21. Jahrestagung der Thure von Uexküll-Akademie für Integrierte Medizin (AIM)
Dr. med. Sven Eisenreich
Vertrauen und Trauma sind zwei Begriffe, die sich nicht nur zu widersprechen, sondern einander fast auszuschließen scheinen. Sie bilden einen enormen Spannungsbogen, den die Thure von Uexküll-Akademie für Integrierte Medizin (AIM) auf ihrer 21. Jahrestagung aufgegriffen und vielfältig bearbeitet hat. Im vergangenen November diskutierten dazu in Frankfurt/Main mehr als 140 Teilnehmerinnen und Teilnehmer.
Einen emotional sehr beeindruckenden Einstieg in die Tagung gab es durch ein von Dr. med. Gisela Volck, Allgemeinmedizinerin aus Frankfurt und Vorstandsmitglied der AIM, geführtes Interview mit der Schauspielerin Miriam Maertens.
Vertrauen, Geduld und Disziplin
„Wehe dem Kind, das beim Kuss auf die Stirn salzig schmeckt, es ist verhext und muss bald sterben.“ So zitiert es Maertens in ihrem Buch „Verschieben wir es auf morgen – Wie ich dem Tod ein Schnippchen schlug“, und so erzählte sie es auch dem Publikum im Haus am Dom, das gespannt zuhörte. Die gebürtige Hamburgerin stieg ohne Umschweife und mit bemerkenswerter Offenheit in ihre Lebens- und Krankengeschichte ein. Sie kam Anfang der 1970er-Jahre mit einer Mukoviszidose auf die Welt, was damals mehr oder weniger einem Todesurteil gleichkam, denn die Behandlungsmöglichkeiten waren beschränkt, das Wissen über die Erkrankung ebenfalls. Nicht selten wurde Eltern damals empfohlen, die Kinder in ein Heim oder eine Pflegefamilie zu geben, um nicht den qualvollen Leidensweg der Betroffenen mitansehen zu müssen, die meist früh starben.
Anders bei Maertens. Mit unglaublich viel Halt und Unterstützung durch ihre Familie kämpft sie bis heute gegen ihre Erkrankung an. Mittlerweile ist sie Ende Vierzig, hat eine Lunge transplantiert bekommen und ist Mutter eines Sohnes. Zu verdanken habe sie dies neben ihrer Hartnäckigkeit und ihrem Vertrauen in den eigenen Körper ganz wesentlich Prof. Harms und Dr. Bertele aus dem Dr. von Haunerschen Kinderspital in München, so Maertens. Dort habe sie grundsätzliche Methoden der Selbstbehandlung gelernt: regelmäßiges Inhalieren und die autogene Drainage, eine spezielle Atemtechnik für lungenkranke Patienten mit vermehrtem und zähem Bronchialsekret.
Aber neben Vertrauen, Disziplin und Geduld sei es mitunter auch ein gewisses Maß an Non-Compliance gewesen, das ihr weitergeholfen habe. Sie habe nicht selten dem Rat der Ärzte widersprochen, wenn sie die Vorschläge für sich als nicht richtig empfunden habe. So habe sie beispielsweise eine antivirale Therapie bei einer schweren Cytomegalie-Virus-Infektion gegen den eindrücklichen Rat der Ärzte abgebrochen, weil die Nebenwirkungen für sie nicht mehr aushaltbar gewesen seien.
Geteilte Lebenswirklichkeit
An diesem erzählten Beispiel wurde deutlich, wie viel gegenseitiges Vertrauen es in der Beziehung zwischen Behandler und Patient braucht und wie schnell Traumatisierungen auch im Medizinsystem trotz aller guten Absicht drohen können. So erlebte Maertens die wahrscheinlich juristisch korrekte Aufklärung über die Folgen einer Lungentransplantation als verstörend und ängstigend. Erst als es einem Arzt gelang, sich in die Lebenswelt von Maertens hineinzuversetzen und sie daran teilhaben ließ, was es für ihn bedeutet, diese Arbeit zu tun, war das Eis gebrochen und sie konnte sich zur Transplantation entscheiden.
