Leserbrief zum Artikel „Zum Verhalten gegenüber Kollegen in der Öffentlichkeit“ von Christiane Loizides, Rubrik Recht, HÄBL 12/2020, S. 662
Der Gegenstand des öffentlich ausgetragenen Streits war ein abgelehnter Asylbewerber aus dem Kosovo, der sich wegen eines dort diagnostizierten Posttraumatischen Belastungssyndroms stationär in einer psychiatrischen Klinik befand. Das zuständige Ausländeramt hatte ihn unter dem Vorwand einer notwendigen Unterschrift einbestellt, und die Klinik hat ihm dies in Begleitung einer Sozialarbeiterin erlaubt. Dort angekommen, wurde er unmittelbar von der Sozialarbeiterin getrennt und einem Amtsarzt zugeführt, der die Flugreisetauglichkeit für eine bereits geplante Abschiebung ausstellte, ohne sich bei den behandelnden Ärzten der Klinik über die Umstände seiner Erkrankung zu informieren. Der Patient wurde daraufhin unmittelbar abgeschoben.
In der Presse wurde über den Fall berichtet, der Chefarzt der psychiatrischen Klinik äußerte sich dort kritisch über die fragwürdigen Umstände der Einbestellung und den Kollegen, der die Flugreisetauglichkeitsbescheinigung ohne Rückfrage ausgestellt hatte. Wie fast immer in solchen Verdachtsfällen versuchte man zunächst der Kammer den Namen des Amtsarztes vorzuenthalten – ein unerträglicher Zustand. Schließlich wurden beide Kollegen vor dem Berufsgericht angeklagt. Der Chefarzt erhielt eine „Warnung“, der Amtsarzt wurde offensichtlich freigesprochen, das Urteil liegt mir nicht vor.
Das Urteil gegen den Chefarzt ist im oben genannten Artikel (HÄBL 12/2020) aus rechtlicher Sicht kommentiert. Ich möchte keine Urteilsschelte betreiben, aber doch mein Unbehagen ausdrücken über den Vorgang als Ganzen, der in dem Urteil nur unvollständig abgebildet wird – notwendigerweise, da das Berufsgericht nur das Fehlverhalten von Ärztinnen und Ärzten zu bewerten hat. Über die Bemängelung verschiedener klinischer Dokumente, die nicht vom Chefarzt gegengezeichnet wurden, bzw. die fachliche Kontrolle nachgeordneter Ärzte werden sicher viele Kolleginnen und Kollegen in den Kliniken angeregt, ihren Arbeitsalltag zu überprüfen, in dem bei ohnehin überbordender Bürokratie diese Form der Kontrolle sicher selten so durchgeführt wird, wie es der Gesetzgeber offensichtlich vorschreibt.
Immerhin wird ausdrücklich anerkannt, dass die Ärzte in der Psychiatrie alles getan hätten, um für den hochdepressiven Patienten ein Setting zu schaffen, dass eine Behandlung erst ermöglichte. Um die hochgradige Verunsicherung und Verärgerung des Chefarztes zu verstehen, möchte ich mit Nachdruck darauf hinweisen, dass der Patient unter einem Vorwand in das Ausländeramt gelockt worden war – ein Vorgang, den man in einem demokratischen Rechtsstaat kaum für möglich gehalten hat. Ein Arzt, der in einer solchen Situation sich weder an diesen Vorgängen stößt noch sich bei dem Chefarzt über die Erkrankung des stationären Patienten erkundigt und eine Flugreisetauglichkeitsbescheinigung ausstellt, hat eben gerade nicht „im Einklang mit seinen Berufspflichten“ gehandelt, sondern gegen seine Sorgfaltspflicht verstoßen. Hier hat das Berufsgericht eine Behauptung aus dem Verfahren gegen den Amtsarzt übernommen, die es meines Erachtens erneut hätte überprüfen müssen.
Erst diese Festlegung hat den Weg freigemacht, dem Chefarzt zu unterstellen, er habe „schwerwiegende und ungerechtfertigte“ Vorwürfe gegen den Amtsarzt erhoben.
Auf den Deutschen Ärztetagen der jüngeren Zeit gab es mehrfach Resolutionen der Delegierten, die sich vehement gegen Abschiebungen kranker Menschen, insbesondere direkt aus stationären Behandlungen, ausgesprochen haben. In gleicher Weise hat sich das Präsidium der Landesärztekammer Hessen geäußert. Eine Arbeitsgruppe der Innenministerkonferenz und der Bundesärztekammer hat sich bereits 2004 in ihrem Abschlussbericht eingehend mit den Pflichten der Ärztinnen und Ärzte bei der Beurteilung von Rückzuführenden beschäftigt. Hier heißt es unter anderem: Bestehen Hinweise auf Eigen- oder Fremdgefährdung als Folge einer psychischen Erkrankung, ist – wie bei anderen psychischen Erkrankungen – ein psychologisches bzw. psychotherapeutisches Gutachten einzuholen. Im Falle einer psychischen Erkrankung (einschließlich PTBS, schwerster Depression, schwerster Angststörung) und/oder vorgetragener Suizidalität ist zusätzlich stets die Frage zu stellen, ob bei dem Probanden die konkrete (nicht nur theoretische) Gefahr einer Retraumatisierung im Sinne der Gefahr einer erheblichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes besteht – einschließlich der Bewertung des Risikos einer Eigengefährdung (Suizidalität) bzw. einer Fremdgefährdung.
Aus menschenrechtlicher Sicht sind demnach die von dem Chefarzt erhobenen Vorwürfe gegenüber dem Amtsarzt zwar tatsächlich „schwerwiegend“, aber keineswegs „ungerechtfertigt“. Ich weiß aus meiner langjährigen Tätigkeit als Menschenrechtsbeauftragter, dass es viele Amtsärzte gibt, die bedauern, sich nicht von ihrer Pflicht befreien zu können, Flugreisefähigkeitsbescheinigungen auszustellen, da sie oft in Eile und ohne die notwendigen Unterlagen oder Dolmetscher, das heißt ohne die gebotene Sorgfalt, entscheiden müssen. Diesen Kolleginnen und Kollegen sollte die Kammer weiter den Rücken stärken, gerade jetzt, wo die Verunsicherung durch ein Urteil groß und die Notwendigkeit, die ethischen Standards unserer Berufsordnung zu verteidigen, besonders wichtig ist.
Dr. med. Ernst Girth, Menschenrechts- und Rassismus-beauftragter der Landesärztekammer Hessen, E-Mail: menschenrechtsbeauftragter@laekh.de