Dr. med. Matthias Bender, Jonas Staudt, Prof. Dr. med. Eckhardt Koch

Die Behandlung von Menschen mit Migrationshintergrund ist oftmals durch sprachliche und kulturelle Verständigungsprobleme geprägt. Das kann die Behandlung erheblich erschweren – insbesondere in der Psychiatrie und Psychotherapie, wo das persönliche Gespräch zwischen Behandler und Patient maßgeblich für die Therapie ist. Vitos misst daher der interkulturellen Öffnung seiner Einrichtungen eine große Bedeutung zu. Bereits Anfang 2013 hat das Unternehmen, das hessenweit psychiatrische und psychosomatische Kliniken betreibt, ein Konzept für deren interkulturelle Öffnung entwickelt. Die Vitos Kliniken haben das Konzept inzwischen größtenteils umgesetzt.

Um ein interkulturelles Behandlungsangebot, das sich am Bedarf der Patienten orientiert, aufbauen und weiterentwickeln zu können, hat Vitos 2014 erstmals Daten zum Migrationshintergrund der Patienten erhoben. Ziel der Erhebung war es, Informationen über die Patientenstruktur zu gewinnen – mit einem Fokus auf migrationsspezifischen Fragen und Bedarfen. Denn weder zu Prävalenzraten psychischer Störungen bei Migranten noch zu deren Inanspruchnahme psychiatrisch-psychotherapeutischer Angebote gab es zu diesem Zeitpunkt in Deutschland eine zufriedenstellende Datenbasis. Zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund zählen nach der Definition im Mikrozensus „alle Ausländer und eingebürgerte ehemalige Ausländer, alle nach 1949 als Deutsche auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderte, sowie alle in Deutschland als Deutsche Geborene mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil“. Vitos legt diese Definition zugrunde und erfasste in 2014 alle Patienten, die sich während der Erhebungswoche in voll- oder teilstationärer Behandlung befanden. Der Anteil der Patienten mit Zuwanderungsgeschichte lag in den Vitos Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie bei etwa 20 Prozent. Für die Kinder- und Jugendpsychiatrie ergab sich ein Migranten-Anteil von etwa 15 Prozent und in der Psychosomatik von rund zwölf Prozent (Koch, Staudt & Gary, 2015), siehe Abb. 1.

Abb. 1: Prozentuale Altersverteilung der Patientinnen und Patienten in den Vitos Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychosomatik (N=2.279) auf Basis der 2014 durchgeführten Vollerhebung in den entsprechenden Vitos Einrichtungen.

Die Ergebnisse der Datenerhebung waren für Vitos eine der Grundlagen, um eine kultursensible und kulturkompetente Versorgung von Patienten mit Einwanderungsgeschichte zu implementieren. Es geht Vitos also nicht allein darum, dass die sprachliche Vermittlung gelingt. Auch der kulturelle Hintergrund muss in der Behandlung berücksichtigt werden.

Bestellung von Migrationsbeauftragten

Seit 2013 sind für alle Vitos Gesellschaften mit ihren jeweiligen Kliniken Migrationsbeauftragte benannt – meist aus den pflegerischen, ärztlichen oder psychologischen Professionen. Sie sind Ansprechpartner für Patienten mit Migrationshintergrund. Außerdem generieren sie Ideen und Impulse für den Aufbau interkultureller Behandlungsangebote und unterstützen die Einrichtungen vor Ort, die dafür notwendigen Voraussetzungen zu schaffen. Sie organisieren innerbetriebliche Fortbildungen zu interkulturellen Themen, sind am Aufbau von Dolmetschersystemen beteiligt und stellen wichtige Informationen und Arbeitsmaterialien für Patienten und Behandler zusammen. Zudem lassen sie Formulare, Patienteninformationen, Aufklärungsbögen und ähnliches bei Bedarf in die benötigten Fremdsprachen übersetzen.

Um bedarfsorientierte Behandlungsangebote zu entwickeln, bedarf es einer engen Zusammenarbeit zwischen Management und den Migrationsbeauftragten. Bereits 2013 wurde bei Vitos ein regelhafter Austausch aller Migrationsbeauftragten etabliert – unter Leitung des übergeordneten Vitos Migrationsbeauftragten Prof. Dr. Eckhardt Koch. Sie treffen sich quartalsweise, um neue Ideen für eine optimierte Patientenversorgung zu generieren, Best Practice-Beispiele zu Behandlungsansätzen für Migranten vorzustellen und Schwierigkeiten in der Umsetzung von Maßnahmen zu besprechen.

