Suchterkrankungen bei Ärzten kommen genauso vor, wahrscheinlich sogar häufiger als in der Allgemeinbevölkerung. Warum ist das so?
Am Beginn steht der Konsum. Zumeist im frühen Jugendalter, einer Zeit des Umbruchs und der Krisen, wird probiert, meistens gemeinsam. Das ist ganz normal in einer Gesellschaft, in der Suchtstoffe sogar propagiert werden. Aus der neurowissenschaftlichen Betrachtung wissen wir, was passieren kann: Suchtstoffe induzieren eine massive Dopaminausschüttung im frühreifen Belohnungssystem im Mittelhirn, erzeugen dadurch Rausch, Entspannung, Euphorie etc. Und: Sie erzeugen bei entsprechender Disposition einen Wunsch nach Wiederholung. Dann kann im Rahmen einer langjährigen Konsumgeschichte das Gehirn umgestaltet werden: Das Belohnungssystem übernimmt die Steuerung des Verhaltens, das Suchtgedächtnis entwickelt automatisierte Reaktionsmuster, im Denken dominiert die Suchtlogik. Süchtigkeit bedeutet dann, dass die Prioritäten des Lebens sich verändern: Alles kreist um Konsum und Verfügbarkeit, während Werte und Bindungen an Bedeutung verlieren.
Zerstörerischer Drang
Was zählt, ist der Konsum an sich – nicht mehr im Sinne eines Wollens, sondern eines Müssens. Suchtverhalten ist ein Tun wider besseres Wissen, es folgt nicht der Einsicht, sondern einem Drang, der zerstörerisch wirkt. Alkoholabhängige verlieren statistisch gesehen mehr als 20 Lebensjahre, und das Leben im Suchtkreislauf ist kein gutes Leben. Es ist gekennzeichnet durch Erfahrungen von Scham und Schuld, Absturz und Hilflosigkeit, Traumatisierung und Verlust, Verletzungen und Verletztwerden.
Die Situation bei uns Ärzten ist in mehrfacher Hinsicht besonders: Wir arbeiten tagtäglich zwischen Leben und Tod, herausgefordert vom Leid und der Bedrohung des Lebens. Wir können häufig auch nicht helfen, obwohl wir das wollen. Unser Ideal des selbstlosen Helfers, der immer bereit ist, stellt eine hohe Forderung dar. „Ich darf keine Fehler machen, sonst…!“
Die Erwartung unserer Patienten an uns ist gewaltig. Die „Droge Arzt“ gehört zur Erwartung an uns, „tun sie etwas, damit es mir endlich besser geht!“ Hier finden wir uns als Ärzte in einer besonderen Stresssituation wieder. Der Druck von außen ist gewaltig, der Druck von innen häufig auch. Und gleichzeitig besteht der Wunsch, ein guter Arzt zu sein und den Ansprüchen zu genügen.
Der Griff zum Alkohol ist naheliegend. Alkohol wirkt beruhigend, löst Spannungen, lässt besser schlafen, ermöglicht Abschalten und Vergessen. Alkohol wird beworben als etwas Gutes, Attraktives. Das Problem: Suchtstoffe haben eine Nachwirkung, sie wirken nicht andauernd, sondern episodisch. Danach kommt ein Absturz, ein Down, in dem genau klar scheint: Erneuter Konsum macht es wieder besser. Das Konsummuster kann sich intensivieren, die Menge steigt, die Wirkung wird absolut notwendig. Schleichend entwickelt sich eine Veränderung in den Netzwerken des Gehirns. Sucht ist letztlich eine eingeengte, selbstdestruktive Art, sein Leben noch irgendwie in einem funktionierenden Gleichgewicht zu halten.
Ansprechen, nicht wegschauen!
Das Hilfesystem kommt meistens dann ins Spiel, wenn negative Auswirkungen erkennbar werden. Häufig sind es Hinweise aus dem Umfeld, die erste Schritte induzieren. Die Kollegen, die Angehörigen, die Mitarbeiter: Sie sollten nicht wegschauen, sondern unbedingt reagieren, wenn etwas auffällt. Ansprechen, nicht wegschauen! Eine eigene Motivation zur Veränderung besteht zu Beginn noch nicht. Der Motivationsaufbau ist daher zu Beginn einer Behandlung immer entscheidend. Es folgt eine gezielte Psychoedukation: Wie entstehen Suchterkrankungen? Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es? Dann können gezielt Maßnahmen ergriffen werden: Qualifizierte Entgiftung im Krankenhaus, Rehabilitation (stationär, teilstationär, ambulant), Nachsorge, Selbsthilfe. Unser Behandlungssystem in Deutschland ist gut ausgebildet, die Wirksamkeit ist wissenschaftlich vielfach belegt. Es muss nur in Anspruch genommen werden.
In der Behandlung von Ärzten besteht häufig die Angst, eigenen Patienten in der Klinik zu begegnen. Darauf sollte eingegangen werden, Behandlung erfordert Diskretion. Um erfolgreich zu sein ist die Passung entscheidend: Das Behandlungssetting muss angenommen werden.
Behandlung erfordert Zeit
Suchtbehandlung ist keine Operation, die schnell durchgeführt wird, sondern ein jahrelanger Lernprozess, der in Etappen erfolgt und aktive Auseinandersetzung und Bewältigung erfordert. Abhängige Ärzte haben die Kontrolle über ihr Handeln verloren, sie müssen sie mühsam wiedergewinnen. Deshalb sind von außen angeordnete Kontrollen unerlässlich und hilfreich. Die Hilfsprogramme der Ärztekammer bieten eine Klarheit, durch die Orientierung wieder möglich wird. Und es wird Motivation aufgebaut: Die Approbation kann weiterlaufen, wenn ich nachweisbar abstinent bin.
Eine besondere Herausforderung ist für Ärzte die Verfügbarkeit von Medikamenten. Wir verschreiben, dosieren, verabreichen. Ist es dann nicht auch normal, sich selbst zu behandeln? Sich Opiate zu holen, Benzodiazepine oder Z-Substanzen zu verschreiben, Propofol zu infundieren usw. In der Behandlung muss hier ein Fokus liegen. Denn: Je leichter die Verfügbarkeit, desto wahrscheinlicher der Konsum.
Suchtbehandlung ist dann erfolgreich, wenn es gelingt, sich auf einen Weg der Veränderung und Entwicklung einzulassen. Meinen Patienten sage ich immer: „Wenn sie abstinent werden, wird ihr Leben besser werden. Garantiert!“