Bericht aus der Vitos Kinder- und Jugendambulanz für psychische Gesundheit

Über den Einfluss der Corona-Pandemie auf die seelische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen berichtet Dr. med. Daniel Sammet. Er arbeitet als Oberarzt in der kinder- und jugendpsychiatrischen Institutsambulanz der Vitos Klinik Rheingau in Wiesbaden.

Rückblickend lassen sich mehrere Phasen betrachten: In der ersten Phase von März bis Mai 2020 herrschten zunächst eine große Verunsicherung und auch akute Ängste und Sorgen bei den Kindern, Jugendlichen und ihren Familien. Viele geplante und nicht dringend notwendige Untersuchungen und Behandlungen wurden abgesagt oder verschoben und der Fokus lag klar auf der Verhütung von Infektionen mit dem neuartigen Coronavirus. Die höchste Priorität hatte zunächst die somatische Gesundheit der Familien. Wir hatten die Sorge, dass es in dieser Zeit zu einer Zunahme von häuslicher Gewalt gegenüber Kinder kommen könnte. Dies zeigte sich erfreulicherweise in unserer Arbeit zunächst nicht.

Schulen bieten Struktur und soziales Miteinander

In der zweiten Phase im Sommer 2020 kam es schrittweise zu einer Rückkehr in den gewohnten Alltag und zum Einzug gewohnter Routinen. Entscheidend dabei war für die Kinder und Jugendlichen die Wiedereröffnung der Schulen. Viele hofften, dass sich die positive Entwicklung der Infektionszahlen fortsetzen und ein zweiter Shutdown ausbleiben würde. Umso schwerwiegender waren für viele unserer Patientinnen und Patienten die Belastungen durch die erneuten erheblichen Einschränkungen, die die dritte Phase seit November 2020 kennzeichneten.

Insbesondere seit dieser Zeit zeigt sich eine spürbare Zunahme von unterschiedlichen Symptomen. Dazu zählen vor allem Ängste, Stimmungstiefs, Freudverlust, Antriebsstörungen, Schlafstörungen sowie Suizidgedanken. Gerade über die Wintermonate verzeichnen wir üblicherweise sonst auch eine Zunahme der genannten Beschwerden und ein erhöhtes Notfallaufkommen. Dieses Mal zeigt sich jedoch eine spürbare Verschärfung und eine von den Kindern und Jugendlichen beschriebene zunehmende Belastung. Auch im Austausch mit niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen wurde dieser Eindruck verstärkt. In unserer täglichen Arbeit berichten die Patienten und deren Familien von einer zunehmenden Erschöpfung und Perspektivlosigkeit. Dabei werden wiederholt die Einschränkungen des Schulbesuchs als ein wichtiger Faktor genannt.

Einschränkungen durch Distanzunterricht

Die Schule bietet Struktur und einen sicheren Rahmen. Der Präsenzunterricht ermöglicht soziale Kontakte und Gemeinschaft. Als es nach den Winterferien nahtlos mit dem Distanzunterricht weiterging, brach für viele Kinder und Jugendliche dieser wichtige Rahmen weg. Der Distanz- unterricht wird unterschiedlich erlebt. Auch wenn einige Patienten damit gut zurechtkommen, da sie mehr Rückzugsmöglichkeiten haben, sich weniger ablenken lassen oder seltener in Konflikte mit Gleichaltrigen geraten, bleibt es für die meisten unserer Patientinnen und Patienten eine hohe Anstrengungsleistung. Gerade psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen fällt es schwer, die notwendige Konzentration und Selbstdisziplin aufzubringen. Für Kinder und Jugendliche mit Entwicklungsstörungen oder Erkrankungen aus dem Autismusspektrum sind Struktur und bestehende Abläufe enorm wichtig. Zusätzlicher Druck entsteht, weil sie die Schule bewältigen müssen und Sorge davor haben, abgehängt zu werden. Dies kommt insbesondere dort vor, wo Eltern aus unterschiedlichen Gründen nicht die notwendige Stütze sein können, die der Distanzunterricht gerade bei jüngeren Kindern erfordert. Wenn eine Familie nicht über die notwendigen Ressourcen verfügt, wird das zur Belastungsprobe. Entscheidend kann schon die Frage sein, ob für ein Kind zu Hause ein Rückzugsort oder der Zugriff auf die notwendige technische Ausstattung zur Verfügung steht. Dabei ist jedoch hervorzuheben, dass wir viele Eltern als extrem bemüht und kreativ erleben. Doch auch Eltern sind durch die Einschränkungen, veränderte Arbeitssituationen oder schwierige wirtschaftliche Bedingungen zusätzlich belastet.

Wenn Perspektiven fehlen

Auch in anderen Bereichen hat die Corona-Pandemie für unsere Patienten Spuren hinterlassen. Viele äußern, dass sie erschöpft sind, weil ihnen der Sport fehlt, sie sich einsam fühlen oder kaum soziale Kontakte haben. Hierbei reagieren die Betroffenen unterschiedlich – und zwar je nachdem, auf welche bestehenden Ressourcen sie zurückgreifen können. Kindern und Jugendlichen, die auch vorher ein gutes soziales Netz hatten, gelingt es leichter, den Wegfall der persönlichen Kontakte zu kompensieren. Sie nutzen in der Regel andere Kommunikationswege und fühlen sich weiterhin in ihrer Gruppe integriert. Diejenigen, die sich vorher schon isoliert und einsam erlebt haben, entwickeln eine zunehmende Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit.