In diesem Duktus der Wechselseitigkeit entwickelte sich die Tagung weiter. Vertrauen und Trauma, Theorie und Praxis, Hoffnung und Verzweiflung lösten sich in ihrer Darstellung ab und zeichneten mehr und mehr ein komplexes Bild dieser Begriffe. Vor allem systemkritische Fragen an das Gesundheitssystem haben die Diskussion unter den TeilnehmerInnen immer wieder angeregt. Am deutlichsten zeigte sich dies an den Vorträgen von Prof. Dr. med. Giovanni Maio (Freiburg) und Prof. Dr. med. Gerhard Trabert (Mainz/Wiesbaden). Maio ist Philosoph, Internist und Lehrstuhlinhaber für Medizinethik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Trabert ist Allgemein- und Notfallmediziner und hat eine Professur für Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden inne.
Verzicht auf den Kontrollimperativ
Nach Maio stehe Vertrauen heute unter Irrationalitätsverdacht. Es sei eine riskante Vorleistung und werde leicht als etwas Defizitäres angesehen. Die Medizin müsse aber ein strukturell unumgängliches Nicht-Wissen aushalten beziehungsweise dieses entproblematisieren. Vertrauen sei ein Mittelzustand zwischen Wissen und Nicht-Wissen und ein freiwilliger Verzicht der Beteiligten auf den Kontrollimperativ. Dies erscheint schwierig in einem Gesundheitssystem, das an fast allen Stellen nur noch Misstrauen kennt und Missbrauch unterstellt. Dabei ist für Maio Vertrauen eine Treueerwartung, die die restlose Unkorrumpierbarkeit des Anderen voraussetze, egal was kommen möge. Es wurde mehr als deutlich, wie durch die heutigen Strukturvoraussetzungen des Gesundheitssystems eine vertrauensvolle Beziehung zwischen BehandlerIn und PatientIn erschwert oder auch verunmöglicht werden.
Armut macht krank und Krankheit macht arm
Im Kontrast zu diesem philosophischen Exkurs stand Traberts Vortrag. Er kritisierte das bestehende Versorgungssystem in Deutschland ebenfalls scharf, aber aus einem ganz anderen Blickwinkel. Trabert versorgt seit vielen Jahren unterschiedslos wohnungslose Menschen mit und ohne Krankenversicherung. Er ist der erste Kassenarzt, der umherziehend seinen Beruf ausüben darf und sucht Bedürftige mit seinem „Arztmobil“, einer rollenden Ambulanz, direkt auf der Straße auf. Sein Motto: „Kommt der Patient nicht zum Arzt, muss der Arzt zum Patienten gehen“. Die Erfahrungen, die er dabei macht, sind nicht nur berührend, sondern sie lösen auch Wut und Betroffenheit aus. „Adäquate medizinische Versorgung ist ein Menschenrecht, Sozialarbeit immer auch politisches Engagement. Wir dürfen Unrechtsstrukturen nicht akzeptieren“, forderte Trabert.
Wohnungslose Menschen sind in vielfacher Hinsicht gefährdet. Sie erfahren wenig Unterstützung, eher Ausgrenzung und geraten oft in einen Teufelskreislauf, aus dem sich nur wenige befreien können. Nach einer Phase der Auflehnung und Revolte gegen die eigene Situation schließe sich meist eine Phase der Selbstentwertung mit depressivem Rückzug, vermehrtem Alkoholkonsum und Suizidgedanken an. Dies ende meist mit der völligen (Selbst-)Aufgabe und weiterem Rückzug und der Vorstellung, gefangen im eigenen Leid zu sein.
Das Trauma als Schmerz
Ebenfalls gefangen in ihrem Leid fühlen sich oft PatientInnen mit chronischen Schmerzen. Dr. med. Sina Moreau und Dr. med. Wolfgang Merkle aus dem Hospital zum Heiligen Geist berichteten von ihrer Arbeit in der Interdisziplinären Multimodalen Schmerztherapie (IMS). Nicht wenige der dort behandelten PatientInnen sind ebenfalls traumatisiert – sei es aufgrund der Lebensgeschichte durch physische oder psychische Gewalt oder iatrogen durch eine Vielzahl operativer und nicht selten überflüssiger Eingriffe. Die Liasonarbeit zwischen Anästhesisten und Psychosomatikern ermögliche einen vertrauensvollen Zugang zu den PatientInnen, die sich in der Behandlung oft erstmals als Mensch und nicht als Krankheitsfall wahrgenommen fühlen würden.
