Die Gründung und Eröffnung der Deutschen Klinik für Diagnostik (DKD) in Wiesbaden – heute die DKD Helios Klinik – vor 50 Jahren war der Versuch, eine Antwort zu finden auf gravierende Veränderungen im Gesundheitswesen. Die rasanten Fortschritte der medizinischen Forschung auf allen Gebieten führten zu einer Aufsplitterung des Medizinwesens in hoch spezialisierte Fach- und Wissensbereiche, die oft autonom agierten.
Um den Problemen etwas entgegenzusetzen, gründete der Frankfurter Internist Dr. med. Leonid Krutoff eine „Medizinische Gesellschaft für die Förderung einer nach dem Vorbild der Mayo-Clinic [2] in Deutschland zu errichtenden Klinik“. Er erkannte, dass die innere und äußere Organisation der Mayo-Clinic geeignet war, den oben skizzierten Nachteilen der modernen Medizinentwicklung entgegen zu wirken.
Das in der deutschen Landschaft des Gesundheitswesens neuartige Modell der DKD war also eine Antwort auf dringende Probleme einer in Praxis und Forschung wachsenden Medizin mit zunehmendem Einfluss kommerzieller Kräfte. Dem damaligen hessischen Ministerpräsident Dr. Georg August Zinn war es zu verdanken, dass die neue „Deutsche Klinik für Diagnostik“ im Wiesbadener Aukammtal gebaut und am 2. April 1970 eröffnet werden konnte.
Die wichtigsten Strukturmerkmale der neuen Klinik waren folgende: Um den Transfer medizinischen Wissens und Erfahrung unter den Kollegen zu fördern, wurden alle Fachdisziplinen „unter einem Dach“ untergebracht. Vor allem aber wurden neben der räumlichen Nähe auch die innere Struktur und Organisation so gestaltet, dass jederzeit ein reger Erfahrungs- und Wissensaustausch zwischen den über 40 hoch qualifizierten Ärzten gefördert wurde und dieser wertvolle Wissenspool von allen Kolleginnen und Kollegen genutzt werden konnte.
Wichtig für ein motivierendes und effektives Arbeitsklima war die Mitwirkung der Ärzteschaft in Leitungsbereichen und weitgehende Selbstverwaltung der ärztlichen Bereiche. Die Transparenz der Gehälter und die Einbeziehung des Personals in Gestaltungsaufgaben sorgten dafür, dass Konkurrenzdenken, Neidstrategien, persönliche Ressentiments oder Personalfluktuationen kaum ein Problem waren. [3]
Dieses interne Organisationsprinzip führte zu einem regen kollegialen Wissens- und Erfahrungsaustausch mit einem sich potenzierendem Lerneffekt für alle Kollegen und Kolleginnen. Diese „kooperative Kompetenzaneignung“ [4] wurde noch wesentlich durch die obligate „Montagskonferenz“ verstärkt, in der unklare Fälle, Problemfälle, Fehldiagnosen und neuere, klinikrelevante wissenschaftliche Forschungsergebnisse vorgestellt und offen diskutiert wurden. Der Erfolg und der sich rasch ausbreitende hervorragende Ruf der Klinik waren nicht zuletzt diesem Organisationsprinzip und seiner positiven Auswirkung auf die soziale Generierung von Erfahrungs-, Wissens- und Beratungskompetenz zu verdanken.
Die Institution des „Persönlichen Arztes/Ärztin“ war eine logische Konsequenz aus der Notwendigkeit, die Untersuchungsergebnisse der verschiedenen Fachdisziplinen zusammenzuführen, zu koordinieren, zu gewichten und für den Patienten in einen für ihn einsichtigen Zusammenhang zu bringen. Dabei konnte sich der „Persönliche Arzt“ durch direkten Kontakt mit den betreffenden Fachkollegen unterstützen lassen, was wiederum den interkollegialen Lerneffekt potenzierte. Der Persönliche Arzt war sozusagen die Person, in dem die Vorteile einer wissenstransparenten Kollegialkultur zusammenflossen, sodass ihm das ganze Wissen des „Pools“ zur Verfügung stand. Dem Patienten konnte damit das Gefühl geben werden, ein „ganzer“ Mensch zu sein trotz der Begegnung und Konfrontation mit der für ihn oft befremdlichen und unübersichtlichen Welt einer aufgesplitterten High-Tech-Medizin.