Darüber hinaus veröffentlichen die Migrationsbeauftragten einen gemeinsamen Jahresbericht. Er informiert ausführlich über geplante, in der Umsetzung befindliche und bereits abgeschlossene Maßnahmen, die in den Vitos Einrichtungen die Versorgung von Patienten mit Migrationshintergrund verbessern.

Interkulturelle Psychoedukation

Neben Sprachbarrieren kann auch die kulturelle Prägung die Behandlung erschweren. Manche Patienten mit Migrationshintergrund wissen nicht, was „Psychiatrie“ bedeutet, weil es in ihren Herkunftsländern keine nennenswerte psychiatrische Versorgung gibt. So weichen teilweise auch die Vorstellungen von Behandlung, Selbstverantwortung, Eigenständigkeit und der Arzt-Patienten-Beziehung ab. Aus Sicht der Behandler erschwere ein unterschiedliches Krankheitsverständnis die Behandlung stärker als Probleme bei der sprachlichen Verständigung. Das ist das Ergebnis einer Umfrage der Bundesdirektorenkonferenz (BDK) aus dem Jahr 2012, an der 72 von 109 Kliniken der BDK teilnahmen (Koch et al. 2014). Neben administrativen Rahmenbedingungen wurden therapeutische und konzeptionelle Aspekte wie die Arbeit mit Dolmetschern und die allgemeine interkulturelle Orientierung der Kliniken abgefragt. Stationäre Konzepte für Patienten mit Zuwanderungsgeschichte waren zu diesem Zeitpunkt in 12,5 Prozent der Kliniken etabliert.

Um kulturell bedingte Hürden abzubauen und bei den Patienten das Wissen um ihre Erkrankungen und Behandlungsmöglichkeiten zu verbessern, setzt Vitos seit Mitte 2019 im Rahmen eines Pilotprojektes das Handbuch „Interkulturelle Psychoedukation für Menschen mit Migrationshintergrund“ (Assion, Ueberberg & Kaaz, 2018) ein. Das Manual enthält Materialien in arabischer und türkischer Sprache. Fünf verschiedene Module beschäftigen sich unter anderem mit Migration und Integration, mit dem deutschen Gesundheitssystem, mit Vorsorge oder auch mit den häufigsten psychischen Erkrankungen. Therapeuten besprechen die einzelnen Module in Gruppensitzungen mit den Patienten. Bei Bedarf werden Dolmetscher hinzugezogen. Nach Abschluss der fünfwöchigen Psychoedukation werten die Therapeuten die Erfahrungen aus den Gruppensitzungen aus. Rückmeldungen der Patienten sowie Fremdbeurteilungen der Behandler sollen Aufschluss darüber geben, wie die Patienten von den vermittelten Inhalten profitiert haben und welchen Einfluss das neue Behandlungsangebot auf ihre Zufriedenheit mit der Behandlung hat. Die Ergebnisse fließen in eine Studie ein, die Vitos gemeinsam mit der LWL-Klinik Dortmund durchführt. Ziel der Studie ist die Evaluation und Weiterentwicklung der Manual-Inhalte.

Dolmetschernetzwerke

Aktuell leben mehr als 180 unterschiedliche Nationalitäten in Deutschland. Unzureichende Kenntnisse der deutschen Sprache machen – insbesondere im Fachgebiet Psychiatrie und Psychotherapie – eine dolmetschergestützte Kommunikation erforderlich. Vitos bemüht sich, jedem Patienten, der einen Dolmetscher benötigt, einen solchen zur Verfügung zu stellen. Angestrebt wird der Einsatz ausschließlich familienunabhängiger Dolmetscher, um eine größtmögliche Neutralität der Übersetzung sicherzustellen.

Ein deutlicher Bedarf an Dolmetscherleistungen zeichnete sich bereits vor 2015 und dem Ankommen tausender geflüchteter Menschen in Hessen ab. Die bereits im Oktober 2014 durchgeführte Vollerhebung für den voll- und teilstationären Bereich zeigte, dass insbesondere für Patienten mit direkter Migrationserfahrung im Rahmen der Therapie häufig keine ausreichende Verständigung in deutscher Sprache möglich war. Für die Gruppe der migrierten Erwachsenen sowie der migrierten Kinder- und Jugendliche unter 18 Jahren traf dies in über 25 Prozent der Fälle zu. Gleichzeitig wurden für diese Patientengruppe in weniger als 10 Prozent der Fälle Dolmetscher eingesetzt (siehe Abb. 2).

