Dr. med. Siegmund Drexler
Ablehnung und Verachtung einerseits, Toleranz und Förderungsverhalten andererseits – der Umgang mit Suchterkrankungen ist in unserer Gesellschaft ambivalent. Ärztinnen und Ärzte sind keine Halb- oder Viertelgötter. Sie sind Menschen und als solche Teil dieser Gesellschaft. Sie sind von Hoffnung und Ängsten genauso betroffen und lösen diese auf ihre individuelle Weise.
Seit 2007 gibt es die Einrichtung des Drogen- und Suchtbeauftragten bei der Landesärztekammer Hessen. In dieser Zeit wurden etwa pro Jahr 20 bis 30 Neuerkrankungen betreut. Zum Betreuungsumfang gehören auch die Landeszahnärztekammer und Fälle aus der Apothekerkammer, der Tierärztekammer und der Kammer für psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendtherapeuten. Auf Wunsch des HLPUG werden auch andere Problemstellungen betreut.
Meldung und Betreuung von Suchterkrankten
Über die sogenannte MISTRA (Mitteilung in Strafsachen, MISTRA 26) wird der Landesärztekammer Hessen (LÄKH) von Staatsanwaltschaften, Gerichten und Polizei der Verdacht auf eine Abhängigkeitserkrankung (z. B. Trunkenheitsfahrten) gemeldet. Seit 2007 wird jeder dieser MISTRA-Mitteilungen nachgegangen und den Kolleginnen und Kollegen die Möglichkeit zu einem Gespräch angeboten. Andere Quellen sind Anschuldigungen durch Partner, Patienten, Mitarbeiter oder andere Kollegen und eigene Meldungen.
Der Drogen- und Suchtbeauftragte ist mit einer eigenen Schweigepflicht ausgestattet. Die von ihm bearbeitete „Akte“ ist nicht Bestandteil der Arztakte der Ärztin oder des Arztes in der Ärztekammer. Die Schweigepflicht schafft eine besondere Vertrauenssituation zwischen dem Arzt und dem betreuenden Beauftragten und führt zu Möglichkeiten, die ansonsten schwierig oder gar nicht zu realisieren wären.
Die Betreuung der Ärztinnen und Ärzte als „Patienten“ hat aber für die Drogen- und Suchtbeauftragten auch die Aufgabe, Netzwerke von therapeutischen Möglichkeiten zu schaffen, so dass betroffene Kollegen innerhalb kürzester Zeit einen Gesprächstermin und Therapieplatz bei einem suchterfahrenen Arzt bekommen können. Grundstruktur der Betreuung ist der Abschluss eines „Vertrages“, der sowohl die
Fallbeispiel 1: Suchterkrankung seit über 20 Jahren
Herr Dr. T. N. ist 54 Jahre alt und Facharzt für Chirurgie. Ab seinem 22 Lebensjahr hat er regelmäßig getrunken. Grund dafür waren Konflikte und die Sehnsucht, sich in die Isolation zu begeben, alleine zu sein.
Er hat nie in Gesellschaft getrunken. Zwei Ehen sind gescheitert. Er ist auf finanzielle Unterstützung angewiesen. Im Rahmen seiner Suchterkrankung, die über 20 Jahre dauerte, hatte er zweimal den Führerschein verloren und mehrfach den Arbeitsplatz gewechselt. Wenn Konflikte auftraten, kündigte er die Stelle und suchte sich ein neues Betätigungsfeld. Er war insgesamt elfmal zur Entgiftung und zehnmal in Langzeittherapie, ohne seine Erkrankung in den Griff zu bekommen.
Dr. T. N. ist jetzt seit acht Jahren trocken. Er hat in Kooperation mit dem Drogen- und Suchtbeauftragten der Landesärztekammer Hessen einen Arbeitsplatz als Chirurg gefunden und war einige Jahre als Oberarzt dann auch als leitender Oberarzt, tätig. Sein Chefarzt und der Träger der Klinik wurden über die Erkrankung informiert und stimmten der Anstellung zu. Er durchlief das Programm der Betreuung durch die Landesärztekammer Hessen. Mittlerweile arbeitet er, wie oben gesagt, mehr als sieben Jahren ohne Probleme und ohne rückfällig geworden zu sein. Er hat eine neue Beziehung geknüpft, die im Alltag tragfähig ist, und ist wirtschaftlich aus der Not herausgekommen. Vor einiger Zeit rief er erneut an und bat um ein bis zwei Gespräche, da er an einem anderen, größeren Krankenhaus eine leitende Funktion übernommen hat.