Viele unserer Patientinnen und Patienten mit Familien fragen uns, was sie derzeit tun können, um ihre Kinder zu unterstützen. Wir raten unseren Familien wachsam zu sein. Sie sollten ihren Kindern zuhören, ihre Sorgen und Bedürfnisse ernst nehmen und auch anerkennen, welche besonderen Leistungen sie derzeit erbringen. Es ist wichtig herauszufinden, was derzeit fehlt. Ist es der Sportverein, der den Betroffenen Selbstwirksamkeit und Anerkennung brachte und derzeit nicht besucht werden kann? Ist es der Kontakt zu Gleichaltrigen, der fehlt? Oder ist es der Besuch der Großeltern, der ausbleibt? Wir machen unseren Familien auch bewusst, wie die Kinder die Zeitspanne erleben. Bezogen auf ihr Lebensalter ist der zeitliche Anteil der Pandemie natürlich deutlich höher als bei Erwachsenen. Dabei machen die meisten Kinder und Jugendlichen erhebliche Entwicklungsschritte.

Zusammenhalt fördern

Wir empfehlen dann Alternativen zu dem Fehlenden gemeinsam zu entwickeln. Dabei kann es auch hilfreich sein, eine realistische Perspektive zu schaffen. Das heißt, die Familien sollten klären, was derzeit erlaubt ist oder zukünftig wieder möglich sein wird. Von besonderer Bedeutung ist es weiterhin, eine feste Struktur mit Bewegung, regelmäßigen Mahlzeiten und erlaubten sozialen Kontakten aufrechtzuerhalten. Die Familien nehmen die Empfehlungen in der Regel gut an und wir erleben auch häufig einen starken Zusammenhalt. Es gibt jedoch auch Familiensituationen, in denen die Eltern selbst erheblich belastet oder psychisch erkrankt sind. Die Kinder und Jugendlichen nehmen die Ängste und Sorgen ihrer Eltern wahr und können in ihrer eigenen Unsicherheit nicht mehr ausreichend unterstützt werden. Eine gute Unterstützung durch Personen außerhalb der Familie ist dann von großer Bedeutung. Wir arbeiten dabei eng mit Kolleginnen und Kollegen der Jugendhilfe oder des Jugendamtes zusammen. Bei einem Teil unserer Patienten verschärft sich die Symptomatik jedoch so, dass es zu notfallmäßiger oder auch dringlicher und vorgezogener vollstationärer Aufnahme kommt. Hierbei steht häufig eine zunehmende Suizidalität im Vordergrund. Insbesondere seit Anfang des Jahres ist das erhöhte Notfallaufkommen spürbar.

Arbeitsablauf hat sich durch Corona verändert

Auch der eigene Arbeitsablauf hat sich verändert: Besprechungen und Patientenkontakte finden unter Auflage der gängigen Hygieneregelungen statt. Das erfordert natürlich eine große Anstrengung und Anpassungsleistung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wir setzen zunehmend auch eine videogestützte Behandlung ein. Wir versuchen, unsere Patienten bestmöglich zu versorgen und dabei den Schutz der Mitarbeitenden aufrechtzuerhalten. Durch die videogestützte Therapie haben wir hier einen guten Weg gefunden, der von den Patienten und ihren Familien gut angenommen wird und auch zur Entlastung führen kann. Die Familien sind gut darauf eingestellt. Kinder sind oftmals neugierig und kennen Videogespräche meist schon durch die Schule. Dabei haben wir auch den Vorteil, dass wir die Mimik unserer Patientinnen und Patienten wahrnehmen können, was im persönlichen Kontakt durch das Tragen von Masken derzeit nicht möglich ist. Dennoch finden auch weiterhin viele wichtige Untersuchungen vor Ort statt. Dazu gehören akute Gefährdungssituationen, schwere psychiatrische Erkrankungen, somatische Kontrolluntersuchungen und ein Großteil der diagnostischen Verfahren.

Ausblick

Beim Blick in die nahe Zukunft müssen wir darauf vorbereitet sein, dass einige Symptome erst verzögert auftreten könnten. Insbesondere Kinder und Jugendliche mit ängstlichen oder depressiven Symptomen könnten derzeit in ihrem Vermeidungsverhalten verstärkt werden. Zudem fehlt zum Teil weiterhin die Schule mit ihrer Kontrollfunktion. Bei erhöhten Belastungen und Anforderungen nach der Corona-Pandemie könnte bei dieser Patientengruppe die Zunahme der Symptome erst dann sichtbar werden. Den betroffenen Kindern und Jugendlichen sollten dann die notwendigen therapeutischen Maßnahmen rechtzeitig zugänglich gemacht werden, um langfristige Schäden zu vermeiden. Für ein gutes Gelingen ist das Zusammenspiel aller an der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen Beteiligten von großer Bedeutung.

Dr. med. Daniel Sammet, E-Mail: daniel.sammet@vitos-rheingau.de

Die Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Eltville ist als Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie Teil des Klinikums Rheingau, einer Betriebsstätte der Vitos Rheingau gGmbH und versorgt psychisch kranke Kinder und Jugendliche ambulant, teilstationär und stationär mit Standorten in Wiesbaden, im Rheingau-Taunuskreis, im Hochtaunuskreis, im Main-Taunus-Kreis und im Rhein-Lahnkreis.