Interview mit Prof. Dr. med. Sandra Ciesek
Anlässlich ihres Besuchs bei Ärztekammerpräsident Dr. med. Edgar Pinkowski und der Geschäftsführung der Landesärztekammer Hessen am 29. Juli 2020 gab Prof. Dr. med. Sandra Ciesek, neue Direktorin der Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt, dem Hessischen Ärzteblatt ein Interview.
In den ersten Wochen und Monaten der Corona-Pandemie konnte man fast den Eindruck gewinnen, das Land würde von Virologen regiert, deren Erkenntnisse die Maßnahmen der Politik bestimmten. Wie haben Sie dies empfunden; bestand der Eindruck zu Recht?
Prof. Sandra Ciesek: Ich glaube nicht, dass dieser Eindruck berechtigt war. Politiker sollten sich natürlich fachlich beraten lassen; sie haben ja nicht alle Medizin oder Biologie studiert. Um die Situation inhaltlich einschätzen zu können, brauchen sie die Expertise von Fachleuten, unter anderem von Virologen. Aber die Politik muss bei ihren Entscheidungen nicht allein eine wissenschaftlich-medizinische Denkweise, sondern viele Bereiche des Lebens berücksichtigen. So sieht man etwa bei der Frage nach Schulöffnungen oder -schließungen, dass hier auch pädagogische und wirtschaftliche Aspekte eine große Rolle spielen, die alle gegeneinander abgewogen werden müssen. Das ist die Aufgabe der Politik – und die Virologie ist nur ein kleiner Baustein, der interdisziplinär beratend tätig sein kann. Im Endeffekt entscheidet die Politik.
Rund um den Globus laufen Forschungen zum SARS-CoV-2-Virus auf Hochtouren. Kürzlich verkündete die WHO, sie rechne mit einem Impfstoff gegen das Corona- virus in elf bis 17 Monaten. Andere stellen einen Impfstoff bereits für Anfang des nächsten Jahres in Aussicht. Ist die Hoffnung auf einen baldigen Durchbruch beim Impfstoff berechtigt?
Ciesek: Es gibt mehrere Studien zu Impfstoffen, die zeigen, dass diese zur Bildung von Antikörpern und zum Teil zu T-Zell-Antworten führen. Allerdings muss in den nächsten Studien noch bewiesen werden, dass sie eine Infektion beim Menschen wirklich verhindern können. Diese Information fehlt noch, doch man muss hoffen, dass es nächstes Jahr einen Impfstoff gibt. Dafür wurden alle Kräfte gebündelt, die mit Hochdruck daran arbeiten. Die ersten Daten sehen vielversprechend aus, aber wie effektiv dieser Impfstoff dann vor einer Infektion schützt, weiß man noch nicht, und auch nicht, wie lange der Schutz hält.
Ihr Institut, das Institut für Medizinische Virologie, ist für die breite virologische Diagnostik am Frankfurter Uniklinikum zuständig. Hat sich dies durch Corona verändert?
Ciesek: Richtig, wir bieten als Universitätsklinik und Virologie eine breite virologische Diagnostik an. Mit dem Auftreten von Corona und immer mehr Covid-19-Fällen haben wir uns primär an der SARS-CoV-2-Diagnostik beteiligt. Da in den ersten Wochen der Pandemie weniger Patienten in den Regelbetrieb kamen, war die Standarddiagnostik etwas reduziert. Inzwischen ist es zwar immer noch so, dass wir sehr viele Proben auf SARS-CoV-2 bekommen – alle Neuaufnahmen werden ja gescreent. Aber jetzt werden auch wieder elektive Operationen durchgeführt und ambulante Versorgung sowie ambulante Vorstellungen nehmen zu, so dass die Routine-Diagnostik wieder angewachsen ist. Dadurch haben wir mehr als doppelt so viele Proben wie noch vor einem Jahr. Das ist eine große Aufgabe und natürlich auch eine große Belastung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Sie haben Pilotprojekte zu SARS-CoV-2 Testungen (SAFE KiDS Studie, in Altenheimen etc) auf den Weg gebracht. Unter anderem hat eine von Ihnen in Zusammenarbeit mit dem Blutspendedienst entwickelte Testmethode für Beachtung gesorgt. Was können Sie über die Projekte berichten, welche Neuerungen sind damit verbunden?
