Hinweise zur Förderung der Impfbereitschaft gegen das Coronavirus

Dieser Beitrag ist ein Nachdruck aus der „Ärzte Zeitung“ vom 22.01.2021. Wir bedanken uns beim Springer Medizin Verlag GmbH für die Nutzungsrechte.

Pocken

1874 wurde im gesamten neu gegründeten Deutschen Reich durch das erste „Reichsimpfgesetz“ die Impfpflicht gegen die Pocken – eine gefährliche Seuche mit hoher Sterblichkeit – eingeführt. Diese Entscheidung der Berliner Gesundheitsadministration für ganz Deutschland erfolgte unter dem zum ersten Deutschen Kaiser aufgestiegenen preußischen König Wilhelm I. nach Ende des Krieges gegen Frankreich 1870–1871.

Die Impfpflicht entstand unter der Erfahrung und Dokumentation, dass die preußischen Soldaten, pflichtgeimpft gegen die Pocken, als Bewacher vieler französischer Gefangener nicht erkrankten waren, als in den Gefangenenlagern eine Pockenepidemie ausgebrochen war, die viele Franzosen das Leben kostete. Diese waren nicht geimpft. Die Epidemie grassierte dann zwei Jahre vornehmlich in Preußen. Mehr als 100.000 Zivilisten aller Altersgruppen fielen ihr zum Opfer. Das geimpfte preußische Militär blieb nahezu unbeschadet.

Bereits 50 Jahre zuvor hatte Großherzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach die freiwillige Pockenimpfung in seinem Herzogtum eingeführt, als Johann Wolfgang von Goethe, sein ältester Staatsminister, noch in die Staatsgeschäfte verwickelt war. Goethe äußerte sich mehrfach mit tadelndem Unverständnis gegen die damaligen Impfgegner und verwies ausdrücklich auf die gesammelten Erkenntnisse der Fachleute seiner Zeit. Insbesondere auch aus England, wo die Impfung mit dem Namen Dr. Jenner verknüpft bleiben wird.

Die damalige Polemik gegen die Pockenimpfung unterschied sich in ihrer Unsachlichkeit nicht von den Aktivitäten der heutigen illustren Runde von militanten Impfgegnern. Und in den Reihen der Zweifler und Bedenkenträger fanden sich auch immer Ärzte, die mit teilweise haarsträubenden, falschen Argumenten und Gefälligkeitsattesten die staatlichen Vorgaben zu unterlaufen suchten.

Im ersten Reichsimpfgesetz von 1874 wurde deswegen die Agitation gegen die Pockenimpfung unter Strafe gestellt. Das Ausstellen von getürkten Attesten wurde strafbar (bis heute!).

Rund einhundert Jahre später hat die WHO im Jahre 1980 die Eradikation der Pocken von diesem Globus bekannt gegeben – durch ein weltweites Impfprogramm. Das Wissen um diese Menschheitsseuche ist seitdem weitgehend verloren gegangen. Weswegen diese Erfolgsmeldung der Eradikation nur in einem kleinen Kreis von Kundigen lauten Beifall bekommen hat. Dabei ist diese bemerkenswerte Erfolgsgeschichte nur entstanden im Zusammenwirken von Forschung, Erfindung und Versorgung mit der Organisationskraft großer Organisationen und Menschen, denen das Prinzip des rationalen Denkens und Handelns auf der Basis gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse nicht abhanden gekommen ist.

Polio

Es ist gerade mal gut 60 Jahre her, da erkrankten in den Sommermonaten allein in der alten BRD vier- bis fünftausend Kinder an der Kinderlähmung. Viele davon schwer, es gab manche Tote, und sehr viele trugen bleibende Muskellähmungen davon, die als Dauerbehinderung das Leben dieser Kinder prägten. Das Krankheitsbild war so eindringlich und nachdrücklich, dass es von niemandem bagatellisiert wurde – und sich in das kollektive Gedächtnis der damaligen Generationen einprägte.

Meine ersten ärztlichen Schritte nach dem Examen führten mich in dieser Zeit auf die Poliostation des Schwabinger Kinderkrankenhauses in München. Wir verfügten über eine Beatmungsmöglichkeit für die schwersten Fälle von Kinderlähmung, bei denen das Virus die Atem- und Zwerchfellmuskulatur lahmgelegt hatte. Eine tödliche Komplikation. Und eine dramatische und quälende Situation für die Kinder und ihre verzweifelten Eltern.

Die Gerätschaft zur künstlichen Atemhilfe trug den Namen „Eiserne Lunge“. Die älteren Buben mit schon einigen Wochen Stationserfahrung nannten die Metallröhre, in die der Körper unterhalb des Halses hinein musste (der Kopf blieb draußen), „Schneewittchensarg“. In allen medizinhistorischen Museen unseres Landes stehen diese Relikte der ersten Beatmungsmaschinen zur Erinnerung an eine besonders schlimme Zeit der kompletten Hilflosigkeit.

Es braucht nicht viel Fantasie, sich auch heute noch vorstellen zu können, wie man sich fühlen muss, wenn man betroffen wäre.

1961/1962 begannen in Ost- und Westdeutschland die Polioimpfprogramme mit den beiden Impfstoffen, die bis heute mit den Namen Salk und Sabin verknüpft bleiben (Schlucken oder Spritze).

Binnen eines Jahres zählte die Polio-Erkrankung in Deutschland bereits zu den seltenen Ereignissen. Die Schwabinger Spezialstation konnte geschlossen werden.

An irgendwelche breite Diskussionen über den Nutzen und eventuellen Schaden der Impfung kann ich mich nicht erinnern, obwohl durch einen Produktionsfehler kurzzeitig einige Fälle von „Impfpolio“ auftauchten.

