Verstärkte telefonische Beratung und bessere Finanzierung gefordert
Durch zunehmenden Erkenntnisgewinn und den rasanten Fortschritt der technischen Möglichkeiten in der medizinischen Versorgung kranker Menschen entstehen immer wieder herausfordernde Situationen, in denen Entscheidungen getroffen werden müssen. Es kann mehr als eine Lösung geben, die für den Patienten in seinem individuellen Kontext, seiner Lebensgeschichte und seinen Wertvorstellungen angemessen erscheint.
Zudem wünschen Patienten nicht immer, dass alle möglichen therapeutischen oder diagnostischen Optionen ausgeschöpft werden. Nicht selten wird die Situation dadurch noch komplexer, dass die betroffenen Patienten ihren eigenen Willen nicht mehr direkt zum Ausdruck bringen können.
Seit etwa 20 Jahren ist Ethikberatung ein Instrument zur Verbesserung der Qualität von kranken und pflegebedürftigen Menschen im Krankenhaus, das mittlerweile in der Hälfte aller Krankenhäuser etabliert ist. Im Gegensatz dazu ist Ethikberatung in der ambulanten, außerklinischen Versorgung eine neue Entwicklung. Auf dem 111. Deutschen Ärztetag im Jahr 2008 wurde der offizielle Beschluss gefasst, eine interdisziplinäre Ethikberatung auch für den ambulanten Bereich zu etablieren. Seit dieser Zeit hat sich ambulante Ethikberatung, die bis dahin nur vereinzelt angeboten wurde, stetig weiter entwickelt.
Dieser Entwicklung trug eine Veranstaltung im Februar 2019 in Frankfurt Rechnung, auf der zum zweiten Mal nach 2016 Vertreterinnen und Vertreter der deutschsprachigen, außerklinischen Ethikberatungsprojekte zusammen kamen, um den aktuellen Stand der ambulanten Ethikberatung in Deutschland zu erörtern. Außerdem beschäftigte sich die Tagung mit Fragen zur Schweigepflicht in der Ethikberatung und dem Stellenwert von Ethikberatung für Hausärzte.
Deutlicher Zuwachs ambulanter Ethikberatungsprojekte
Wie eine Bestandsaufnahme im Vorfeld der Tagung ergeben hatte, ist die Zahl der ambulanten bzw. außerklinischen Ethikberatungsprojekte im Vergleich zu 2014 deutlich gestiegen. Waren im Jahr 2014 noch weniger als zehn außerklinische Ethikberatungsprojekte bekannt, ist die Zahl mittlerweile auf 57 Projekte angestiegen (siehe Abb. 1, nur online*). Während viele von ihnen (37 %) nach wie vor in eine bestehende Struktur palliativmedizinischer Versorgung eingebunden sind, werden vermehrt Projekte über eigenständige Vereine (26 %) oder Ärztekammern (18,5 %) organisiert (siehe Abb. 2, nur online*).
Unverändert ist jedoch die Finanzierung der Projekte ein zentrales Problem: Während sich die Organisationsstrukturen über die Mitgliedsbeiträge oder Spenden ihrer Vereine oder über die Träger finanzieren, berichten die Mehrzahl der Projekte über eine unzureichende oder gar fehlende Finanzierung. Nur etwa ein Viertel der Berater erhält eine Aufwandsentschädigung oder gar ein Honorar. Aufwandsentschädigungen über die Organisation/Verein können insbesondere die Projekte realisieren, die an Landes- oder Bezirksärztekammern angebunden sind. Anlass zu einer Ethikberatung sind konflikthafte Situationen aus verschiedensten Bereichen. Am häufigsten genannt werden: Ernährung am Lebensende, Therapiebegrenzung, Therapiezieländerung und die Ermittlung des mutmaßlichen Willens (siehe Abb. 3, nur online*).
Schwierigkeiten durch geringe Inanspruchnahme und Finanzierungslücken
Nach Hürden oder Schwierigkeiten bezüglich Aufbau der Beratungstätigkeit befragt, ordnen die Projekte diese drei Bereichen zu:
- der internen Logistik,
- der Organisation/Verortung im (eigenen) Netzwerk, oder
- externen Bedingungen.
Zu 1.: Bei den internen Probleme überwiegen klar die zeitlichen und finanziellen Hürden, da die meisten Projekte der ambulanten Ethikberatung durch ehrenamtliches Engagement aufgebaut werden. Während persönliches, ehrenamtliches Engagement überall in großem Maße eingebracht werde, entstünden durch fehlende oder unzureichende Finanzierung immer wieder Hürden, etwa weil sich die notwendige Bekanntmachung des Projektes nicht kostenneutral erreichen lasse.
Zu 2.: Ebenso stehen ökonomische Überlegungen in der eigenen oder der regionalen Netzstruktur im Vordergrund. So wurde berichtet, dass Leitungskräfte den Bedarf für Ethikberatung in ihrer Einrichtung infrage stellen und Sorgen über die Refinanzierung und eine mögliche Verschlechterung des an sich schon schwierigen Verhältnisses zu den betreuenden Hausärzten hätten.