Ciesek: Unser Ziel ist es, die Diagnostik zum Nachweis von SARS-CoV-2 kontinuierlich weiter zu verbessern. Mit dem Blutspendedienst haben wir ein System entwickelt, mit dem wir mehrere Abstrichproben gleichzeitig testen können, ohne dass der Test weniger sensitiv wird. Auf diese Weise ist es möglich, die Testkapazität zu vervielfachen. Am Institut selbst haben wir eine neue PCR-Methode eingeführt, um Erbsubstanz (DNA) in vitro zu vervielfältigen. Außerdem haben wir zwei Studien publiziert, in denen wir verschiedene Antikörpertests miteinander verglichen haben, um deren Stellenwert bei der Erkrankung besser einordnen zu können.
Zusammen mit dem Hessischen Ministerium für Soziales und Integration führen wir die SAFE KiDS Studie in hessischen Kindergarten durch. Dafür haben wir ein neues Verfahren entwickelt, bei dem Eltern ihre Kinder zu Hause selbst testen können. Ein ähnliches System soll auch in der Studie in Seniorenheimen erprobt werden. Wir sammeln bei den Studien epidemiologische Daten und wollen feststellen, ob die Testungen zuverlässig funktionieren. Dies würde es Laien künftig ermöglichen, alternativ selbst einen Corona-Test durchzuführen, ohne einen Facharzt aufsuchen zu müssen. So könnte das Prozedere der Testungen insgesamt vereinfacht werden.
Die Suche nach einem wirksamen Impfstoff läuft auf Hochtouren. Doch wie sieht es mit der Entwicklung effektiver antiviraler Medikamente aus? Sie selber suchen unter anderem nach wirksamen Substanzen gegen Covid-19.
Ciesek: Es gibt relativ viele antivirale Substanzen, die erfolgversprechend erscheinen. Wir testen vor allem sogenannte Repurposing Drugs, also bereits zugelassene Arzneimittel für neue therapeutische Zwecke oder Medikamente, die bereits in der klinischen Entwicklung sind. So wie das ursprünglich zur Bekämpfung von Ebola entwickelte Remdesivir. Diese Medikamente werden auf ihre antivirale Aktivität geprüft, und es gibt zumindest in Zellkulturen verschiedenste Kandidaten, wie das gerade erwähnte Remdesivir, die wirksam sind. Dann muss man in klinischen Studien untersuchen, ob diese Medikamente auch im Patienten wirksam sind. Das geht schneller, als wenn Sie ein Medikament neu entwickeln. Bei bereits zugelassenen Medikamenten gibt es außerdem die Möglichkeit, einen individuellen Heilversuch zu machen. Dagegen sind große klinische Studien für einzelne Universitäten kaum zu realisieren. Man braucht dann ein Pharmaunternehmen, das diese durchführt.
Wie ist der Entwicklungsstand, gibt es Ansätze für eine Therapie?
Ciesek: Wie bereits gesagt, gibt es verschiedenste Medikamente, die derzeit in Testung sind und bei denen man den Mechanismus in Zellkultur untersucht, um zu verstehen, an welchem Punkt der Zellreplikation sie das Virus blocken. Wenn man das verstanden hat, ist es auf diesem Wissen aufbauend oft auch möglich, einen Wirtsfaktor zu finden, der essenziell ist für die Replikation: Einen Wirtsfaktor, den das Virus unbedingt braucht, um sich zu vermehren, und den man dann versucht, gezielt zu blocken. Dafür gibt es schon mehrere Beispiele, auch von anderen Viruserkrankungen. Außerdem sind wir dabei, Medikamente zu entwickeln, die speziell auf Enzyme des Virus designt werden: Apoptose-Inhibitoren etc. Zum Teil führen wir Screens durch und versuchen zum anderen Teil, spezifische Substanzen auf ihren Wirkmechanismus hin genauer zu charakterisieren. In diesen Tagen kommt übrigens ein Paper in „Nature“ heraus, an dem wir mitgewirkt haben: Wir haben ein Enzym von SARS-CoV-2 genauer untersucht und Inhibitoren getestet und gefunden.
