität des Virus nachzulassen schien, noch mitten im Krieg befanden, tauchten plötzlich ebenso undankbare wie unangemessene Stimmen auf, die den Helden die Verantwortung für alles Negative zuschoben, was auf dem Schlachtfeld geschehen war. Ein primitiver Versuch, für sich selbst Kapital aus dem hochprofessionellen Einsatz anderer zu schlagen. Doch die Reaktion darauf waren Solidarität und Einheit all jener, die an vorderster Front standen, wie es sie vielleicht noch nie zuvor gegeben hatte. Fest verbunden durch eine altruistische Einstellung gegenüber den Kranken und die gemeinsamen ethischen Grundsätze eint sie ein Ziel: den Bedürftigen fachlich und menschlich zu helfen.
Wettbewerb und Konfrontation
Dies ist das wahre Gesicht unseres Gesundheitswesens, das seinen verfassungsmäßigen Ursprung in den Werten Solidarität und Subsidiarität hat – und nicht in der gesetzgeberischen Autonomie der in den Folgejahren entstandenen Regionen. Mit falschen Interpretationen wurde versucht, die Universalität des Gesundheitsgutes zu untergraben. So hielt der Keim des Wettbewerbs in unserer Verfassung Einzug, der im Laufe der Zeit zu großen Lücken in den regionalen Gesundheitssystemen geführt hat. In der tragischen Phase der „öffentlichen Gesundheit“ ist dies offensichtlich geworden. Der Begriff „öffentliche Gesundheit“ selbst umfasst sowohl die Chance als auch das Bedürfnis nach Umsetzung gemeinsamer Gesundheitsmaßnahmen – mit möglichen regionalen Ausnahmeregelungen, auf jeden Fall aber innerhalb des allgemeinen Regelwerks.
Die Schwierigkeit der zentralisierten Verwaltung offenbarte sich darin, wie das Regierungsdekret, die Verordnung des Ministerpräsidenten, angewendet wurde. So wurden zunächst von einer Region und am nächsten Tag von einer anderen Änderungen in dem Erlass vorgenommen, häufig mit dem einzigen Ziel, die Entscheidungsautonomie der regionalen Gesundheitsbehörden hervorzuheben. Ganz zu schweigen von den Zusammenstößen zwischen benachbarten Regionen, als Militärlastwagen die Särge zu ihrem endgültigen Bestimmungsort – den Massengräbern – transportierten.
In diesen Tagen beginnt eine von der Regierung geförderte serologische Screening-Kampagne mit 150.000 Italienern, um auf der Grundlage definierter Parameter verlässliche Daten zur Prävalenz der Infektion zu erhalten. Mit geeigneten Algorithmen sollen die Ergebnisse auf unsere gesamte Bevölkerung projiziert werden. Unabhängig davon hatten zuvor sechs italienische Regionen drei Tage lang serologische Tests durchgeführt – mit unterschiedlichen Schemata, Probeentnahmestrategien, Technologien etc. Und all das nur, weil sich jede Region trotz der Kosten und der für die nationale Gesundheit unerheblichen Ergebnisse einer autonomen Strategie rühmen möchte.
Wie lange werden Sie unsere Geduld missbrauchen?
Leider enden die Ungleichheiten zwischen dem Süden und dem Norden Italiens nicht bei Verwaltung und Organisation des Gesundheitswesens. Noch deutlicher werden sie bei der Analyse der Produktivität: In den ersten beiden Monaten des Jahres 2020 lag das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Süden um 45 % unter dem Wert des Nordens. Durch den chronischen Mangel an funktionierenden Infrastrukturen und spezialisierten Industrien, die geringe Verbreitung des Telematiknetzes sowie die Verzögerung der technologischen und IT-Entwicklung besteht die Gefahr, dass die erhoffte Erholung im Süden in Phase 2 (der Pandemie, Anm. d. Ü.) verzögert und fragmentiert wird.
All dies wird zu einer weiteren Zunahme von Armut und einer gefährlichen allgemeinen Unzufriedenheit führen: ideale Bedingungen für Kriminalität und die Rückkehr der Mafia-Kontrolle von Verwaltung und Sozialstrukturen. Eine Hypothese, die sich angesichts des Rückgangs des Sommertourismus verstärkt, der einen wichtigen Faktor für die Wirtschaft des Südens und die saisonale Beschäftigung darstellt. Damit wächst das Risiko einer Instabilität des demokratischen Systems im ganzen Land. Ein wichtiger Wassertropfen im Meer lokaler Probleme könnte die Unterstützung der am stärksten in die Krise geratenen Produktionsbereiche durch einzelne Regionen nach dem Vorbild des in Kampanien umgesetzten sozioökonomischen Plans für Coronaviren sein.
Unsichere Zukunft
In der globalen Gesundheitstragödie Corona sind viele Todesfälle zu verzeichnen. (Bis zum 9.12.2020 wurden in Italien mehr als 1,77 Millionen Infektionen und 61.739 Tote aufgrund des Coronavirus gezählt, Anm. d. Ü.). Hinzu kommen Todesfälle durch Armut und Suizid. Ein echtes Kriegsbulletin, begleitet von Angst und Unsicherheit angesichts einer Zukunft, die schwer zu leben und noch schwieriger vorstellbar ist. Diese Situation wird nicht so bald enden, vor allem wenn Dummheit und Selbstsucht vorherrschen.