Organisation und innere Struktur der DKD waren ein Novum im deutschen Gesundheitswesen. Unter anderem stellte sich bald heraus, dass das Vergütungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) für die in der DKD vorwiegend ambulant erbrachten Leistungen nicht kostendeckend und der wirtschaftliche Erfolg der Klinik gefährdet war, zumal in den ersten Jahren nach der Gründung der Klinik der Patientenzustrom aus verschiedenen Gründen gering blieb.
Der Sozialminister der Hessischen Landesregierung Dr. med. Horst Schmidt erkannte 1973 die wegweisende, gesundheits- und sozialpolitische Bedeutung der DKD. Es gelang ihm zusammen mit den ärztlichen Standesorganisationen die „Stiftung Deutsche Klinik für Diagnostik GmbH“ zu gründen. Gesellschafter waren das Land Hessen, die KV Hessen und die Landesärztekammer Hessen.
Bis 1988 wurde die DKD von einem durch die Hessische Regierung ernannten, kaufmännischen Geschäftsführer geleitet, zusammen mit einem von den Ärzten gewählten Ärztlichen Geschäftsführer und unter Anhörung der für die ärztliche Selbstverwaltung gewählten Fachbereichsleiter.
Mit der Änderung der politischen Verhältnisse in der Landesregierung, der Schwierigkeit wirtschaftlicher Führung von Kliniken, der Gründung großer, gewinnorientierter Gesundheitskonzerne und dem dadurch bedingten zunehmenden Einfluss der Ökonomisierung des Gesundheitswesens wuchs die Bereitschaft der öffentlichen Hand, defizitäre Projekte zu privatisieren. 1988 wurden erste Gespräche mit Unternehmern im Gesundheitswesen aufgenommen mit der Absicht einer „Reprivatisierung“.
Im Zuge wirtschaftlicher Neuorientierungen wurde die DKD 2013 dann an einen andern Konzern weiterverkauft. Es gelang den neuen Unternehmen durch Rationalisierungsmaßnahmen sowie durch personelle und organisatorische Umstrukturierungen die Klinik wirtschaftlich zu sanieren. Allerdings zu einem hohen Preis: Der Modellcharakter der Klinik als eine moderne Antwort auf die „High-Tech“-Medizin und die zunehmende Kommerzialisierung ging verloren. Einzelne Fachbereiche (unter anderem Labor, Infektiologie, Psychosomatische Medizin, Psychotherapie und Sonografie) wurden aufgegeben oder als eigenständige Mitglieder aus der Klinik ausgegliedert und einem „Medizinischen Versorgungszentrums“ (MVZ) zugeordnet. Verbliebene Fachbereiche wurden wie im klassischen Modell der Deutschen Krankenhäuser zu Abteilungen mit Chefärzten, Oberärzten und Assistenzärzten. Die Selbstverwaltungsorgane wurden geschwächt bzw. aufgehoben. Die für die frühere DKD identitätsstiftende transparente Wissens- und Erfahrungsgemeinschaft war damit weitgehend „ökonomischen Zwängen“ geopfert worden.