Ist ein Medikament wie Remdesivir nach dem Durchlaufen aller Phasen der Zulassung für den Einsatz bei schwer erkrankten Patienten gedacht?
Ciesek: Nein, im Gegenteil. Man vermutet ja, dass es zwei verschiedene Phasen der Covid-19-Erkrankung gibt: Zuerst spielen die Virusreplikation und der Virusinfekt eine Rolle, dann folgt eine überschießende Reaktion des Immunsystems. Die Annahme ist: Je früher das antivirale Medikament eingesetzt wird, desto eher lässt sich die überschießende Reaktion verhindern. Wenn man dagegen bereits überschießende Reaktionen bei Patienten auf Intensivstationen hat, spielen vermutlich eher Immunmodulatoren, wie zum Beispiel Steroide, eine Rolle. Wahrscheinlich wird man daher für eine effektive Therapie eine Kombination aus verschiedenen Medikamenten benötigen, die antiviral wirken oder auch das Immunsystem modulieren.
Was macht SARS-CoV-2 aus Ihrer Sicht zu einem besonderen Virus?
Ciesek: Was an SARS-CoV-2 besonders ist, sind mehrere Faktoren, die allerdings auch auf andere Viren zutreffen können: Es gibt noch keine Immunität, und das Virus kann jeden treffen. Außerdem gibt es verschiedene Verläufe: Eine große Anzahl von Menschen hat keine Symptome, eine ebenfalls große Anzahl von Menschen weist zunächst nur milde Symptome auf, hat aber möglicherweise Folgeschäden. Und schließlich gibt es leider auch eine kleine Gruppe von Menschen, die schwer erkranken. Da niemand sicher weiß, zu welcher Gruppe er gehört, löst das große Ängste aus.
Bis vor einigen Wochen war die Zahl der Neuinfektionen in Deutschland noch so überschaubar, dass zahlreiche Lockerungen vorgenommen wurden. In der Folge sind viele Menschen unbekümmerter geworden, wie Partyszenen auf großen Plätzen oder überfüllte Strände zeigen. Wie schätzen Sie die Gefahr ein, die von wachsender Sorglosigkeit und von Urlaubsrückkehrern ausgeht?
Ciesek: Man sieht schon, dass die Urlaubsrückkehrer eine nicht zu vernachlässigende Zahl der Infektionen ausmachen. Das ist das eine. Das andere ist nicht so sehr die Reise an sich, sondern die Gefahr, das antrainierte Verhalten – Abstand halten, Hygienemaßnahmen und Maskentragen – zu vernachlässigen. Mit anderen Worten, der Versuch, Urlaub von der Pandemie zu machen. Das ist im In- und im Ausland zu beobachten, wie Bilder unter anderem aus Frankfurt zeigen. Ich selbst war erschrocken, zu sehen, dass beispielsweise in Holland viele Menschen wieder unbekümmert ohne Maske herumgelaufen sind. Und natürlich ist das Risiko, dass man auf jemanden trifft, der infiziert ist, in Ländern mit höheren Fallzahlen größer als in Ländern mit niedrigen Fallzahlen.
Finden Sie es sinnvoll, Reisende nach der Rückkehr aus dem Urlaub, vor allem aus sogenannten Risikogebieten zu testen?