Abb. 2: Einschätzung der Behandler hinsichtlich der Therapiebedingungen für Patienten und Patientinnen in den Vitos Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychosomatik (N=2.279) auf Basis der 2014 durchgeführten Vollerhebung in den entsprechenden Vitos Einrichtungen. Prozentuale Angaben für drei Patientengruppen (kein Migrationshintergrund, indirekte Migrationserfahrung und direkte Migrationserfahrung).

Inzwischen hat Vitos ein Drei-Säulen-Konzept etabliert, das verschiedene Möglichkeiten zur Einbindung von Dolmetschern vorsieht. Das Konzept soll die mündliche Kommunikation mit Patienten gewährleisten, die nicht oder nicht ausreichend Deutsch sprechen. Über die Vitos Akademie werden seit 2016 regelmäßig Mitarbeiter in der Technik des Dolmetschens ausgebildet. Ein Vorteil von hausinternen Dolmetschern ist, dass bereits vorhandene Sprachkompetenzen von Vitos Mitarbeitern genutzt werden, die sich zum Dolmetschen bereit erklären. Eine eintägige Schulung bereitet auf diese verantwortungsvolle Tätigkeit vor – so kann gleichzeitig ein hoher Qualitätsstandard hausinterner Übersetzungsleistungen gewährleistet werden. Darüber hinaus wird durch eine aktive Vernetzung mit Dolmetscherbüros und Gemeindedolmetscherdiensten in der Region die Verfügbarkeit externer Dolmetscherdienste gewährleistet. Seit Oktober 2019 werden die beiden Säulen durch die Option „Videodolmetschen“ ergänzt. Der Vorteil des online-gestützten Videodolmetschens besteht im Zugang zu Dolmetscherleistungen auch dort, wo keine hausinternen Dolmetscher oder Gemeindedolmetscherdienste zur Verfügung stehen. Vitos arbeitet hierfür mit einem Anbieter zusammen, der sich durch einen großen und gut geschulten Dolmetscherpool auszeichnet.

Interkulturelle Fort- und Weiterbildung

Die Vitos Akademie bietet bereits seit einigen Jahren verschiedene Fortbildungen zur interkulturellen Kompetenz an. Dazu gehören ein eintägiger Basiskurs, der für alle Berufsgruppen geeignet ist, und ein zweitägiger Vertiefungskurs, der sich verstärkt an medizinisches und psychologisches Fachpersonal richtet. Hinzu kommen jährliche Schulungen für Mitarbeiter, die sich im Rahmen der hausinternen Dolmetscherdienste engagieren sowie zusätzliche Fachforen zu wechselnden Themen.

Über die bislang etablierten Präsenzveranstaltungen hinaus plant Vitos in 2020 die Produktion eines Web-basierten Trainings. Dieses E-Learning-Modul soll interessierten Mitarbeitern die interkulturelle Arbeit in den Vitos Einrichtungen vorstellen und wichtige Grundregeln im Rahmen des Einsatzes von Dolmetschern im klinisch-psychiatrischen Setting vermitteln.

Die Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Hadamar lobt seit 2010 jährlich den Förderpreis der transkulturellen psychiatrischen Ambulanz aus, die 2009 gegründet wurde. Der finanziell und mit einer Glasskulptur dotierte Preis würdigt Initiativen, wissenschaftliche Arbeiten, Projekte und Einzelpersonen, die sich in der Region in besonderer Weise um die Integration der Menschen mit Migrationshintergrund verdient gemacht haben. Eine Fortbildungsreihe mit entsprechenden Fachvorträgen flankiert die Festveranstaltung. 2017 wurde Jozsef Lak für sein Gitarrenbauprojekt mit geflüchteten und deutschen Kindern mit dem Hadamarer Förderpreis geehrt. Die Gruppe stellte die Instrumente mit einem Konzert auch auf der Frankfurter Musikmesse vor.

Korrespondenzadresse:

Dr. med. Matthias Bender, Klinikdirektor Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Kassel, Bad Emstal, Hofgeismar und Melsungen, Ärztlicher Direktor Vitos Klinikum Kurhessen, Wilhelmshöher Allee 345A, 34131 Kassel; E-Mail: matthias.bender@vitos-kurhessen.de

Die Literaturhinweise finden Sie in der PDF-Version der aktuellen Ausgabe auf unserer Website unter www.laekh.de/heftarchiv/ausgabe/2020/maerz-2020