Rezepte im Kopf
Marianne Rauwald aus Frankfurt am Main nahm die ZuhörerInnen mit auf eine Reise zu einer jesidischen Familie, die sie selber erst kurz zuvor im Irak besucht hatte. Rauwald arbeitet als Psychotherapeutin mit traumatisierten Geflüchteten. Sie interessiert sich neben dem Erlebten vor allem für die Kultur und die Symbole der Menschen, die ihre Heimat verlassen haben. Die kulturelle Begegnung ist Ausgangspunkt ihrer Arbeit. Nicht selten werde sie in Familien, die nach Deutschland geflohen sind, zum gemeinsamen Essen eingeladen, was sie einerseits an die Grenzen des therapeutischen Settings bringe, andererseits Ausdruck eines gewachsenen Vertrauens sei, dem man sich kaum entziehen könne. „Das einzige, was diese Menschen auf der Flucht noch mitnehmen können, sind die Rezepte im Kopf.“
Hierzulande stünden den Geflüchteten nicht selten ganz andere Belastungen bevor als in ihrer Heimat. Die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften mit Gewalt und Diebstahl, ein ungeklärter Aufenthaltsstatus oder zurückgelassene Familienangehörige erschweren die Integration in einem neuen und fremden Land. „Mitunter erleben die Menschen hier noch weniger Kontrolle über ihren Alltag als auf der Flucht“, sagte Rauwald. So schaffe das Einkaufen bekannter Lebensmittel und das Zubereiten vertrauter Speisen Beruhigung und Raum für Begegnung. Die Traumabearbeitung ist für Rauwald dabei nur ein nachrangiges Ziel, ihr geht es mehr um ein Aufnehmen und Halten der Erzählungen.
Hoffnung in jedem Schmerz
Einen Vortrag der besonderen Art hielt Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. M. Sc. Christian Schubert, Psychoneuroimmunologe aus Innsbruck. Er analysierte das künstlerische Werk von Joseph Beuys aus bio-psycho-sozialer Sicht. Beuys war als junger Soldat im Zweiten Weltkrieg bei einem Flug abgestürzt und in Schneemassen fast erstickt. Dieses Thema des Erstickens, des Zudeckens findet sich in vielen seiner Werke, später aber auch auf biologischer Ebene: Er verstarb an einer interstitiellen Pneumonie und erstickte tatsächlich. Schubert nennt diese Phänomene Fraktale, also Selbstähnlichkeiten, die auf unterschiedlichen Systemebenen ihre Ausgestaltung finden können. Das Bild der Installation eines in Filz verhüllten Konzertflügels von 1966 wirkte dabei fast wie eine Metapher für die Tagung: „Der dicht von Filz umhüllte Konzertflügel mit dem Kreuz ist ein Bild für die Trauer angesichts der Verluste, die immer drohen. Das Instrument schweigt, kein Ton mehr. Zugleich aber bewahrt der Flügel auch die Erinnerung daran, dass Musik möglich ist – wenn die Hülle das Instrument wieder freigibt. So ist Hoffnung in jedem Schmerz“, heißt es in einer Erläuterung des Kunstkritikers Peter Iden 2009.
Hervorzuheben wäre zu guter Letzt noch die sehr angenehme Atmosphäre der Tagung, die von vielen Gästen betont wurde. Die Diskussion waren offen, wertschätzend und kollegial, und insgesamt ist es gelungen, den Spannungsbogen, den der Titel aufgebaut hat, auch abzuarbeiten.
Link: www.uexkuell-akademie.de
Dr. med. Sven Eisenreich, Hospital zum Heiligen Geist, Psychosomatische Klinik, Lange Str. 4–6, 60311 Frankfurt am Main, E-Mail: sven.eisenreich@web.de