„Technik hat dem Wohl der Menschen zu dienen. Ihr Fortschritt bedarf ethischer Begleitung und Kontrolle, er rechtfertigt nicht pauschal ,Kollateralschäden’.“ (W. Thiede)
Als technische Innovation bietet die Digitalisierung Fortschritt und Vorteile. Das gilt für Datenverkehr, Datenspeicherung und Datenverarbeitung – und auch für die sogenannte Künstliche Intelligenz (KI). Das weiß jeder, denn die Digitalisierung bewirbt sich selbst mit einem ungeheuren Etat, der von Bitkom, dem Verband der Digitalindustrie aufgewendet wird. Diese Propaganda dient der digitalen Verbreitung und steigert die Gewinne. Meist wird die digitale Unausweichlichkeit jedermann vor Augen geführt. Besonders in politisch administrativen Kreisen ist diese Werbung äußerst erfolgreich.
Digitalisierung stellt sich als zwingend, quasi natürlich dar, als etwas, wogegen nur uninformierte und verbissene Maschinenstürmer oder andere, meist alte Fortschrittsverweigerer sich vergeblich stemmen. Das behauptet die Werbung und hat darin mächtige Verbündete in der Gesellschaft. Es handelt sich um aufstrebende und ehrgeizige junge Männer, die Hauptagenten und Profiteure des digitalen Geschäfts, denen die digitale Logik entgegenkommt und die aus mangelnder Lebenserfahrung an einen ständigen, machbaren technischen Fortschritt glauben. Die digitale Virtualisierung verspricht, alles möglich zu machen, während das Real Life den Wünschen Grenzen setzt. Anders ausgedrückt: Die Virtualisierung eröffnet neue Räume des Probe-Handelns gegenüber einer widerständigen Realität des Lebens, woran sie ihr Maß hat.
Generationskonflikt als Werbung
Die erfolgreiche Pressure-Group der Digitalisierung hat früh eine werbewirksame und geschäftsfördernde, bestechend einfache Figur in den Diskurs um die Digitalisierung eingebracht: Die Generationendifferenz als Aufmacher. Der Unterschied zwischen den Generationen wird betont, der „generational divide“. Demnach gibt es junge „digital natives“, die schon mit der Digitalisierung auf die Welt gekommen sind, und alte „digital ignorants“, bestenfalls „immigrants“, denen die Geheimnisse des Digitalen immer fremd bleiben. Weil die Jungen die Alten aber überleben und ihnen schließlich Zukunft und Welt gehören, liegt der Schluss nahe: Die Zukunft wird unwiderstehlich digital sein.
Die Digitalisierung schöpft ihre enorme Durchsetzungskraft aber nicht nur aus sich selbst; als Kulturprodukt ist sie wie andere Medien in die Geschichte eingebunden (Schrift, Buchdruck, Massenpresse, Fernsehen). Von Beginn an war sie mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen verknüpft (wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen). Bündnispartner der Digitalisierung ist der neoliberale Ökonomismus. Sie ist mit dem radikalen Marktdenken zusammen aufgetreten, hat dessen Ideologie benutzt und zugleich befördert. Gegenüber diesen kulturellen Mächten scheint jeder Einspruch unvernünftig. Auch jeder Hinweis auf weniger gute Folgen oder gar Kollateralschäden scheint vergeblich und es bleibt nur, auf den verheißenen Fortschritt zu vertrauen: das digitale Mantra.
Alle kulturellen Einrichtungen stehen unter einem gewaltigen Änderungsdruck, besonders aber Krankenversorgung, Verwaltung gemeinsamer Güter und alle Bildungseinrichtungen. Denn das Kulturprodukt Digitalisierung ist nicht nur Ergebnis technischer Modernisierung, sondern zugleich und zunehmend ein Kulturinstrument, das Denken, Handeln, Fühlen sowie das ganze Leben nach seiner Logik transformiert. Um an der Schriftkultur teilzunehmen, mussten alle Kinder lesen lernen. Jetzt sollen digitale Gerätschaften in den Kindergarten eingeführt werden.
Totaler ökonomistischer Digitalismus
Bei so viel Gewinn ist es nötig, nach den Verlusten zu fragen. Und auch das geschieht schon lange. Aber die auf der Hand liegenden Beweise für schwere kulturelle Schäden werden durch lautes Marktgeschrei übertönt. Kritik wird mit großem publizistischen und ökonomischen Aufwand in den Hintergrund gedrängt; niemals wird sie ausgeräumt oder widerlegt. Das ist unschwer an der wechselvollen Geschichte der elektronischen Gesundheitskarte zu erkennen, wo bedenkliche Folgen zuerst verleugnet, dann zugegeben wurden und schließlich ihnen entsprochen werden musste, ohne den Fortschrittsoptimismus in Frage zu stellen.