Er hat im Zuge der Behandlung gelernt, dass dies eine Krisensituation darstellt, und sich überlegt, dass vorübergehender erneuter Kontakt zum Drogen- und Suchtbeauftragten dabei helfen könne, nicht in alte Denkmuster und Verhaltensweisen zurückzufallen. Die neue Stelle hat er angenommen und übt sie ohne Probleme aus. Dr. T. N. ist wieder im Besitz der Fahrerlaubnis. (drx)
- Durchführung einer Langzeittherapie oder zum Beispiel die Einleitung der psychiatrischen medikamentösen Behandlung,
- die Durchführung von Abstinenznachweisen und
- die Teilnahme (wenn dies sinnvoll ist) an einer ärztlichen Selbsthilfegruppe enthält.
Die Kolleginnen und Kollegen werden unterstützt, z. B. bei der Wiedererlangung des Führerscheins, oder bekommen Hilfe bei Gesprächen mit Chefärzten, der Kassenärztlichen Vereinigung oder Trägern von Krankenhäusern.
Fallbeispiel 2: Co-Abhängigkeit in einer Arzt-Familie
Herr Dr. H. G ist niedergelassener Arzt, Facharzt für Innere Medizin und psychosomatische Medizin. Er hat eine psychotherapeutische Ausbildung. Schon als Jugendlicher wurde er von Ängsten gequält, bestand Prüfungen jedoch gut und bewältigte das Medizinstudium in der Mindeststudienzeit.
Er lebt in einer stabilen Beziehung, seine Familie weiß von seiner Erkrankung. Er meldete sich freiwillig bei der Landesärztekammer Hessen und bat um Hilfe, da er aus Scham vor sich selbst und vor seiner Familie (Hinweis auf Co-Abhängigkeitsproblematik der Ehefrau und der Kinder) sich entschlossen hatte, dieser Entwicklung nicht weiter tatenlos zuzuschauen.
In einer Aussprache mit seinem Sohn, der seiner Meinung nach zu viel „kifft“, erfuhr er zu seinem Erstaunen, dass der Sohn ebenfalls nahezu täglich Alkohol zu sich nimmt und sich regelmäßig betrinkt. Dr. H. G. ist jetzt seit über einem Jahr abstinent und geht ungestört seiner Arbeit in der Praxis nach. Probleme mit der Zulassung als Kassenarzt (Arztregister) hat er nicht gehabt, da er bei dem Ausfüllen des Formulars (dort wird nach einer eventuellen Suchterkrankung gefragt) nicht die Wahrheit geschrieben hatte. (drx)
Etwa 70 % der Behandlungen können in dem Sinne als erfolgreich bewertet werden, dass die Ärzte in ihrem Beruf verbleiben können und selbst einen Weg finden, aus ihrer Erkrankung herauszukommen.
Zusammengefasst sind die Interventionsprogramme der Ärztekammern in der Lage, den betroffenen Ärztinnen und Ärzten zu helfen. Sie sind erfolgreich. Abhängigkeitserkrankungen sind häufige Krankheiten und wir sind aufgefordert, dem Patienten im Allgemeinen, aber insbesondere den Kolleginnen und Kollegen eine helfende Hand entgegenzuhalten. Dieses bedeutet aber auch, dass der Aspekt einer Patientengefährdung niemals aus dem Blickwinkel geraten darf. Er ist für das Handeln der Ärztekammer bestimmend. Die Ärztekammer ist einerseits eine Organisation der Ärzte und hat die Aufgabe, ihnen zu helfen; andererseits ist sie als Körperschaft des öffentlichen Rechts auch eine Berufsaufsichtsinstitution. Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass diese beiden Aspekte nicht in Konflikt miteinander liegen. Wir dürfen nicht die Augen vor den Problemen verschließen und können mit Optimismus und mit großen therapeutischen Aussichten Kolleginnen und Kollegen der freien Berufe, insbesondere Ärztinnen und Ärzten, helfen.
E-Mail: suchtbeauftragter@laekh.de