„Covid-19 aktuell“: Fortbildung mit Experten aus Medizin und öffentlichem Gesundheitswesen
Was hat sich im Umgang mit Covid-19 bewährt? Und was sollte sich ändern? Die Experten aus Klinik, Praxis und Öffentlichem Gesundheitswesen, die auf einer moderierten ärztlichen Fortbildungsveranstaltung „Covid-19 aktuell“ der Akademie für Ärztliche Fort- und Weiterbildung der Landesärztekammer Hessen in Bad Nauheim am 18. November 2020 Fakten und Perspektiven der Pandemiebekämpfung vorstellten, waren sich einig: Wichtig sind eine verbesserte Kommunikation und klare Zuständigkeiten.
Praktiker kommen zu Wort
Täglicher Lagebericht des RKI, Infektionsfälle, Altersverteilung und Mortalität: Es gäbe viele Daten über das Infektionsgeschehen, stellte Prof. Dr. med. Ursel Heudorf, ehemalige stellvertretende Leiterin des Frankfurter Gesundheitsamtes und Moderatorin der Fortbildung, in ihrer Einführung fest. Auf der Fortbildungsveranstaltung mit Prof. Dr. med. Maria J. G. T. Vehreschild, Leiterin der Infektiologie am Universitätsklinikum Frankfurt, Dr. med. Eckhard Starke, Stv. Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen (KVH), und Prof. Dr. med. René Gottschalk, Leiter der Frankfurter Gesundheitsamtes, sollten dagegen Praktiker vor Ort zu Wort kommen.
Vehreschild, per Video zu der Veranstaltung zugeschaltet, schilderte rückblickend ihre Erfahrungen mit Covid-19-Behandlungen und Strategien: angefangen mit der Testung von 126 Passagieren eines Repatriierungsfluges aus Wuhan am 31. Januar 2020 über die Bildung einer Taskforce am Universitätsklinikum Frankfurt unter ihrer Leitung und der vorübergehenden Umfunktionierung des Klinikhauptgebäudes zum maximalen Belegungszeitpunkt im April mit 48 gleichzeitig zu behandelnden Covid-19-Patienten.
„Das Konzept wurde innerhalb von zwei Wochen umgesetzt“, so Vehreschild. Möglich geworden sei dies durch das Krankenhausentlastungsgesetz, den damals entstandenen „Planungsstab Hessen“ unter der Leitung des Hessischen Ministeriums für Soziales und Integration sowie die außergewöhnlich hohe Einsatzbereitschaft der Krankenhausmitarbeiterinnen und -mitarbeiter. Das Wichtigste, was man in der ersten Jahreshälfte geplant habe, „waren transparente Kommunikation, Motivation und Verfügbarkeit des Personals, effiziente Test- und Hygienemaßnahmen sowie Verfügbarkeit von Ressourcen – Equipment, Schutzausrüstungen“.
„Nach dem Rückgang der Corona-Infektionen im Sommer ist aktuell ein neuer Höchststand von Covid-19-Patienten in Deutschland zu verzeichnen, so auch am Universitätsklinikum Frankfurt“, berichtete Vehreschild. Als „sehr schmalen Grat und große kommunikative Aufgabe“ bezeichnete sie die Herausforderung, die Versorgung von Covid-19-Patienten zu leisten, ohne dabei die Versorgung von Nicht-Covid-Patienten zu vernachlässigen. Die Forderung der DIVI (Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin) nach unverzüglicher Einstellung des Regelbetriebs nannte Vehreschild einen „sehr sensiblen Punkt“.
Knappe Marge an Intensivbetten
„Bei dem Personal kratzen wir an unseren Grenzen“, sagte Vehreschild. Sie sehe daher eine „knappe Marge an faktisch betreubaren Intensivbetten“. Auch nehme die hohe Motivation des Personals im Unterschied zur ersten Jahreshälfte durch anhaltend hohe Belastung ab. „Es mangelt außerdem an der eingangs hohen Anerkennung.“ Nicht zuletzt sei die Verfügbarkeit des Personals stark eingeschränkt, da viele Krankenhausmitarbeiterinnen und -mitarbeiter an Covid-19 erkrankten. Dabei gingen die Infektionen nicht von den Intensivstationen aus, deren Hygienemaßnahmen wirkten, sondern vom privat-persönlichen Bereich. Was die Therapie von Covid-19 betrifft, machte Vehreschild deutlich, dass es zu Beginn der Pandemie keine Behandlungsstandards gegeben habe, man Erfahrungen habe sammeln müssen und jetzt die Patienten „ruhiger“ und symptombezogen behandeln könne.