Auch in der medizinischen Versorgung gibt es unbezweifelbar Gewinne durch die Digitalisierung, die niemand ernsthaft in Frage stellt.1 Woher also rührt der nicht auszuräumende Widerstand gegen die totale Digitalisierung? Er speist sich aus unterschiedlichen Motiven.
Digitalismus befördert die Administration zulasten der Therapeutik
Zuerst sind die Übergriffe der digitalen Logik auf die therapeutische Praxis zu nennen, die sich mit der administrativen Logik gut verträgt und das therapeutische Denken bedrängt. Digitalisierung bietet sich zwar als Arbeitserleichterung an, ist aber mit ungeheurem Aufwand und Kosten verbunden. Sie nimmt Mittel und Zeit in Anspruch, die zum Nutzen der Kranken besser eingesetzt werden könnten. Das ist deutlich im Krankenhaus zu beobachten, wo das Pflegepersonal zwar noch die Patienten pflegt, aber nur dann seiner Aufgabe ganz gerecht wird, wenn es zugleich „die Daten einpflegt“, damit ihre Tätigkeit belegt und gewinnbringend verrechnet werden kann. So setzt sich mit Hilfe der Digitalisierung Bewirtschaftung und Verwaltung über die Therapeutik hinweg.2
Schon oft wurde kritisiert, dass mit der zunehmenden Digitalisierung eine grundsätzliche Datenunsicherheit einhergeht, die mit noch so ausgefeilter Technik nicht zu bewältigen ist.3 Damit wird die vertrauensvolle therapeutische Beziehung im Grunde bedroht. Jeder Kranke ist darauf angewiesen, dass er sich seinem Behandler rückhaltlos anvertrauen kann. Das Vertrauensverhältnis ist aber in Zeiten verordneter Digitalisierung nicht mehr zu garantieren. Eigentlich müsste jeder Arzt seinem Patienten sagen: „Ob das, was Sie mir anvertrauen, in den vielfältigen Vermittlungsprozessen vertraulich bleibt, hängt nicht von mir alleine ab: Cave!“ Den Bedenken wegen der Datensicherheit wird die schärfste Polemik entgegengesetzt. Die bisherige Zettelwirtschaft sei auch nicht sicher und fördere zudem in ihrer Undurchsichtigkeit Misswirtschaft und Betrug. Das ist der Ton, mit dem die ethischen Bedenken der angeblichen Fortschrittsverweigerer kommentiert werden.
Verleumdung statt Überzeugungsarbeit
Die politischen Digitalisierungsvollstrecker, allen voran die letzten Gesundheitsminister, scheuen nicht vor moralisch höchst bedenklichen Mitteln zurück, um ihr Vorhaben durchzusetzen. Verweigerer aus Gewissensgründen werden herabgesetzt und mit empfindlichen Strafen (Honorarabzug) belegt oder sie werden durch Prämien geködert. Damit wird der therapeutische Ethos zur Ware, bekommt einen Preis. Die moralische Haltung wird zu einer Frage des Geldes, ganz der Ethik des homo oeconomicus entsprechend.
Von vielen unbemerkt ist die Digitalisierung in der Heilkunde weit fortgeschritten und hat Anerkennung gefunden: Telemedizin gilt als Rettung vor Ärztemangel in unattraktiv gewordenen Regionen, der Robodoc breitet sich trotz aller Pannen aus, der Digital Psycho tritt selbstbewusst in Psychiatrie und Psychotherapie auf, das digitale Krankenhaus hat sich etabliert, Dr. Google beherrscht den Alltag...
Die ärztliche Praxis steht unter einem hohen Veränderungsdruck, wie an wenigen Beispielen deutlich wird. Die totale Erhebung, Bündelung und Speicherung aller sogenannten Gesundheitsdaten ist für lebensfremde Administratoren eine blendende Idee, von der sie sich mehr Planungssicherheit versprechen, und für die Gesundheitsökonomen, weil für sie gilt: je mehr Daten, desto mehr Gewinn. Für die alltägliche Praxis ist die Datenflut meist unerheblich.
