Geschichte und Aktivitäten
Das Aktionsnetz Heilberufe in Amnesty International (AI) Deutschland kann inzwischen auf eine lange Geschichte zurückblicken. 1979, also vor genau 40 Jahren, wurde der erste Arbeitskreis von Ärzten und Psychologen innerhalb der deutschen Sektion von AI gegründet, der sich später für alle Berufe im Gesundheitswesen öffnete. Das Netzwerk Heilberufe sieht die Gesundheitsmitarbeiter/-innen auf vierfache Weise betroffen und involviert: Als Opfer, Täter/-innen, Helfende und Expert/-innen hinsichtlich schwerer Menschenrechtsverletzungen. In den ersten Jahren prägten besonders Briefaktionen an Entscheidungsträger die Arbeit. Sie unterstützten politisch verfolgte Personen, die in ihrer Gesundheit bedroht, oder Heilberufler, die aus politischen Gründen an ihrer Arbeit gehindert oder deshalb verfolgt wurden.
Aus einer kleinen engagierten Gruppe wuchs recht bald ein Netz von mehreren 100 Personen heran, die Monat für Monat Briefe an Politiker, Regierungen, Gefängnisverwaltungen oder Gerichte schickten, um die Freilassung oder zumindest medizinische Versorgung und soziale Erleichterung für politische Gefangene zu erwirken. Eine wichtige Aufgabe war die Begutachtung und Anklage der Folgen von Folter. Bald wurden auch intensive Kontakte zu Physicians for Human Rights, zu Kolleginnen und Kollegen, die sich in der türkischen Menschenrechtsstiftung zusammengeschlossen hatten, und zur Abteilung Gesundheit im zentralen Büro in London, das leider inzwischen aufgelöst wurde, gepflegt. In Deutschland half man, durch Lobbyarbeit den „Menschenrechtsbeauftragten“ in den einzelnen Landesärztekammern zu etablieren. Die Menschenrechtsbildung in der Ausbildung ist ein weiteres Thema, das die Gruppe beschäftigt hat und das weiter aktuell ist.
Mit der Etablierung von immer mehr psycho-sozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer in den 1990er-Jahren engagierten sich viele Mitglieder des Aktionsnetzes in der Identifizierung, Rehabilitation und Betreuung von traumatisierten Flüchtlingen. Dies sind auch jetzt wichtige Schwerpunktthemen auf den halbjährlichen Treffen. Bisweilen wird auch die Expertise oder Unterstützung der Gruppe angefordert, so beim Einsatz für die Rechte intersexueller Menschen oder aktuell für die Rechte ungewollt schwangerer Frauen und den Schutz ihrer Ärztinnen und Ärzte in El Salvador.
Zur öffentlichen Darstellung dienen das immer wieder aktualisierte Dossier Heilberufe von Amnesty International und eine eigene Website: www.aktionsnetz-heilberufe.de/. Über all die Jahre sind die Briefaktionen fortgeführt worden und die Heilberufler sind nach wie vor die wichtigsten finanziellen Unterstützer der allgemeinen Amnesty-Arbeit.
Ein aktuelles Thema
Die Verlagerung der Beschäftigung von Einzelfällen hin zu strukturellen Menschenrechtsverletzungen an verschiedenen Gruppen und Minderheiten, vor allem die Einforderung des Rechts auf bestmögliche gesundheitliche Versorgung, nahm in den vergangenen Jahren immer mehr Raum ein und bestimmt aktuell stark die Aktivitäten des Aktionsnetzes. AI hat ja 2001 mit offiziellem Beschluss seinen Wirkungskreis auf alle Menschenrechtsverletzungen und alle Bevölkerungsgruppen ausgedehnt. Daraus folgt der Anspruch, sich auch und gerade um die Rechte von Menschen zu kümmern, die im Schatten der Öffentlichkeit leben. Dies betrifft zum Beispiel psychisch und epileptisch erkrankte sowie geistig behinderte Menschen in vielen Ländern der Erde. Bislang galt die berechtigte Kritik von Amnesty International willkürlichen und gewaltsamen Behandlungen im Rahmen psychiatrischer Institutionen und dem politischen Missbrauch der Psychiatrie. Inzwischen werden – bedrückend langsam – weltweit auch die sehr verbreiteten Entrechtungen und Misshandlungen der Betroffenen außerhalb psychiatrischer Institutionen thematisiert, die vor allem in ärmeren Ländern und Gegenden stattfinden, in denen es keine relevante psychiatrische Versorgung gibt. Viele Kulturen – von Westafrika über Ägypten und Somalia bis Indien oder Indonesien – sehen in dem Verhalten psychisch oder epileptisch Erkrankter das Wirken schwarzer Magie oder einer Besessenheit durch Dämonen. Durch diese Deutungen und das Fehlen effektiver Hilfe kommt es zu exzessiven Freiheitsberaubungen. Die Menschen werden im Freien oder in Verschlägen angekettet, die Beine werden in Holzpflöcke gefesselt, manchmal über Jahre und Jahrzehnte, und sie werden gezielt misshandelt, um die Dämonen aus ihren Körpern zu vertreiben.
