Professionell gute Bedingungen für örtliche Selbsthilfegruppen schaffen

Carola Jantzen

In fast allen größeren Städten und Landkreisen in Hessen gibt es eine Selbsthilfekontaktstelle. Eine aktuelle Übersicht findet man im Internet unter: www.selbsthilfe-hessen.net.

In Kassel heißt diese Einrichtung KISS, das steht für Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen, in anderen Kommunen werden andere Abkürzungen verwendet. Gemeinsam ist allen das gleiche Aufgabenprofil. KISS Kassel ist am Gesundheitsamt Region Kassel angegliedert, wie circa ein Drittel aller hessischen Selbsthilfekontaktstellen an die jeweiligen Gesundheitsämter. Andere Träger sind gemeinnützige Vereine oder die Projekte gGmbH des Paritätischen Wohlfahrtsverbands in Hessen.

In der Kasseler Selbsthilfekontaktstelle sind zwei Fachberaterinnen (Soziale Arbeit und Psychologie) und eine Bürokraft in Vollzeit beschäftigt. Sie arbeiten für die Region von Stadt und Landkreis Kassel mit rund 440.000 Einwohnern und 240 Selbsthilfegruppen, die sich dort treffen. Professionelle Selbsthilfeunterstützung auf kommunaler Ebene findet in Kassel seit über 30 Jahren statt, insgesamt fünf der hessischen Selbsthilfekontaktstellen wurden Ende der 1980er-Jahre gegründet, die anderen kamen nach und nach hinzu, die (vorerst?) letzte vor zwei Jahren.

Finanzierung

Die Finanzierung ist eine Mischfinanzierung aus Fördermitteln der gesetzlichen Krankenkassen (gesetzliche Verpflichtung) und freiwilligen Mitteln der Kommune (ggf. auch durch Weiterleitung von Landesmitteln). Letztere sind für die Förderung der Krankenkassen zwingend erforderlich. Das ist der Grund, warum in drei hessischen Landkreisen (Hochtaunuskreis, Kreis Hersfeld-Rotenburg und Vogelsbergkreis) noch keine Selbsthilfekontaktstellen existieren. Für den Hochtaunuskreis berät die Selbsthilfekontaktstelle Frankfurt, für die beiden anderen Landkreise die Selbsthilfekontaktstelle Osthessen in Fulda.

Beratung bei der Suche nach geeigneter Selbsthilfegruppe

Bei KISS in Kassel werden im Jahr zwischen 800 und 1.000 Menschen auf der Suche nach einer geeigneten Selbsthilfegruppe überwiegend telefonisch beraten. Während es bei Gruppen zu körperlichen Erkrankungen oft nur um die Herausgabe von Kontaktdaten geht oder bei seltenen Erkrankungen darum, eine Gruppe in relativer Nähe herauszufinden, dauern die Beratungen beim Thema psychische Erkrankungen und Suchtproblemen schon etwas länger. Hier wird auch geklärt, ob Selbsthilfe die erste Anlaufstelle auf der Suche nach Hilfe sein soll, ob eine Gruppe besser am Wohnort oder in anonymer Umgebung aufgesucht werden soll.

Außerdem wird abgeklärt, ob das so genannte Zwölf-Schritte-Programm der anonymen Selbsthilfegruppen in Frage kommt, das eher spirituell orientiert ist und zu einem neuen Lebensstil verhelfen soll – ursprünglich von den Anonymen Alkoholikern (AA) entwickelt.

50 bis 70 % aller Beratungen in den hessischen Selbsthilfekontaktstellen beziehen sich auf Gruppen bei psychischen Erkrankungen. Hier spielt es auch eine Rolle, ob Psychotherapieerfahrung vorhanden ist, denn dies ist bei einigen Gruppen Teilnahmevoraussetzung, bei anderen nicht.

