Reflexionen nach vier Jahrzehnten ärztlicher Tätigkeit
PD Dr. med. habil. Peter T. Ulrich
Die Ökonomisierung der Medizin
Glaubt man den Auguren der Weltwirtschaft [1], dann befinden wir uns ungefähr seit der vergangenen Jahrtausendwende im „sechsten Kondratjeff-Zyklus“ [2]. Innovationen in der Biotechnologie, der Künstlichen Intelligenz und der Pflege psychosozialer Gesundheit prägen ihn, die Gesundheitswirtschaft treibt ihn an. Ihr Boom in den kommenden Dezennien scheint gesichert. Die Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen in einer alternden Gesellschaft heizt den Markt an und beschleunigt die „Ökonomisierung des Körpers“[3]. Die Patienten von einst werden zu Kunden. Autark und mündig sollten sie sein, fühlen sich aber geblendet von vielfältigen Offerten und manchmal auch ausgeliefert dem Spiel der Akteure auf dem Gesundheitsmarkt. Wie können sich Patienten orientieren? Wer vertritt noch uneigennützig ihre Interessen? Welche unveräußerlichen Werte gelten noch?
Als ich 1976 nach dem Staatsexamen mit der Arbeit im Krankenhaus begann, war die Welt eine andere – auch im Gesundheitswesen. Ökonomie in der Medizin war für die Weißkittel ein Fremdwort, Fallpauschalen kannte niemand, Kosten-Nutzen-Überlegungen galten Medizinern als verabscheuungswürdig. Die weiblichen Pflegekräfte ließen sich mit „Schwester“ ansprechen und manche trugen noch Hauben und weiße Schürzen.
Der Paradigmenwechsel kam mit dem Gesundheitsstrukturgesetz 1992. Der bis dahin obsolete Wettbewerb hielt Einzug, und die Gesetze des Marktes eroberten schnell die Lager der Leistungsanbieter und der Kassen. Konkurrenten wetteiferten mit Werbeoffensiven. Marktbereinigung war und ist das politische Ziel. Die Besten sollten sich am Markt behaupten. Wie aber misst man medizinische Qualität umfassend, transparent und objektiv? Die Diskussion über evidenzbasierte Qualitätsindikatoren ist längst nicht abgeschlossen. Darüber können auch werbewirksame Best-of-Listen in den Medien und die allgegenwärtigen Zertifikate an den Wartezimmerwänden nicht hinwegtäuschen.
Auf dem Weg zur Medizin von morgen
Die von der Politik gesetzten Prämissen für den Einsatz kompetitiver Strategien im Gesundheitswesen lassen ihre Nebenwirkungen und Risiken außer Acht. Der politisch inszenierte Paradigmenwechsel in der Heilkunde und der weltweite Trend zur Egomanie in Politik und Gesellschaft trüben die selbstkritische Reflexion und verändern das traditionelle Rollenbild der Helfenden. Sie erodieren den moralisch-ethischen Boden der Medizin, verwandeln den freien Arztberuf schleichend in ein Gewerbe und lassen selbstlose Altruisten zu bemitleidenswerten Exzentrikern in der Gesellschaft der Selbstzentrierten werden.
Die Gesundheit, ihr Erhalt und ihre Wiederherstellung werden global zu einem Faktor von eminenter Bedeutung. Das Bundesministerium für Gesundheit sieht die Gesundheitswirtschaft als eine Wachstumsbranche auf Expansionskurs. Mit einem Wachstum von jährlich 3,8 % überholte der Gesundheitssektor in den vergangenen elf Jahren deutlich das Bruttoinlandsprodukt. Die Biotechnologie mit einer Rate von 5,7 % legte schneller zu als die restliche Gesundheitswirtschaft und konnte ihren Anteil an der Gesamtwertschöpfung deutlich steigern. In der Gesundheitswirtschaft tätig waren 2016 fast 7 % der Bevölkerung Deutschlands [4]. Allerdings beklagen die deutschen Industrie- und Handelskammern einen sehr hohen Regulierungsgrad der Gesundheitswirtschaft. Die Unternehmen bewegten sich in einem systembedingten Spannungsverhältnis zwischen Innovationsoffenheit, Qualitätssicherung und Finanzierbarkeit [5].