Das Aktionsnetz arbeitet seit 2015 an diesem Thema und informiert über die Entrechtung dieser Menschen, die zahlreichen internationalen Konventionen zuwiderläuft, beispielsweise auf der Website www.mental-health-and-human-rights.org und in verschiedenen Veranstaltungen, zuletzt einer internationalen Tagung in Kassel Mitte Februar (ein Bericht findet sich auf der zuletzt genannten Homepage). Ziel der Arbeit ist unter anderem eine umfassende Recherche und Kampagne. Das Aktionsnetz Heilberufe ist für jede Unterstützung dankbar und seinerseits offen für Anliegen und Themen. Neue Mitglieder sind immer willkommen.
Dr. phil. Dipl. Soz. Michael Huppertz, Arzt für Psychiatrie/Psychotherapie, Darmstadt
Ernst-Ludwig Iskenius, Arzt im Ruhestand, Rostock
Kontakt per E-Mail: interesse@amnesty-heilberufe.de
Internet: amnesty-heilberufe.de oder mental-health-and-human-rights.org
5. April 2019, Camp de Prière, Elfenbeinküste
Nachmittags fahren wir (Gesine Heetderks, Michael Huppertz) in ein Gebetscamp, das wir schon im vergangenen Jahr besucht haben, Camp de Prière in der Nähe von Bouaké an der Elfenbeinküste. Der Dorfchef und sein Assistent begrüßen uns sehr freundlich, ebenso wie manche Bewohner. 2018 waren wir dort gewesen und hatten mehrere angekettete Patienten und andere Kranke gesehen. Wir hatten die Reparatur ihres Brunnens in Auftrag gegeben. Inzwischen funktioniert er wieder.
Jetzt teilt der Assistent uns mit, die geistliche Leiterin dieses und anderer Camps hätte beschlossen, mit den Patienten nur noch zu beten und keine medikamentöse oder sonstige Behandlung durch das ambulante psychiatrische Team mehr zuzulassen. Nach längerer Diskussion wird die spirituelle Leiterin herbeigerufen. Eindringlich ermahnt der psychiatrische Leiter des Teams alle, die Behandlung zu akzeptieren, sie würden sonst in Konflikt mit dem Gesetz kommen. Wir beteiligen uns mit unseren besten Argumenten.
Wir sehen in dem Camp drei Angekettete: ein junger Mann mit einer Psychose, den wir schon 2018 dort unter einem Baum gesehen hatten. Er teilt uns mit, dass seine Mutter wolle, dass er hier bleibe und dass die Leiter des Camps ihm verbieten würden, Medikamente zu nehmen. Der zweite Angekettete ist ein älterer Mann, ein Lehrer, der erkennbar sehr viel Angst hat und kaum spricht. Den dritten sehen wir nur aus der Ferne. Wir können ihn nicht sprechen, das Team muss weiter. Die Patienten sind schutzlos im Freien angekettet. In der Nacht gibt es ein starkes Gewitter mit vielen Blitzen und heftigem Dauerregen.
Man kann über die Motive der Dorfältesten, sich gegen die Zusammenarbeit, zu entscheiden nur spekulieren. Durch die Bezahlung der Angehörigen finanziert sich allerdings das Camp.
Sicher könnten ein regelmäßiger Kontakt und eine Einbeziehung der Gebetscamps in die geplante gemeindepsychiatrische Versorgung die Lage der Patienten bessern. Dazu wären eine Kartografie und Erfassung der Gebetscamps und eine elementare Ausbildung der Menschen in den Camps in Gemeindepsychiatrie, Landes- und Menschenrechten notwendig.
Dr. med. Gesine Heetderks, Ärztin für Neurologie, Psychiatrie/Psychotherapie
Dr. phil. Dipl. Soz. Michael Huppertz