Bei der Empfehlung von Selbsthilfegruppen ist es vollkommen ausreichend, zur Beratung an eine örtliche Selbsthilfekontaktstelle zu verweisen, eine konkrete Gruppe muss nicht benannt sein. Wichtig ist hingegen, den Betroffenen zur Motivation generelle Informationen über Angebot und Wirkung von Selbsthilfegruppen mit auf den Weg zu geben.

Unterstützung der Gruppen

Eine wichtige Aufgabe von Selbsthilfekontaktstellen ist die Unterstützung der Gruppen mit Räumen für Gruppentreffen, die öffentlich zugänglich sind, aber eine geschützte Atmosphäre bieten. Dabei kann es sich um kontaktstelleneigene Räumlichkeiten handeln (in Kassel gibt es sechs), aber auch um Verweise auf günstige Angebote in der Region beispielsweise in Bürgerhäusern oder kirchlichen Gemeindezentren.

Fortbildung und Supervision

Neben sachlichen Informationen, die zudem oft von hervorragend organisierten Bundes- und Dachverbänden der Selbsthilfe zur Verfügung gestellt werden, vermitteln Selbsthilfegruppen vor allem persönliche Erfahrungen im Umgang mit einer Erkrankung, Behinderung oder besonderen Lebenslage. Für gelingende Gruppengespräche mit wertschätzender Atmosphäre ist die Einführung von einfachen Gesprächs- und Gruppenregeln sehr förderlich, wie beispielsweise eine Eingangs- und Abschlussrunde einzurichten und Erfahrungen in der „Ich-Form“ mitzuteilen statt Ratschläge zu erteilen.

Aufgabe der Selbsthilfekontaktstelle ist es, die Gruppen mit den Regeln bekannt zu machen und die Anwendung in der Praxis bei Bedarf zu begleiten, ganz unabhängig vom eigentlichen Gruppenthema. Hierzu werden von der Selbsthilfekontaktstelle Seminare zu verschiedenen Aspekten der Kommunikation angeboten, Gruppensupervision für Selbsthilfegruppenverantwortliche organisiert, Mediationsgespräche im Dreiersetting oder Konfliktberatung in der Gruppe durchgeführt. Die Selbsthilfekontaktstelle macht Angebote, die Teilnahme der Gruppenvertreter ist freiwillig. Gern angenommen wird das Angebot des Erfahrungsaustauschs untereinander, wie mit bestimmten Gruppensituationen umgegangen wird. Workshops zu Themen wie Pressearbeit, Finanzierungsfragen, Selbstmanagement und vieles mehr ergänzen die Palette der Fortbildungsangebote von Selbsthilfekontaktstellen.

Gruppenneugründungen

In Kassel gründen sich jährlich zwischen 12 und 20 neue Selbsthilfegruppen. Die meisten Gründungen werden von KISS intensiv begleitet, jedoch nicht selbst initiiert. Das Konzept der Selbsthilfegruppen funktioniert von Anfang an dann gut, wenn auch die Gründung von Betroffenen übernommen wird. Gruppengründer müssen kein Wissen mitbringen, sie sollten aber kommunikativ und nicht krisenhaft belastet sein.

Der Aufbau der Gruppe geschieht dann, wenn gewünscht, in enger Begleitung mit der Selbsthilfekontaktstelle, auch mit Anwesenheit bei den ersten Gruppentreffen als Begleitung, nicht als Leitung. Denn sobald eine Gruppe unter professioneller Leitung beginnt, verlassen sich alle auf die Fähigkeiten der Leitung und wagen es nicht, sich selbst zu erproben. Die Umstellung auf „Selbsthilfe“ ist nach einem solchen Beginn stets schwierig.

Betroffene oder Angehörige, die sich zutrauen, eine Selbsthilfegruppe zu gründen, sind rar. Ärzte, die geeignete Patienten dazu motivieren, sich mit dem Gedanken einer Gruppengründung zu befassen und sich an eine Selbsthilfekontaktstelle zu wenden, können hier sehr hilfreich sein.