Zu 3.: Außerhalb des eigenen Netzwerkes fehle beim Aufbau in einigen Regionen die politische Unterstützung. Auch hier wurde darauf hingewiesen, dass ohne ausreichende Finanzierung eine Etablierung erschwert sei. Besondere Hürden lägen offenbar darin, Ethikberatung nachhaltig interdisziplinär zu verankern. Ein Projekt, in dem Teleethikberatung angeboten wird, berichtet, dass viele Anfragenden sich schlecht auf die ihrer Ansicht nach komplizierte Techniken einlassen könnten.
Ist eine Ethikberatung etabliert, konzentrieren sich die Schwierigkeiten oder Probleme ebenfalls auf drei Bereiche:
- mangelnde Inanspruchnahme,
- Abgrenzung der ethischen Fragestellung gegenüber anderen Fragestellungen,
- logistische Probleme.
Zu 1.: Oft wurde über die Diskrepanz zwischen der geringen Inanspruchnahme und der vielfach wahrgenommener ungelösten (ethischen) Konfliktsituationen berichtet. Nach praktischen Erfahrungen mit Ethikberatung steigt die Inanspruchnahme deutlich an. Deswegen sei Öffentlichkeitsarbeit auch so wichtig.
Zu 2.: In komplexen Situationen sei oftmals die Abgrenzung der ethischen, beispielsweise von einer psychologischen Fragestellung, nicht einfach. Außerdem wurde berichtet, dass in komplexen ethischen Konfliktsituationen von ärztlicher Seite ein medizinischer Lösungsweg einfach festgelegt werde. Diese Aspekte wiesen auf die hohe Bedeutung der fachkundigen Moderation hin. Dass es grundsätzlich schwierig bleibe, Hausärzte einzubeziehen oder zur Teilnahme an einer Ethikberatung zu motivieren, wurde von verschiedenen Projekten berichtet.
Kein Zweifel an den positiven Effekten
An den grundsätzlich positiven Effekten ließen die Teilnehmenden keinen Zweifel. Die überwiegende Anzahl der Projekte erfahre sehr positives Feedback von allen Beteiligten. Insbesondere aus der Pflege komme großer Zuspruch. Viele Projekte waren überrascht über die vielfältigen Unterstützungsangebote, in einigen Regionen auch aus der Politik, und berichteten über großes Engagement der Mitarbeitenden. Auch zeigten viele unterschiedliche Professionen großes Interesse an ambulanter Ethikberatung und seien überdies bereit, sich einzubringen, wie beispielsweise Juristen und Psychologen. Auch in komplexen Situationen könne ein gemeinsamer Konsens gefunden werden, stellten einige Projekte explizit positiv heraus. Auffallendstes Ergebnis der Befragung war die große Diskrepanz zwischen dem berichteten Engagement in und Interesse an Ethikberatung sowie der geringen Inanspruchnahme des Beratungsangebotes in einigen Regionen. Offensichtlich gebe es einen direkten Zusammenhang zwischen dem Bekanntheitsgrad des Instruments Ethikberatung einerseits und der Inanspruchnahme andererseits.
Weitere wichtige Ergebnisse der Tagung waren, dass ambulante Ethikberatung als interprofessionelles Angebot (und nicht nur als kollegiale Beratung unter Ärzten) erfolgen solle, was auch den Zugang und die nachhaltige Etablierung von Ethikberatung erleichtere.
Als Zukunftsausblick wurde festgestellt, dass für die weitere Entwicklung von Ethikberatung im ambulanten Bereich die Logistik den besonderen Anforderungen im hausärztlichen Bereich angepasst werden müsse, präferenziell in Form einer Telefonberatung oder gegebenenfalls in Form von Skype-Konferenzen. In diesem Zusammenhang erscheine eine Finanzierung von Ethikberatung dringend erforderlich, da die rein ehrenamtliche Beratungstätigkeit oder auch die Teilnahme an einer zeitaufwendigen Ethikberatung, der aktuellen gesundheitspolitischen Situation nicht angemessen ist.
PD Dr. med. Carola Seifart, Philipps-Universität Marburg, Fachbereich Humanmedizin, Dekanat, Baldingerstraße
Prof. Dr. phil. Alfred Simon, Akademie für Ethik in der Medizin, Humboldtallee 36, 37073 Göttingen
Dr. theol. Kurt W. Schmidt, Zentrum für Ethik in der Medizin am Agaplesion Markus Krankenhaus Frankfurt/Main
Kontakt zu den Autoren per E-Mail: carola.seifart@staff.uni-marburg.de
* Abb. 1–3 siehe Online-Ausgabe 03/2020, www.laekh.de/fileadmin/user_upload/Heftarchiv/PDFs_ganze_Hefte/2020/HAEBL_03_2020.pdf