Der Patient als Datensack
Was heißt das für die therapeutische Beziehung? Patienten kommen in eine Datenwolke eingehüllt in die Praxis und nicht mit ihren Beschwerden. Weil nicht gewährleistet ist, dass diese Datenmenge „fachlich“ gepflegt wird, werden Daten ungleicher Relevanz und Validität ungeordnet nebeneinanderstehen. Verwirrend ist zusätzlich, dass die Relevanz der Befunde, die sich aus dem diagnostischen Pfad ergeben (von den Beschwerden ausgehend, der Erhebung spezifischer Befunde, zu einer wissenschaftlich begründeten Indikation) nicht mehr erkennbar ist. Damit besteht die Gefahr einer unspezifischen Diagnostik: den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen. Etwas, das heute oft unerfahrenen datengläubigen Kollegen von erfahrenen Klinikern vorhalten wird.
Außerdem wird der traditionelle Mensch, den Luther in seiner Hinfälligkeit als Madensack bezeichnete, zu einem sinnlosen Datensack, den es nur richtig zu klassifizieren und an die passenden Gerätschaften anzuschließen heißt, um ihn wieder effizient und effektiv funktionsfähig zu machen.
Noch mehr Skepsis ist gegenüber den Verheißungen der sogenannten Künstlichen Intelligenz angebracht. Es ist nicht nur wichtig, zu betonen, dass lebenserfahrene Ärzte und Therapeuten nicht durch sie ersetzt werden können, sondern zu wissen, dass die Leistung der KI, trotz aller Beteuerungen, höchst beschränkt ist. Bei der KI handelt es sich um eine bloß instrumentelle oder funktionalistische Vernunft, die als Verrechnung auch eine Maschine zu leisten vermag. Die KI versagt im zwischenmenschlichen Umgang der Krankenbehandlung. Sowohl Diagnostik als auch Therapie brauchen eine persönliche Begegnung und die KI kann die vertrauensvolle Frage „Herr Doktor, was würden Sie an meiner Stelle tun?“ nie beantworten. Zur therapeutischen/ärztlichen Intelligenz gehören neben funktionalem Verrechnen von Korrelationen und instrumenteller Zuordnung zu vorgegebenen Kategorien (Digitale Diagnostik, zum Beispiel ICD Manuale) sowie Verfahren (Digitale Indikation, zum Beispiel Leitlinien) noch andere Vermögen, um den Lebensphänomenen gerecht werden zu können – denn Krankheit ist ein Phänomen des Lebens, kein Maschinenschaden. Die Krankheit eines Menschen zu behandeln bedarf zusätzlich einer emotionalen, ästhetischen, kommunikativen und kreativen Intelligenz in der zwischenmenschlichen Beziehung.
KI hat keine therapeutische Intelligenz
Therapeutische Intelligenz kann nur durch fachliche Kenntnis, gepaart mit Lebenserfahrung erworben werden. Für sogenannte Diagnostiker in der digitalen Gesundheitswirtschaft reicht die funktionalistische Intelligenz, die einer Maschine einprogrammiert werden kann, weil es nur um statistische Zuordnung geht.
Für die Lebenspraxis der Therapeutik ist eine solche verengte Vernunft unzureichend: Kranke sind Individuen. Es ist mehr vonnöten, etwas, das durch Bildung und Erfahrung im Leben erworben wird und nie von einer Maschine simuliert werden kann. Das ist der unaufhebbare Widerspruch zwischen digitaler Virtualität und der Realität des Lebens (K.P. Liessmann). Darin sind sich weitgehend auch alle ernstzunehmenden Digital-Forscherinnen und Forscher einig. Das ist ein kleiner Hoffnungsschimmer in Zeiten grassierender digitaler Unvernunft.
Die Beiträge in der Rubrik „Ansichten & Einsichten“ geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
1 Allerdings hat auch die sogenannte Ermächtigung des Patienten gegenüber dem Arzt, die in der selbstständigen Kontrolle basaler Gesundheitsparameter (permanente Blutdruckmessung, EKG usw.) gesehen wird, eine Schattenseite in einer schleichenden Entprofessionalisierung des Fachwissens und der grassierenden Hypochondrisierung einer leistungsfixierten Gesellschaft.
2 Hier findet sich auch die Erklärung für den akuten Personalmangel. Wenn die Pflege eines Computers besser bezahlt wird als die Pflege eines Menschen, ist es nach den herrschenden Gesetzen des freien Marktes nur vernünftig, dass PC-Pflege attraktiver ist als Menschen-Pflege.
3 Diese Feststellung fand während der endgültigen Fertigstellung des Skriptes, Ende Dezember 2019, eine makabre Bestätigung im Aufweis von Sicherheitslücken der elektronischen Patientenakte durch den Chaos Computer Club (CCC). Besorgniserregend ist darüber hinaus der hilflose Versuch der Gematik, den Skandal herunterzuspielen.