Zugangswege schaffen

Eine der wichtigsten Aufgaben von Selbsthilfekontaktstellen ist es, die Vorzüge von Selbsthilfegruppen bekannt zu machen und den einzelnen Gruppen Gelegenheit zu geben, sich öffentlich vorzustellen. Hierzu werden Gruppenverzeichnisse in Selbsthilfewegweisern erstellt, Internetseiten ins Netz gestellt, Selbsthilfezeitungen herausgegeben und Selbsthilfetage mit Informationsständen der Gruppen organisiert, Pressekontakte vermittelt, sich bei örtlichen Events präsentiert. Vortragsveranstaltungen und Selbsthilfecafés sollen den Weg zu Selbsthilfegruppen leichter begehbar machen. Aber natürlich: Die Intensität dieser Angebote steigt und fällt mit der Personalausstattung der Selbsthilfekontaktstelle.

Zusätzlich sind Selbsthilfekontaktstellen Vermittlungsstellen zur Beteiligung von Betroffenen bei Forschung und Lehre, Gremien der Versorgungsplanung, Qualitätsmanagement in Krankenhäusern (besonders im Krebsbereich), neuerdings auf dem Weg zum „Selbsthilfefreundlichen Krankenhaus“, Beiräten medizinischer Dienste, der Leitlinienerstellung und vieles mehr.

Zum Teil nehmen Kontaktstellenmitarbeiter die Interessen der Betroffenen stellvertretend wahr. Das Einbringen der Perspektive der Betroffenen bietet echte Chancen. Es könnte im Bereich der ärztlichen Qualitätszirkel noch sehr viel stärker genutzt werden.

Aktuelle Corona-Beschränkungen

Selbsthilfegruppen sind Netzwerke für Betroffene und Angehörige, die in schwierigen Zeiten Orientierung und Halt geben. In den Zeiten des Lockdowns waren und sind reale Gruppentreffen in Hessen nicht erlaubt, seit November 2020 jedoch mit einer Ausnahmegenehmigung für Gruppen für suchtkranke und psychisch kranke Menschen zur Rückfallprophylaxe.

Viele Gruppen halten den Kontakt zu den Mitgliedern, sei es durch Video- oder Telefonkonferenzen, Messenger-Dienste oder soziale Medien. Beratungen, auch für Neuinteressierte, finden weiterhin einzeln am Telefon statt.

Über den Sommer 2020 hin fand man kreative Möglichkeiten, das Ansteckungsrisiko bei Treffen zu minimieren, es gab Treffen in Parks, bei Spaziergängen, auf Terrassen von Gaststätten und vieles mehr. Ein Teil der hessischen Selbsthilfekontaktstellen konnte in der Zeit mit Hygienekonzept und begrenzter Teilnehmerzahl die Gruppenräume wieder für alle Gruppen zur Verfügung stellen. Es bleibt zu hoffen, dass das bald wieder möglich ist.

Alle großen öffentlichen Veranstaltungen der Selbsthilfegruppen und -kontaktstellen wurden auf 2021 verschoben, doch konkrete Planungen sind derzeit nur für Online-Vorträge und virtuelle Selbsthilfetage im Internet möglich.

Die Selbsthilfe ist auch während der Corona-Beschränkungen weiter aktiv. Sie ist für das Bedürfnis nach Kontakten zu anderen Menschen in Zeiten der Isolation wichtiger denn je. Selbsthilfegruppen und Selbsthilfekontaktstellen sind in Corona-Zeiten nach wie vor ansprechbar. Auch neue Gruppen werden unter den veränderten Bedingungen – vorerst digital – gegründet.

Dipl.-Psych. Carola Jantzen, Leiterin KISS Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen Kassel, Treppenstr. 4, 34117 Kassel, Fon: 0561 81644-222, E-Mail: kiss@kassel.de

Zur Autorin: Dipl.-Psych. Carola Jantzen leitet die KISS Kassel seit 20 Jahren. Sie ist stellvertretende Sprecherin der Landesarbeitsgemeinschaft Hessischer Selbsthilfekontaktstellen.