Das Schicksal des „Modells DKD“ verweist auf ein Grundproblem, nämlich wissenschaftlichen Fortschritt, ärztliche-ethisch verantwortbare Medizin und Ökonomisierung zu harmonisieren. Ein Hessischer Gesundheitspolitiker brachte dieses Ambivalenzproblem auf die einfache Formel: „Die Medizin braucht Ökonomisierung, aber im Mittelpunkt steht der Mensch.“ Mit anderen Worten: Der Arzt braucht Arbeitsbedingungen, die ihm erlauben, seine ärztlich-ethische Verantwortung erfüllen zu können. Das wäre ein Appell an die Gesundheitspolitik, diesen Spielraum offen zu halten und sich nicht den Zwängen (und Verführungen) der Ökonomisierung bedingungslos zu ergeben.
Eine diskursfähige Perspektive gegen den Totalitätsanspruch des Ökonomisierungsrationalismus ist daher dringend notwendig. Mag das „Modell DKD“ von Wirtschaftsökonomen auch mit einem gewissen Recht als „unrealistisch“ abgehakt werden, so bot dieses Modell in seinem Kern jedoch praktikable Beispiele dafür, wie ein gutes Arbeitsklima hilft, ärztliches Wissen und ärztliche Erfahrung einerseits und notwendige Spezialisierung andererseits zu vereinbaren und wie man der „Unübersichtlichkeit“ der in Fachdisziplinen aufgesplitterten Medizin entgegensteuern kann – Voraussetzungen, um eine patientenorientierte Medizin auf hohem Niveau zu erreichen und zu erhalten.
In diesem Zusammenhang hat die Bundesärztekammer (BÄK) ein Positionspapier herausgebracht, in dem sie die „Auswirkungen der Kommerzialisierung im Gesundheitswesen“ benennt und Lösungsvorschläge macht. (http://daebl.de/XQ53). Einige der darin enthaltenen Forderungen wie beispielsweise
- mehr Zeit für die Patientenversorgung,
- das Arbeitspensum von Ärzten an Regelarbeitszeiten anzunähern,
- der Abbau bürokratischer Lasten und
- Werte-orientierte (!) Führungskultur
waren im „Modell DKD“ zum Teil realisiert.
Das Hessische Ärzteblatt 10/2019, S. 596 veröffentlichte einen Aufsatz von Jürgen Hardt mit dem Titel „Ökonomisierung des Gesundheitswesens: Moralisches Dilemma oder ethische Herausforderung?“, in dem die Problematik ärztlichen Handelns unter der Herrschaft des „Ökonomismus als letzte Ideologie“ exakt und beispielhaft analysiert wird. [5]
Seit der Ausgabe 02/2020 startet das Hessische Ärzteblatt eine neue Serie: „Ethik, Gesundheitsversorgung und Ökonomie“. [6]
Der Ambivalenz-Konflikt zwischen Ökonomisierung einerseits und ethisch-ärztlich verantwortungsvoller Handlungsmöglichkeit andererseits spiegelt sich im Scheitern des „Modells DKD“ paradigmatisch wieder, sodass ein kritischer Rückblick auf die 50-jährige Geschichte der DKD lehrreich sein könnte, auch im Hinblick auf praktische Lösungen in der Organisationsstruktur zukünftiger oder bereits bestehender Kliniken, die nicht unbedingt einer kommerziell vernünftigen Kostenstruktur entgegen zu stehen bräuchten. Der Ökonomismus darf nicht die „letzte Ideologie“ bleiben, sondern bedarf dringend einer diskursfähigen Öffnung. Gesundheitskonzerne, die Ärzteschaft, die Kostenträger, die Politik und nicht zuletzt Patientenvertreter müssen gemeinsam nach neuen Lösungswegen suchen. Ansätze dazu lassen sich in einigen Bereichen der öffentlichen Gesundheitspolitik erkennen. [6]
Prof. Dr. med. Wolfgang Kuhl, ehemaliges Mitglied des Ärzteteams der Deutschen Klinik für Diagnostik in Wiesbaden, E-Mail: wolfgang.kuhl@online.de
Die Literaturhinweise finden Sie in der PDF-Version der aktuellen Ausgabe auf unserer Website unter https://www.laekh.de/heftarchiv/ausgabe/2020/mai-2020