Interview mit Dr. med. Nikos Stergiou zur Errichtung eines Hospizes in Rodgau

Herr Dr. Stergiou, die Idee zur Errichtung eines stationären Hospizes für den Kreis Offenbach kam Ihnen im Jahr 2011. Was war der Auslöser?

Dr. med. Nikos Stergiou: Im Rotary Club1 Rodgau, bei dem ich auch Mitglied bin, waren wir auf der Suche nach einem Projekt mit lokalem Bezug. Da ein Hospiz im Kreis Offenbach zur Versorgung der dort lebenden Menschen noch fehlte, fiel schnell der Entschluss, unser Engagement darauf zu konzentrieren. Ein niedergelassener Kollege und ich als Krankenhausarzt konnten die Notwendigkeit einer solchen Einrichtung in unserer Region, auch durch die Diskussion mit Vertretern der dort sehr aktiven ehrenamtlichen Hospiz- und Palliativdienste, plausibel darlegen. Dass unsere Patientinnen und Patienten sich für Hospize außerhalb der Kreisgrenzen auf Wartelisten eintragen mussten, empfanden wir als unerträglich und einer gesunden Gesellschaft unwürdig.

Wie gingen Sie vor, um Ihre Vision von einem Hospiz für die Region zu verwirklichen?

Stergiou: Die Grundlage für ein solches Projekt ist die solide finanzielle Planung. Hierfür war es notwendig, unter der Verwendung von Eigenkapital eine Stiftung zu gründen, was im Jahre 2014 endlich gelang. Hiernach waren die Standortfrage und die Frage eines zukünftigen Betreibers zu klären. Die Wahl des Standortes fiel auf die Stadt Rodgau und wir hatten das Glück, mit der Mission Leben einen gerade in der Altenpflege und Altenbetreuung sehr erfahrenen Partner zu gewinnen. Ab diesem Moment ging es um „banales Geldsammeln“, also neudeutsch Fundraising. Die Zusage der Frankfurter Wertestiftung, sich zu beteiligen, war dann der Rückhalt, der für eine solche Aufgabe erforderlich ist.

Sie müssen sich das so vorstellen: Das Projekt wurde weder vom Bund noch vom Land bezuschusst. Auf der Kommunalebene konnten alle 13 Kreisgemeinden mit je 20.000 € sowie der Landkreis selbst für das Projekt gewonnen werden. Hierfür mussten zuvor alle Magistrate und Stadtverordnetenversammlungen, alle Bürgermeister einzeln aufgesucht werden. Dennoch stand bürgerschaftliches Engagement in Form von Zustiftungen von spendewilligen Privatpersonen, Schulen und Vereinen im Zentrum, aber letztlich auch der Industrie, des Handels, des Handwerks und des Finanzwesens.

Wenn Sie heute – nach der jahrelangen Spendenaktion, die auch eine Vielzahl von Ärztinnen und Ärzten aus dem Kreis Offenbach gestemmt hat – zurückblicken: Welche Schwierigkeiten standen der Projektarbeit besonders im Wege?

Stergiou: Rückblickend trafen wir auf überraschend wenige Widerstände, weil das Projekt in seiner Sinnhaftigkeit zu überzeugen wusste und wir überall offene Türen vorfanden. Für die treibenden Kräfte war es aber herausfordernd, über die vielen Jahre die Spannung zu halten und hinsichtlich der Einsatzbereitschaft nicht nachzulassen. Das Sammeln von Zustiftungen, bis wir die selbstgesetzten Meilensteine von einer Million Euro Stiftungsvermögen erzielt hatten, bevor wir mit den Baumaßnahmen anfingen und zuletzt bis zum heutigen Tag 2,4 Millionen Euro an Zustiftungen haben einwerben können, erforderte von allen Beteiligten einen langen Atem.

Bis zur Einweihung der Einrichtung am 28. Februar 2020 vergingen neun Jahre. Wie war es für Sie, die Einweihung mitzuerleben?

Stergiou: Erst im Nachgang dieser wundervollen Einweihung – gerade noch rechtzeitig vor dem wenige Tage später beginnenden Lockdown – wurde uns bewusst, was wir geschaffen haben. Die Einweihung konnten wir mit 350 Gästen begehen. Große Dankbarkeit empfinde ich auch gegenüber Thomas Schäfer (CDU), dem damaligen hessischen Finanzminister, der sich dazu bereit erklärt hatte, oberster Gastredner zu sein.

Kommen wir zu den Aufnahmekapazitäten: In der Regel handelt es sich bei stationären Hospizen um Einrichtungen mit neun bis 16 Plätzen. Über wie viele Plätze verfügt das Hospiz am Wasserturm? Ist der Bedarf im Landkreis damit gedeckt?

Stergiou: Unser Hospiz verfügt über zwölf Plätze. Ein 13. Bett ist für die Unterbringung von Angehörigen im Notfall vorgesehen. Damit ist der Kreis Offenbach nach einer statistischen Berechnung von einem Hospizplatz je 30.000 Einwohner bei einer Gesamtbevölkerung von 360.000 Einwohnern zum aktuellen Zeitpunkt gut versorgt.

