Ärztinnen und Ärzte sind von der Diagnose Sucht statistisch gesehen genauso häufig betroffen wie andere Menschen. Für alle Patienten, die Hilfe suchen, gibt es therapeutisch-ärztliche Hilfen, die im Idealfall gut ineinandergreifen: stationäre, ambulante sowie Reha-Angebote; zusätzlich kommen Selbsthilfegruppen dazu. „Hinter der Sucht“ – beim 13. Ärztetag am Dom in Frankfurt/Main hielten Dr. med. Siegmund Drexler, PD Dr. med. habil. Alexander Paulke, Dr. med. Dietmar Seehuber und der Moraltheologe Prof. Dr. Dr. Jochen Sautermeister ein „Plädoyer für ein zeitgemäßes Arzt-Bild“, so der Untertitel.
Die Landesärztekammer Hessen (LÄKH) übernimmt via Heilberufsgesetz einerseits Aufgaben der Berufsaufsicht, die unbedingt das Patientenwohl sicherstellen müssen und das Vertrauensverhältnis Arzt–Patient garantieren. Andererseits bietet sie als Standesorganisation ihren Mitgliedern wichtige Hilfen an, um Gefährdungen wie Suchterkrankungen und damit einhergehenden Approbationsentzug abzuwenden. Daher gibt es ein strukturiertes Modell der Hilfsangebote, wie Drexler erläuterte, der sich bei der LÄKH schon lange u. a. als Suchtbeauftragter für seine Kolleginnen und Kollegen engagiert. Dieses ruht auf drei Säulen: 1. Therapie, 2. Abstinenzkontrollen, 3. Selbsthilfegruppen (siehe dazu auch den Beitrag von Drexler ab S. 301).
Seehuber unterstrich, dass jeder, der süchtig ist, in der Verantwortung für sich bleibe. Auch wenn Angehörige häufig dem Süchtigen diese Verantwortung für sich absprächen. Eine Therapie kann dieses Verantwortungsgefühl für sich selbst verstärken („Du hast die Möglichkeit aufzuhören!“) und somit auch die Willensbildung zur Abstinenz fördern (zum Vortrag von Seehuber siehe ab S. 302). Daten hinsichtlich einer anthropologisch festgestellten familiären Veranlagung zu Sucht gebe es nicht wirklich, räumte der Rechtsmediziner Paulke auf Nachfrage ein. Er hob stattdessen die Wirksamkeit der Abstinenzkontrolle hervor, die als „Druck von außen“ eine zusätzliche Hilfe sei, oder, wie Drexler formulierte, ein „Rückenwind der Motivation“. Allerdings wirken Kontrollen nicht pauschal bei allen Süchtigen positiv. Bei einigen jedoch wandele sich der anfängliche Widerstand gegen die Abstinenzkontrolle in Einsicht um. „Kontrolle kann ein Hilfswerkzeug sein und wird dann schlussendlich nicht als negativ empfunden“, so die Erfahrung Paulkes. Die Frage, wann Sucht als schuldentlastend vor Gericht gelten könnte, wollte er jedoch nicht pauschal beantworten – dies komme immer auf den Einzelfall an (siehe dazu auch den Beitrag ab S. 303).
Sautermeister ging als Theologe auf das Spannungsverhältnis von Sucht, Authentizität und Freiheit ein. Grundsätzlich sei der Mensch in seiner freiheitlichen Selbstbestimmung immer nur bedingt frei (etwa Kants kategorischem Imperativ entsprechend, zum Beispiel). Hilfsprozesse wie die Bausteine Medikalisierung oder Substitution können für Süchtige einen Schritt zur neuen Freiheit bedeuten sowie dabei helfen, dem Leben wieder eine neue Sinnhaftigkeit zu verleihen.
Drexler führte diese Überlegungen fort: „Ich bin nicht zufrieden, wenn Sucht nur durch Kontrolle zunächst im Griff ist, sondern wenn jemand, daraus folgernd, kreativ wird und mit seinem Leben vorwärts geht“ – im Sinne eines „breiteren Lebens“. Dazu gehöre dann auch das Lernen, Gefahrensituationen für einen möglichen Rückfall selbst zu erkennen und dann gegenzusteuern. Eine Grenzsituation bedeute es für Ärzte bzw. Therapeuten wie auch die Familie jedoch immer, wenn Sucht mit Suizidalität einhergehe. Zum Thema „Hinter der Sucht“ bei Ärztinnen und Ärzten nannte Seehuber zwei Aspekte, um besser mit Belastungen umzugehen:
1. Die oft schmerzhafte Selbsterkenntnis zu internalisieren: „Ich bin nicht perfekt“. 2. Regeneration und Erholungsphasen aktiv als Fixpunkte in der Freizeit zu suchen.
Die Frage aus dem Publikum, wie Angehörige sich in ihrer Rolle als Co-Abhängige verhalten sollen, beantwortete Seehuber mit deutlichen Worten: „Es liegt in unserer Verantwortung, jemanden auf seinen Konsum oder sein Fehlverhalten auch anzusprechen.“ Wenn der süchtige Partner sich weigert, einen Arzt aufzusuchen, kann es oft helfen, dass die Angehörigen den ersten Besuch alleine angehen. Häufig kommen zum nächsten Termin die Suchtpatienten mit.
Sucht müsse als Krankheit gesehen werden, so das Schlusswort von Drexler. Es dürfe zu keiner Vorverurteilung des Lebens eines Süchtigen kommen – weder durch Angehörige noch durch den Süchtigen selbst noch durch die Gesellschaft – dann bestünden gute Aussichten, von der Sucht auch wieder loszukommen.
Isolde Asbeck
Zusammenfassungen der Referate finden Sie in der aktuellen Ausgabe unter der Rubrik „Ärztetag am Dom“ unter https://www.laekh.de/heftarchiv/ausgabe/2020/mai-2020