Ciesek: Jedes Testergebnis ist nur eine Momentaufnahme. Wer sich sofort nach der Rückkehr aus einem Risikogebiet testen lässt, kann zu einem frühen Zeitpunkt der Infektion dennoch ein negatives Testergebnis haben. Wichtig ist daher, dass nach einer Woche ein weiterer Test zur Kontrolle durchgeführt wird.
Lange Zeit herrschte Unsicherheit über die Relevanz von Aerosolen für die Ansteckung mit dem Corona-Virus. Im Juli wurde die Möglichkeit der Luftübertragung von SARS-CoV-2 zum großen Thema in der öffentlichen Diskussion.
Ciesek: Ich glaube, Aerosole spielen eine große Rolle, aber sie sind nicht der einzige Infektionsweg. Bei Superspreader-Events – Chorproben, Gottesdiensten etc. – waren sie sicherlich verantwortlich, aber ich kann mich auch anstecken, wenn ich jemandem die Hand gebe, der infektiös ist und sich vorher in die Hand gehustet hat. Wichtig sind daher nach wie vor: Abstand halten, Hygiene und Maske tragen.
Noch haben wir Sommer und halten uns viel im Freien auf. Doch Herbst und Winter stehen vor der Tür. Steigt damit auch aus Ihrer Sicht die Gefahr einer weiteren Ausbreitung des Virus?
Ciesek: Es ist auf jeden Fall ein Risiko. Ich glaube, dass die Verbreitung des Virus unter anderem auch von der Jahreszeit abhängig ist. Wenn wir uns wieder vorrangig drinnen aufhalten und uns ohne Masken, Abstand und geeignete Belüftungssysteme mit einer größeren Zahl anderer Menschen in geschlossenen Räumen aufhalten, kann es auch wieder vermehrt zu Infektionen kommen.
Das Argument, in warmen Ländern, wie etwa Kalifornien, seien die Infektionszahlen ebenfalls hoch, so dass die Ansteckungsrate offenbar nichts mit den Temperaturen zu tun habe, überzeugt mich nicht. Denn gerade in den USA halten sich viele Menschen trotz hoher Außentemperaturen in klimatisierten Innenräumen bei etwa 15 Gad auf. Unter anderem mit Blick auf den Schlachtbetrieb Tönnies, aber auch auf die Ansteckungszahlen auf Kreuzfahrtschiffen wird diskutiert, welche Rolle Klimaanlagen bei der Verbreitung des Virus haben.
Ich denke, dass die Technik durch geeignete Belüftungssysteme in geschlossenen Räumen dazu beitragen kann, dass Ansteckungen vermieden werden. Wichtig ist, dass größere Sitzungen und Versammlungen in entsprechend großen Räumlichkeiten stattfinden, die es möglich machen, dass Abstände eingehalten werden können. Außerdem sollten auf jeden Fall Masken getragen werden. Und es ist wichtig, dass Leute mit Erkältungssymptomen zu Hause bleiben und sich testen lassen.
Wie sieht die künftige „Normalität“ aus? Werden wir mit dem Virus leben müssen?
Ciesek: Es ist durchaus möglich, dass wir auf längere Sicht mit Corona leben müssen. Insgesamt wird sich unser Leben meiner Ansicht nach ändern. So werden wir beispielsweise auf kürzere Dienstreisen verzichten, weil wir gelernt haben, dass es auch anders, schneller und wirtschaftlicher mit Videokonferenzen geht. Einige Verhaltensmuster werden bleiben, andere wird man vielleicht wieder vergessen. Es kommt entscheidend darauf an, wie effektiv der Impfstoff sein wird, und wie viele Menschen sich impfen lassen werden.
Prof. Dr. med. Sandra Ciesek:
Fachärztin für Innere Medizin und Gastroenterologie sowie für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie, ist Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt sowie Professorin für Medizinische Virologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität. Zu ihren Schwerpunkten gehören neue Therapieformen für Hepatitis C und in jüngerer Zeit die Suche nach Medikamenten gegen Covid-19.
Interview: Katja Möhrle