Dass wir uns alle in der Hospizlandschaft gegenseitig über Kreis- und Landesgrenzen helfen, ist aber selbstverständlich. Schließlich haben wir über viele Jahre von Hospizen außerhalb des Kreises Offenbach profitiert, wo wir unsere Patientinnen und Patienten bzw. Hospizgäste am Lebensende gut aufgehoben wussten.

Können Sie Ihr Geschäftsmodell beschreiben? Und wie sieht die finanzielle Sicherstellung des laufenden Regelbetriebs aus?

Stergiou: Unser Geschäftsmodell sieht vor, dass der Hospizbetreiber Mission Leben von uns, das heißt der Stiftung, das Gebäude mietet. Mit der Miete erwirtschaften wir einen Ertrag, von dem – nach Steuern und vorherigen Abzügen vor allem zur Instandhaltung des Hauses – ein Gewinn bleibt. Hinzu kommen noch Spenden, die der Stiftung auch zufließen, sowie Vermächtnisse. Diese müssen gemäß der Stiftungssatzung unserem Stiftungszweck zugeführt werden, der aber darin besteht, die Palliativ- und Hospizarbeit im Kreis Offenbach zu unterstützen. So kann mit dem verbleibenden Überschuss die bei einer Hospizbetreibung jährlich entstehende Kostenunterdeckung gedeckt werden.

Zum Hintergrund: In Deutschland werden lediglich 95 % der laufenden Betriebskosten eines Hospizes von dem Kostenträger (Krankenkasse) übernommen. Dadurch entsteht ein Defizit. Bei unserem Zwölf-Betten-Hospiz kann die Unterdeckung ca. 150.000 Euro im Jahr betragen – ein Defizit, das es durch Spenden an die Hospizstiftung aufzufangen gilt. Diese werden größtenteils von den Gästen bzw. deren Familien erbracht, die ihre Angehörigen gut betreut wissen. Die Hospizstiftung federt den Verlust des Betreibers ab.

Neben dem Ausgleich des jährlich entstehenden Defizits muss auch die minimale, aber doch vorhandene Fremdfinanzierung unseres Hospiz-Projektes zurückgezahlt werden. Es ist also weiterhin notwendig und Aufgabe der Hospiz Stiftung Rotary Rodgau, Zustiftungen einzuwerben. Ich denke, dass in einer gesunden Gesellschaft, die das Sterben nicht ausklammert, das Bewusstsein der Menschen zur Teilnahme an Spendenaktionen durch Aufklärung gefördert wird. „Geben ist seliger als Nehmen“, sagte schon meine Großmutter.

Neben Ihrer beruflichen Tätigkeit sind Sie im Ehrenamt auf eine vielfältige Weise aktiv – nicht nur als Vorstandsvorsitzender der Hospiz Stiftung Rotary Rodgau, sondern unter anderem auch als langjähriger Prüfer der Landesärztekammer Hessen für Innere Medizin und Gastroenterologie. Heißt das, dass unser Gesundheitssystem auf das Ehrenamt angewiesen ist?

Stergiou: Ich bin davon überzeugt, dass ehrenamtliches Engagement für eine humanitär agierende Gesellschaft unverzichtbar ist. Auch unser Gesundheitssystem ist derzeit auf ehrenamtliche Tätigkeit, gerade im Hospiz- und Palliativdienst, angewiesen, denn ohne diese wäre die Struktur, wie sie in den letzten Jahrzehnten in Deutschland aufgebaut wurde, undenkbar. Dass das Betreiben eines Hospizes aufgrund der Regelung niemals zu einer ausgeglichenen Bilanz führen kann (Kostendeckung durch die Kostenträger maximal 95 %) macht deutlich, dass ohne bürgerschaftliches Engagement das Ganze nicht gelingen kann.

Als Analogie möchte ich das Bild eines Stuhles bemühen: So wie der Stuhl vier Beine braucht, um nicht zu wackeln, ist auch eine gesunde Gesellschaft auf eine stabile Basis aus den vier Grundpfeilern „berufliche Sphäre“, „Familie“, „freundschaftliche Netzwerke“ und – gleichsam als sozialer Kitt – „gesellschaftliches Engagement“ angewiesen. Aber es muss in einem gut funktionierenden Gesundheitssystem das „Sahnehäubchen“ bleiben. Ehrenamt muss ehrenamtlich, also freiwillig sein, um nicht systematisch ausgenutzt zu werden.

Palliativmediziner werden regelmäßig mit Suizidwünschen ihrer Patienten konfrontiert. Glauben Sie, dass sich die Diskussion um den assistierten Suizid mit der Hospizarbeit vereinen lässt?