Europa und USA wurden ziemlich schnell von dieser schweren Plage – insbesondere für Kinder – befreit. Dass vornehmlich Kinder von diesem Lähmungsvirus befallen wurden, hängt damit zusammen (wie man damals bereits vermutete), dass von mehr als 100 Infizierten höchstens einer erkrankte. Weswegen die meisten Menschen durch diese Infektion still gefeit wurden und lebenslang immun blieben.

Vor wenigen Monaten – im Oktober 2020 zum jährlichen Weltpoliotag – berichtete der WHO-Europa-Regionaldirektor Dr. Hans Henri P. Kluge, eine weitere sensationelle Erfolgsmeldung vom Rang der Pockeneradikation:

Zwei der drei gefürchteten Wildtypen des Poliovirus seien weltweit durch die Impfprogramme verschwunden. Der dritte und letzte Wildtyp findet sich heute nur noch in zwei Ländern mit kleinen lokalen Krankheitsausbrüchen. Afrika ist poliofrei!

Dank umfangreicher Impfprogramme gegen das Poliovirus wurde aus einer weltweiten Seuche, die vornehmlich Millionen von Kindern heimsuchte, eine Orphan Disease.

In Deutschland sind Pocken und Polio aus dem kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung verschwunden. Dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen den Impfungen im Kindesalter und der Eradikation gefährlicher Infektionskrankheiten geben könnte, ist in breiten Kreisen unserer Bevölkerung unbekannt. Während der unbegründete Glaube, man sei gesund und immun und bedürfe keiner Impfungen, dagegen äußerst weit verbreitet ist.

Aufklärung neu denken

Der Expertenseufzer: „Wir sind die Opfer unsere eigenen Erfolgs!“ darf nicht ungehört verhallen.

Mit dem Start der ersten Impfungen gegen Covid-19 zum Jahresende 2020 erhalten wir alle die große Chance, uns aus der globalen Fesselung dieser schweren Pandemie zu befreien.

Hört man sich allerdings derzeit in der Praxis, im Bekanntenkreis oder als Lehrer in einer Oberstufe um, dann ist Impfskepsis bei jungen Menschen weit verbreitet. Bei Älteren bis ungefähr 55 Jahre vermerkt man eine erhebliche Unsicherheit bei der Zustimmung zum Impfen. Nur die Alten und ganz Alten, die das Poliodesaster vor 60 Jahren noch in Erinnerung haben, sind mehrheitlich impfbereit. Diese rein anekdotische Momentbeobachtung stimmt leider gut überein mit aktuellen repräsentativen Umfrageergebnissen.

Wenn wir jedoch Covid-19 besiegen wollen, wie weiland das Polio- und davor das Pockenvirus, benötigen wir eine hohe Impfbereitschaft breitester Bevölkerungsschichten. Dieses Expertenwissen in die Bevölkerung überzeugend hereinzutragen ist eine Aufgabe der Aufklärung. Seit Immanuel Kant (1784) wissen wir, dass die Aufklärung das Ziel hat, „die Menschen aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit zu befreien“.

Es gibt bereits jetzt hinreichend gute und viele Informationen zur Covid-19-Impfung. Broschüren, Flyer, Anzeigen, Aufrufe und Appelle. Presse , Rundfunk und die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten beteiligen sich engagiert. Zumindest in deutscher Sprache besteht eine breite Basis der klassischen Aufklärungsoffensive.

Dennoch muss man die Frage stellen: Reicht dieses „klassische“ Kant’sche Instrumentarium der Aufklärung heute im Jahr 2021?

Denn sehr viele Menschen, insbesondere die jüngere digital affine Generation, orientieren sich in ihren Informationen über das Zeitgeschehen nicht mehr an dem, was Zeitung, Rundfunk und Fernsehen berichten, sondern an den sogenannten sozialen Medien.

Es ist zu vermuten, dass an mir unbekannten Stellen bereits die Verantwortlichen für eine passgenaue Informationskampagne in diese breite Bevölkerungsgruppe hineinarbeiten.

Nichts scheint mir leichter, als die noch zeitnahe Erfolgsgeschichte des Sieges über die Kinderlähmung durch das damalige Impfprogramm zu erzählen. Denn aus dieser Zeit gibt es reichlich Filmmaterial, noch lebende Zeugen und die Eisernen Lungen als Symbol für künstliche Beatmung, die zur Zeit so vielen Menschen mit Covid-19 die letzte Chance zum Überleben bietet (freilich mit ganz anderer Technik).

Wenn es „Influencer“ in diesen sozialen Medien gibt, die Follower finden für dies und das, dann sollte dies für die gute Sache der Covid-19-Impfung erst recht machbar sein. (Auch wenn ich keine Ahnung habe, wie so etwas geht, da es nicht meine Welt ist.)

Zu notorischen Impfgegnern und Gefahrverleugnern von Virusinfektionen hat bereits Deutschlands größter Dichter Goethe alles Wesentliche gesagt, obwohl dessen damalige Wissensbasis noch sehr klein war. Dem ist nichts Grundsätzliches hinzuzufügen.

Jeder Arzt weiß, dass es bei allen schweren Wahrnehmungsstörungen immer auch Non-Responder gibt, denen man nicht helfen kann. Aber auch diese lautstarke und dennoch kleine Gruppe samt ihrer Angehörigen profitiert – wenn auch unverdient und vielleicht sogar ungewollt – am großen bevölkerungsmedizinischen Nutzen einer jeden Impfung.

Dr. med. Jürgen Bausch, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Landarzt in Bad Soden-Salmünster