Ausstellung im Senckenberg Naturmuseum
Absolute Dunkelheit breitet sich vor den Augen aus. Langsam schälen sich die Konturen eines Kalmars mit rötlich schimmernden Fangarmen aus den blauschwarzen Fluten hervor. Eine Meeresschildkröte schwebt durch das Wasser und ein bleicher Quastenflosser drängt sich an Felsgestein vorbei. Die am 3. September per Livestream eröffneten Ausstellungsräume „Tiefsee“ und „Meeresforschung“ im Frankfurter Senckenberg Naturmuseum geben Einblicke in eine faszinierende Unterwasserwelt und wollen die Tiefsee mit allen Sinnen erfahrbar machen.
Noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts war die Wissenschaft davon überzeugt, dass in Meerestiefen unter 550 Metern kein Leben existieren könne. „Man mutmaßte, dass überall dort, wo kein Licht mehr ist, auch das Leben aufhöre und dass – außer den ersten Schichten – die ganze undurchdringliche Tiefe (…) eine einzige düstere Verlassenheit sei“, schrieb der französische Historiker Jules Michelet in „Das Meer“, einer 1861 erschienenen Kulturgeschichte des Meeres. Erst kurz zuvor war die Theorie von der „unbelebten Zone“ widerlegt worden.
Die Erforschung der Tiefsee mit wissenschaftlichen Methoden begann vor etwa 160 Jahren. Von 1898 bis 1899 begaben sich bereits Senckenberg-Wissenschaftler mit einem umgerüsteten Dampfschiff auf die erste deutsche Tiefsee-Expedition. Doch noch heute ist der größte Lebensraum der Erde – etwa die Hälfte der gesamten Erdoberfläche liegt unterhalb von 1000 Metern Tiefe im Ozean – weitgehend eine Terra incognita. Nur schätzungsweise zehn Prozent des Meeresbodens sind gut erforscht. Dass die Tiefsee trotz extremer Lebensbedingungen Heimat für zahlreiche Organismen ist, zeigen die Forschungsaktivitäten von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die mit Hilfe autonomer Fahrzeuge und Roboter die nahezu unbekannte Unterwasserwelt erkunden.
„Kapitän Nemo schritt voraus und sein Begleiter einige Schritte hinter uns. (…) Ich spürte schon nicht mehr die Schwere meines Anzugs, der Fußbekleidung, des Luftbehälters und auch nicht das Gewicht der lastenden Kugel, in der schaukelnd mein Kopf wie ein Mandelkern in seiner Schale steckte“: In seinem 1870 veröffentlichten Roman „Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer“ nahm Jules Verne nicht nur das Tauchen mit Druckluft, sondern auch ein „Unterwasserfahrzeug mit außerordentlicher mechanischer Kraft“ – die Nautilus – vorweg.
Im Senckenberg Naturmuseum hängt ein orangefarbener Nachfolger der Nautilus als Modell von der Ecke herab. Jago, das einzige bemannte deutsche Tauchboot, mit dem zwei Personen bis zu 400 Meter tief tauchen können, erinnert entfernt an eine Raumfahrtsonde. Da bemannte Tauchfahrten in die Tiefsee aber auch im 21. Jahrhundert teuer, aufwendig und gefährlich sind, setzen Tiefseeforscherinnen und -forscher meist unbemanntes Gerät ein. Besucher der Frankfurter Ausstellung können mit dem Tauchroboter „Bembel Frankfurt 11.000“ virtuell 6.000 Meter tief abtauchen und auf Bildschirmen blaugrün leuchtende Schlangensterne oder großmäulige Pelikanaale an sich vorbei ziehen lassen. Damit bietet das Museum in mehrfachem Sinn die Möglichkeit, in ein geheimnisvollen Universum einzutauchen: virtuell unter Wasser und in den Ausstellungsräumen. Wie Wissenschaftler versuchen, den Geheimnissen des Meeres in großer Tiefe auf die Spur zu kommen und welche Geräte zur Erkundung des Meeresbodens und zur Bergung von Organismen verwendet werden, verdeutlichen neben dem Jago-Modell und einem virtuellen Tauchroboter autonome Unterwasserfahrzeuge, spezialisierte Bohrer und eine begehbare historische Tiefseekugel.
In dem – optisch der 200 Meter unter der Meeresoberfläche beginnenden Tiefsee angelehnten – Ausstellungsraum „Tiefsee“ geben beleuchtete Vitrinen den Blick auf Meeresbewohner in Modellform in ihrem nachgebildeten Lebensraum preis: auf die leuchtend blaue und von roten Tentakeln umkränzte Qualle Atolla wyvillei, auch „Alarmqualle“ genannt, etwa oder auf das Modell eines toten, auf den Meeresboden gesunkenen Wales, das die vier Phasen der Zersetzung des Kadavers zeigt.
Die neuen Räume sind Teil des Projekts Neues Museum. So soll das Frankfurter Naturmuseum im Laufe der nächsten Jahre modular modernisiert werden, um Naturforschung verständlich und mit Hilfe neuer Medien zu vermitteln. Da sich wegen der Coronapandemie in den Ausstellungsräumen maximal je 20 Besucher gleichzeitig aufhalten dürfen, ist eine vorherige Anmeldung auf der Internetseite des Museums erforderlich: https://museumfrankfurt.senckenberg.de
Katja Möhrle