„Unser Vorteil: viele niedergelassene Ärztinnen und Ärzte“
„Wir müssen darüber diskutieren, was wir in Zukunft anders machen können, und Schwachpunkte der gesundheitlichen Versorgung bekämpfen“, forderte Dr. med. Eckhard Starke, Facharzt für Allgemeinmedizin, Stellv. Vorsitzender der KVH und Delegierter der Landesärztekammer Hessen. Diese Aufgabe gelte es gemeinsam zu stemmen. Mit Unterstützung der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte, die an die Grenze des Machbaren gegangen seien, habe die KVH in der Vergangenheit viel erreicht. „Gerade unser System mir der Vielzahl niedergelassener Ärzte war unser großer Vorteil“, so Starke weiter. „Das müssen wir im Hinterkopf behalten, wenn wir die Herausforderungen der Zukunft bewältigen wollen.“
Im Planungsstab des Hessischen Ministeriums für Soziales und Integration (HMSI) zur Versorgung von Covid-19-Patienten sei es von Anfang an auf die Versorgungsfähigkeit, die Koordinierung des Versorgungsgebietes und die Definition der Eskalationsstufen im Verlauf der Covid-19-Pandemie angekommen. „Es war Neuland“, urteilte Starke rückblickend. Man habe alles gemeinsam erarbeitet: Hessenweit wurden 15 Covid-19-Koordinierungscenter und zentrale SARS-CoV-2-Untersuchungsstellen für Verdachtsfälle aufgebaut. Darüber hinaus wurden 63 Corona-Schwerpunktpraxen als freiwillige Zusammenschlüsse etabliert und Fahrdienste eingerichtet. Zusätzlich zu den Schwerpunktpraxen hätten sich über 390 Arztpraxen beteiligt, sagte Starke. „Wichtig war, schwere Verläufe rechtzeitig zu erkennen.“
Im Laufe der Monate seien die Testungen mit vielen Änderungen und oftmals kurzem Vorlauf angepasst worden: „Hier muss man sich perspektivisch Gedanken machen: Wer wird getestet: symptomatische oder asymptomatische Patienten?“, sagte der Stv. Vorsitzende der KVH und riet Ärztinnen und Ärzten zu einem zurückhaltenden Einsatz der Tests. Starke wies darauf hin, dass derzeit in Deutschland zwischen 1,2 und 1,5 Millionen Testungen wöchentlich erfolgten. Man befinde sich an den Kapazitätsgrenzen.
Verbesserungsmöglichkeiten bei der Pandemiebekämpfung sah Starke u. a. in Entbürokratisierung und Digitalisierung sowie in der Zentralisierung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD). Das für die ambulante Notfallversorgung konzipierte SaN-Modell habe das Potenzial für einen ganzheitlichen, sektorenübergreifenden Ansatz, alle Beteiligten bei der Gesundheitsversorgung mit einzubeziehen – unter dem Aspekt einer regionalen oder pandemischen Infektionswelle auch den Öffentlichen Gesundheitsdienst. Dies wäre ein wesentlicher Vorteil und ein großer Schritt für die Versorgung über die Sektorengrenzen hinweg.
Vor allem aber bezeichnete Starke die Optimierung der Kommunikation als dringend erforderlich. „Wir müssen über die Kommunikation mit der Bevölkerung reden, um eine Polarisierung der Gesellschaft zu verhindern.“
Impfzentren geplant
Starke richtete einen weiteren Blick in der Zukunft: Die Impfung werde eine große Herausforderung. Sofern die Impfstoffe gegen Covid-19 von den Behörden genehmigt werden, werden in Hessen Impfzentren eingerichtet. Dort sollen in den kommenden Monaten hessenweit 30.000 Menschen pro Tag geimpft werden.
Zur Beurteilung der Versorgungskapazitäten u. a. von Covid-19-Patienten in Hessen hatte der Stv. Vorsitzende der KVH den webbasierten Interdisziplinären Versorgungsnachweis IVENA eHealth gelobt, der vom Frankfurter Gesundheitsamt entwickelt wurde. IVENA ist eine Anwendung, mit der sich die Träger der präklinischen und klinischen Patientenversorgung jederzeit in Echtzeit über die aktuellen Behandlungs- und Versorgungsmöglichkeiten der Krankenhäuser der Region informieren können.
Forderung nach Einbeziehung des ÖGD in das Expertengremium
In seinem Vortrag hob Prof. René Gottschalk, Leiter des Frankfurter Gesundheitsamtes, die Bedeutung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) bei der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie hervor und forderte die Bildung eines Expertengremiums zur Beratung der Politik, in dem der ÖGD vertreten sein müsse. Ausführlich widmete sich Gottschalk verschiedenen Publikationen des RKI und machte dabei auf Fehler, insbesondere bei der Darstellung des Sterbefall-Monitorings in Deutschland, aufmerksam. So seien alle im Krankenhaus verstorbenen Patienten, bei denen eine Covid-19-Infektion festgestellt wurde, als Covid-Tote gewertet worden – unabhängig davon, welche Ursache tatsächlich zum Tod geführt habe. Gottschalk wies auf die Influenza-Pandemie 2009 hin, bei der zwar kaum Todesfälle zu beklagen waren, die aber eine hohe Morbidität verursachte. Alleine in Frankfurt wurden während der Pandemie, die deutlich kürzer war als die Covid-19-Pandemie, 145.000 Fälle geschätzt, die entweder ambulant oder stationär versorgt wurden. Diese Zahlen habe man bei Covid-19 bisher längst noch nicht erreicht: „Wir sind bei ca. 13.500 Fällen in Frankfurt am Main.“
Bei der Eindämmung der Pandemie komme es auf den „gesunden Menschenverstand“ an, erklärte der Leiter des Frankfurter Gesundheitsamtes. Ausdrücklich hob er die Wirksamkeit von Atemschutzmasken hervor und bedauerte, dass es nicht gelungen sei, ein Maskentragegebot umzusetzen. „Dies hätte in vielen Bereichen die teilweise massiven Einschränkungen verhindern können.“ Nicht zu rechtfertigen sei, dass Bewohner von Alten- und Pflegeheimen durch eine einschränkende Besuchsregelung gegängelt worden seien.
Als entscheidende Mittel einer Pandemiebekämpfung bezeichnete Gottschalk die Risikokommunikation vor und die Kommunikation während der Krise. Was passiere, wenn diese Instrumente nicht erfolgreich eingesetzt würden, sei bei den sogenannten Querdenkern zu beobachten. Als Fazit seiner Ausführungen fasste der Referent zusammen, dass Covid-19 für 80 Prozent der Erkrankten eine kaum beeinträchtigende Infektion sei, 20 Prozent erkrankten schwer und 2 Prozent von ihnen bedürften intensivmedizinischer Behandlung.
Katja Möhrle