Bei Erwachsenen dominieren die Angst vor Misserfolg sowie Depressionen aufgrund von Einsamkeit und der Sorge vor möglichem Arbeitsplatzverlust. Neben dem Verlust von Freundschaften haben bei jungen Menschen Schlaflosigkeit – durch die nächtliche Nutzung von sozialen Medien, Videospielen usw. –, Ängste durch Schulunterbrechungen und sich verschlechternde Beziehungen zu den Eltern zugenommen. Eine vor allem für psychisch labile Personen gefährliche Entwicklung.
Vor ein paar Tagen wurde unsere Stadt durch die Nachricht vom Tod zweier junger Menschen im Alter von 13 und 14 Jahren erschüttert, die sich vom Balkon gestürzt hatten. Die Kette der Solidarität wird heute von Angst und Selbstzweifeln bestimmt; wir alle fühlen uns einsamer und wir werden unsicher, zerbrechlich, ängstlich und immer weniger fähig, unseren Blick und Geist über die Gegenwart hinaus zu richten. Die am häufigsten gestellte Frage lautet: Wie wird es in ein paar Monaten sein? Der Blick in die Zukunft erfordert Geduld, Vorsicht, gesunden Menschenverstand, Verfügbarkeit gegenüber anderen, Vertrauen in andere und in sich selbst. Und wir müssen alle im gleichen Tempo und in die gleiche Richtung marschieren, wobei unser Ziel die universelle Niederlage des Virus ist. Das ist eine wesentliche Voraussetzung für die Wiederaufnahme einer neuen, anderen, ruhigeren Lebensweise, in der das Verhältnis zur Wirtschaft – Deus ex macchina unserer Gesellschaft, der den Menschen versklavte und sich nicht in dessen Dienste sah – absolut neu interpretiert werden muss.
Kampf gegen Ungleichheit
Wir müssen wieder zur Schule gehen, um die Werte zu überprüfen, die das Überleben dieser Welt garantieren können. Das Wissen, wie man das genießt, was bereits vorhanden ist – und dies ist nicht wenig – kann reichen. Auch der Kampf gegen Ungleichheit und gegen das Elend der bisher auf der anderen Hälfte dieser Welt lebenden Völker gehören dazu sowie das Wissen um die globale wirtschaftliche Instabilität und das Bewusstsein, dass das Gleichgewicht in der Umwelt zu einer Bedingung geworden ist. Das Überleben aller muss zum Hauptthema der Diskussion und der politischen Entscheidungen der Regierungen werden, die in diesen Tagen vielleicht endlich das wachsende Knarren eines abgenutzten, etwas instabilen, selbstsüchtigen Pyramidensystems mit einer zunehmend breiten Basis und immer enger werdenden Spitze erleben. Eines Systems, in dem die Macht möglicherweise nicht mehr genügend Ressourcen findet, um soziale Unzufriedenheit und Zukunftsangst auszugleichen.
Es ist eine gewaltige Prüfung für die Menschheit, die es satt hat zu rennen, um ein falsches, vergängliches Glück zu erreichen. Wenn Sie Ihren Blick dabei nur nach vorne richten, übersehen Sie viele großartige Lebensbilder: einen grünen Rasen mit Blumen etwa, spielende Kinder, ein blaues Meer mit Segelbooten, einen klaren Himmel und einen Vogelschwarm, die unschuldigen Augen eines Mädchens und die eines älteren Mannes, der das Land kultiviert, und das Bild von Bäumen voller Früchte, die nicht gepflückt werden, weil Anerkennung und Menschenwürde versagt bleiben.
Dieses Bilderalbum kann wiederbelebt werden, wenn das Gleichgewicht zwischen einer gesunden Umwelt und einem produktiven System so akzeptiert wird, wie es das Überleben unserer Welt erfordert. Wir müssen daher wieder den Menschen in den Mittelpunkt stellen und unser altruistisches Augenmerk auf die Verteilungsgerechtigkeit richten, deren Verletzung immer zu Gewalt führt.
Forderung nach tiefgreifender Veränderung
Ich möchte Ihnen eine Reflexion in der Enzyklika „Laudato sÍ“ von Papst Franziskus ans Herz legen. Sie wurde im Mai 2015 verfasst, lange vor den aktuellen Ereignissen, und doch scheint sie die sozialen und moralischen Fragen in einer Zeit des raschen Wandels vorwegzunehmen: „Die außerordentlichen wissenschaftlichen Fortschritte, die erstaunlichsten technischen Meisterleistungen, das wunderbarste Wirtschaftswachstum wenden sich, wenn sie nicht von einem echten sozialen und moralischen Fortschritt begleitet sind, letztlich gegen den Menschen.“ Alle Bestrebungen, die Welt zu hüten und zu verbessern, setzen vor allem voraus, „dass sich die Lebensweisen, die Modelle von Produktions und Konsum und die verfestigten Machtstrukturen (von Grund auf) ändern, die heute die Gesellschaft beherschen.“ Mit diesen Worten schließe ich (meinen Text) nachdenklicher als zuvor.
Dott. Giovanni D’Angelo, Präsident der Ärzte- und Zahnärztekammer der Provinz Salerno
(Übersetzung: Katja Möhrle)
Die Beiträge in der Rubrik „Ansichten & Einsichten“ geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.