Stergiou: Meiner Überzeugung nach definiert sich der Hospizgedanke an sich als das Bestreben, das Leben am Lebensende möglichst lebenswert zu gestalten – d.h. so schmerz- und angstfrei wie möglich. Genau hier setzt die Palliativmedizin auch an, um die letzten Lebenstage nicht von den Suizidgedanken – so nachvollziehbar sie auch immer sein mögen – beherrschen zu lassen. So geht es z. B. bei der Symptomkontrolle manchmal auch darum, lebensverkürzende Effekte im Einzelfall akzeptieren zu müssen, um kein Leid zu verlängern. Hierbei spielt auch das Vertrauen zu uns Ärzten eine entscheidende Rolle: Da unsere Gäste weiterhin von ihren Hausärzten betreut werden können, müssen sie auf das bereits aufgebaute Vertrauensverhältnis nicht verzichten. Diesem Grundsatz des Hospiz- und Palliativgedankens, das Leben bis zum Schluss in seiner Lebenswertigkeit zu erhalten, läuft jedoch der Gedanke eines im Hospiz assistierten Suizids diametral entgegen.

Auf der Internetseite des Hospizes eröffnet der Abschnitt über die Stiftungsgeschichte mit der Behauptung, eine Gesellschaft sei so gesund, wie sie sich Kindern, Behinderten, Kranken, alten Menschen und Sterbenden gegenüber verhalte. Es sei unser aller Aufgabe dafür zu sorgen, dass der letzte Weg „nicht einsam, sondern gemeinsam und in Würde begangen werden kann“. Was bleibt nicht nur im Kreis Offenbach, sondern in ganz Hessen noch zu tun, um dieser Aufgabe gerecht zu werden?

Stergiou: Wenn nur jeder das macht, was er kann, und von keinem anderen verlangt, dass dieser etwas tut, woran er scheitert, dann ist die Welt ein Paradies. Wir müssen uns bemühen, neben Berufs- und Privatleben ein wenig von dem zurückzugeben, was wir während der letzten Jahre von einer gut funktionierenden Gesellschaft erhalten haben. Hierzu gehört auch das Engagement für Humanität und Würde am Lebensende. In meiner Vorstellung ist ein Leben in Deutschland eines der größten Privilegien, die man als Mensch in dieser Zeit haben kann.

Interview: Alla Soumm

Hospizlandschaft Hessen – Überblick

Daten: Wegweiser Hospiz- und Palliativversorgung, Stand: Dez. 2020 (kein Anspruch auf Vollständigkeit, www.wegweiser-hospiz-palliativmedizin.de)

Kategorie

Hessen

Bundesweit

Ambulante Hospizdienste

101

1310

Ambulante Hospizdienste (Kinder & Jugendliche)

8

154

Stationäre Hospize

20

236

Stationäre Hospize (Kinder & Jugendliche)

1

18

SAPV-Teams

27

290

SAPV-Teams (Kinder & Jugendliche)

4

45

Palliativstationen

21

323

Pallativstationen (Kinder & Jugendliche)

-

4

   

Überblick Bettenzahl Stationäre Hospize

Name der Einrichtung/des Angebots

Ort

Betten

Agaplesion Elisabethenstift Elisabethen-HospizDarmstadt12

Agaplesion Samaria Hospiz Gießen GmbH

Gießen

10

Evangelisches Hospiz Frankfurt am Main gGmbH

Frankfurt am Main

12

Gem. Hospizium Wiesbaden GmbH

Wiesbaden

16

Hospiz Arche Noah

Schmitten-Niederreifenberg

8

Hospiz Bergstraße gemeinnützige GmbH

Bensheim

10

Hospiz Fanny de la Roche

Offenbach

8

Hospiz am Wasserturm

Rodgau, Kreis Offenbach

12

Hospiz Frankenberg/Eder

Frankenberg

8

Hospiz Haus Emmaus

Wetzlar

8

Hospiz Kassel

Kassel

6

Hospiz Lebensbrücke gGmbH

Flörsheim

12

Hospiz Louise de Marillac

Hanau

8

Hospiz Sankt Katharina

Frankfurt

12

Hospiz St. Barbara

Oberursel

12

Hospiz St. Elisabeth zu Fulda

Fulda

8

Hospiz St. Ferrutius

Taunusstein

11

Hospizium, Hospiz Advena

Wiesbaden

16

Hospizium, Hospiz Hadamar

Hadamar

12

Mehrgenerationen-Hospiz Heilhaus

Kassel

8

Rotary-Hospiz Odenwald gGmbH

Erbach

8

St. Elisabeth-Hospiz gGmbH

Marburg

6

Dr. med. Nikos Stergiou (Foto) ist Facharzt für Innere Medizin, Schwerpunkt Gastroenterologie, mit Zusatzbezeichnungen Notfallmedizin, Palliativmedizin und Sportmedizin, Chefarzt der Abteilung für Innere Medizin mit Sektion Neurologie, Geschäftsführender Direktor des Zentrums für Innere Medizin und Geriatrie sowie Stellvertretender Ärztlicher Direktor der Asklepios Kliniken Langen-Seligenstadt.

1 Unter ihrer Dachorganisation Rotary International sind Rotary Clubs über Ländergrenzen hinweg verbreitete Gesellschafts- sowie Wohltätigkeitsklubs, zu denen sich Angehörige verschiedener Berufe unabhängig von politischen und religiösen Richtungen zusammengeschlossen haben. Zu den gemeinsamen Zielen der Mitglieder zählen humanitäre Dienste, Einsatz für Frieden und Völkerverständigung sowie Dienstbereitschaft im täglichen Leben.