Nach über 25-jähriger Tätigkeit als Professor an der Medizinischen Klinik und Poliklinik in Gießen berät Heiner Laube regelmäßig Kliniken und Ärzte in China. Dafür reiste er jetzt zum zehnten mal nach Fernost, von wo er erst wenige Tage vor dem Ausbruch der neuen Coronavirusepedemie wieder nach Deutschland zurückkehrte. In chinesischen Kliniken und Krankenhäusern ist er als Berater und Gastprofessor für jeweils mehrere Wochen auf dem Gebiet Innere Medizin mit der Spezialisierung für Hormonstörungen, Stoffwechsel, Ernährung und Diabetes tätig. Dies geschieht jeweils unter Vermittlung durch den Senior Experten Service (SES) in Bonn und auf Einladung von Universitätskliniken, Lehrkrankenhäusern, privaten Kliniken und staatlichen Rehabilitationszentren.
Megastädte mit vielen Millionen Menschen sind vor allem im Osten des Landes die Regel. Die Kliniken entsprechen dabei in ihrer Größe und fachlichen Vielfalt der Größe der Landes. Zentrale Krankenhäuser haben bis 5.000 Patientenbetten und große Spezialambulanzen. Dabei finden sich alle Krankheiten, wie wir sie auch in unseren Kliniken sehen und behandeln.
Aber ein System von privaten Hausärzten gibt es nicht. Hausbesuche durch Ärzte/Pflegepersonal sind die Ausnahme. Die Pflege und Verpflegung der Patientinnen und Patienten erfolgt in den Kliniken überwiegend durch die Familie. Die Erwartungshaltung chinesischer Patienten gegenüber Ärzten ist dabei aber grundsätzlich eine andere als in Europa. Angehörige mischen sich gerne in die ärztliche Behandlung ein und Patienten verweigern nicht selten auch die empfohlene Therapie.
Die traditionelle chinesische Medizin (TCM) wird an allen Krankenhäusern angeboten und von Patienten und Ärzten geschätzt. Die westlich-naturwissenschaftliche Schulmedizin steht jedoch eindeutig im Vordergrund. Überschneidungen sind dabei aber nicht zu vermeiden und für westliche Ärzte oft nur schwer zu verstehen. Die technische Ausstattung der Kliniken ist meist exzellent. Das Ausmaß der Digitalisierung ist bei einer inzwischen fast bargeldlosen Gesellschaft, auch bei den täglichen Routinearbeiten in den großen Kliniken, weit fortgeschritten. Auch wenn es für die Kolleginnen und Kollegen oft schwierig ist auf internationale Kongresse zu fahren und der Internet-Zugang eingeschränkt ist, sind das wissenschaftliche Interesse und das klinische Wissen groß.
Die Behandlungskosten sind für die Betroffenen oft sehr hoch. Schwere Erkrankungen führen dabei nicht selten zum finanziellen Ruin einer Familie. Obwohl inzwischen 95 % der Patienten für die stationäre Behandlung eine Grundversorgung haben, werden dadurch aber nur 40–70 % der Kosten abgedeckt. Die ambulante Behandlung muss von den Patienten sogar voll bezahlt werden.
Zu Laubes Arbeit gehört die Beratung von Ärzten sowie Patienten-orientierte kollegiale Gespräche, Vorlesungen, die Betreuung von Doktorarbeiten von Medizinstudierenden, Unterricht Studierenden am Krankenbett, Fortbildung an peripheren Krankenhäusern, die aktive Teilnahme an wissenschaftlichen Symposien, die Spezialschulung von Pflegepersonal, die Erstellung von Übungsmaterial für Ärzte und Pflegende sowie die Unterstützung der Kliniken beim Aufbau von Patientenschulungen. Neben dem fachlichen Erfahrungsaustausch mit Kollegen ergeben sich für ausländische Ärzte täglich neue Herausforderungen durch die unterschiedliche Mentalität der Menschen, der Geschichte des Landes und einem primär kollektiv orientierten Gesundheitssystem. Erfahrungen aus westlichen Ländern können daher nicht ohne weiteres auf Krankenhausstrukturen, Situationen und Patienten in China übertragen werden. Beeindruckend bei der Arbeit mit chinesischen Ärzten, übrigens überwiegend Ärztinnen, ist deren Disziplin und Fleiß, aber auch ihre Bewunderung und oft auch Überbewertung der Apparatemedizin. Auffallend ist ein großes Hygienebewusstsein, Disziplin und Zuverlässigkeit bei Pflegepersonal und Ärzten gleichermaßen (siehe Foto).
Durch die zunehmende Zahl an privaten Krankenhäusern besteht ein starker Wettbewerb im Gesundheitswesen. Der Arbeitsdruck auf die Ärzte ist hoch und durchaus mit der Situation in Deutschland zu vergleichen. Das hierarchische Denken und Verhalten unter Ärzten ist ausgeprägt. Teamwork findet kaum statt. Kontakte und Informationen von anderen Kliniken werden nur ungern erbeten oder angenommen. Es besteht daher wenig Austausch an Wissen und Informationen. Der Einfluss der Regierungspartei ist dabei in allen Krankenhausstrukturen und bei allen wesentlichen Entscheidungen, vor allem in den staatlichen Institutionen, nicht zu übersehen.
Dies hat den Vorteil, dass unliebsame Vorgänge wie jetzt bei der Ausbreitung des neuen Coronavirus – etwa die Abriegelung von Millionenstädten – mehr oder weniger klaglos hingenommen werden und in wenigen Tagen (!) funktionsfähige 1.000-Bettenkrankenhäuser erstellt werden. Individuelle Meinungen und Verantwortung sind hingegen unerwünscht und werden von der Partei oder dem Krankenhausträger unerbittlich abgestraft, wie das Beispiel eines Arztes in Wuhan zeigt, der bereits Ende Dezember 2019 vor dem Ausbruch der neuen Coronar-Epidemie gewarnt hatte.
Großes Interesse seitens der chinesischen Kolleginnen und Kollegen besteht daran, wie wir im Westen und vor allem in Deutschland das öffentliche Gesundheitswesen sowie die Krankenhäuser organisieren, die Kosten senken, die Probleme einer alternden Gesellschaft in den Griff bekommen und auf wissenschaftlichen und klinischen Gebieten bestimmte Krankheitsbilder interpretieren, vorbeugen und behandeln. So ist die Zahl an Diabetikern bei einer schnell wachsenden Mittelschicht in China wie in Deutschland mit zur Zeit etwa 10 % erschreckend hoch.
Die Verständigung mit Kollegen und dem Personal in den Kliniken verläuft in der Regel schleppend, da auch die jüngere Ärztegeneration Englisch nur in seltenen Fällen spricht und wenig versteht. Für besondere Situationen stehen jedoch Dolmetscher und Übersetzungscomputer zur Verfügung.
Weitere Bitten um Beratung durch chinesische Kliniken und Ärzte für 2020 liegen bereits vor.
Prof. em. Dr. med. Heiner Laube, Gießen, E-Mail: heiner.laube@innere.med.uni-giessen.de
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