Wesentlich ungebremster scheinen die Biotech-Unternehmen der USA auf dem Highway zur Zukunftsmedizin unterwegs, wie der Spiegel-Bestsellerautor Thomas Schulz in seinem unlängst publizierten Buch schreibt [6]. In Bio- und Medizintechnik sei ein neues Zeitalter angebrochen, in dem wir hoffen könnten, „Krebs zu heilen, Zellen zu programmieren, künstliche Organe zu züchten, das Gehirn mit Maschinen zu verbinden, Gene zu manipulieren, Krankheiten per Knopfdruck zu besiegen, das Leben um 20 oder 30 Jahre zu verlängern und die Menschen nicht nur gesünder, sondern klüger, hübscher und jünger zu machen“.
Der digitale und technologische Fortschritt rückt die Vision einer „Smart Healthcare“ in greifbare Nähe: Künstliche Intelligenz ermöglicht nicht nur in der Krebsmedizin hochkomplexe Analysen riesiger Datenmengen, den Einsatz der künstlichen Bauchspeicheldrüse für Diabetiker, die telemedizinische Online-Überwachung der Herzfunktion zur Infarktprävention oder des intrakraniellen Drucks zur Vermeidung von Neuronen-Verlusten bei Druckkrisen. Der Einsatz lernender Roboter in der operativen Medizin oder die automatisierte Bildauswertung in der Radiologie sind schon Praxis.
Fachleute prognostizieren nicht nur die höchsten Renditen für Anleger in der Medizintechnik, sondern auch Einsparungen für das Gesundheitswesen in Milliardenhöhe durch ihren Einsatz [7]. Eine schöne neue Welt für Medizin und Gesellschaft? Zweifellos werden wir in den kommenden Jahrzehnten noch effizienter werden in der Prävention von Krankheiten und in ihrer Therapie. Manche ahnen schon das Ende der uralten Ohnmacht der Menschheit gegenüber Krankheit, Leiden und Tod voraus. Das Vermögen zu helfen, zu retten, zu heilen bedeutete schon immer auch Macht.
Glanz und Elend der Helfenden
Macht verändert den Charakter – meist zum Negativen. Auch Patienten sind in Gefahr, instrumentalisiert zu werden zur Erreichung neuer Ziele ihrer Behandler: Berühmtheit, Meinungsführerschaft, Marktmacht – meist mit finanziellem Impact. Man genießt und pflegt die Rituale der Macht. Die rasant wachsende Diversität und Komplexität der Wissensgebiete generiert auch in der Medizin Heere von Spezialisten mit dem Bewusstsein ihres Marktwertes.
Die Warnungen der Sozialphilosophen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno [8] vor den Gefahren eines modernen Spezialistentums sind nach 70 Jahren noch immer aktuell. Eine Generation von Ärzten, die sich in ihrer medizinischen Sozialisation immer weiter von einem ganzheitlichen Ansatz der Medizin entfernt und einer krankheitszentrierten Herangehensweise zustrebt, neigt zur Verabsolutierung ihrer Sichtweise und zur Intoleranz.
Wie soll man der Technisierung und Kommerzialisierung in der Medizin entgegen wirken? Diese Frage beschäftigt auch die Bundesärztekammer. In ihrem Positionspapier „Patientenversorgung unter Druck“ [9] konstatiert sie zu viel Bürokratie, zu wenig Personal, keine verlässlichen Arbeitszeiten. Besonders junge Ärzte spüren die Rationalisierung im Gesundheitswesen. Unter dem Zeitdruck und der Last der Bürokratie im praktischen Alltag schwinden „Geist, Würde und tradierte Werte“ [10] allmählich dahin. Demotiviert und resigniert stellen viele bei sich eine Veränderung ihrer Persönlichkeit fest. Die innere Bindung an den Sinn der Medizin, das Wohl der Patienten, wird immer lockerer und löst sich, nicht selten unbemerkt, schließlich ganz. Das Phänomen steigender Burn-out-Raten ist die Folge [11]. Neu nachzudenken über den Menschen und die Welt, persönliche Antworten zu finden zu den Fragen nach dem Sinn und Ziel ihres Tuns angesichts des rasanten Wandels in der Welt ist vielen Angehörigen der helfenden Berufe ein steigendes Bedürfnis.
Werteorientierung der Human- medizin in dieser Pentade
Gegen die evidente Arrosion der moralischen Grundpfeiler der Gesellschaft und das Primat des Kommerz auf dem Gesundheitsmarkt der Zukunft erscheint eine explizite Ethik als brüchiges „Gehäuse von Weltbildern“ [12] kaum tragfähig. Auch der viel bemühte, gelegentlich missbrauchte und inzwischen abgenutzte Begriff des Humanismus stellt ein Sammelbecken von zum Teil widersprüchlichen Weltanschauungen dar. Ihn als Quelle neuer, inspirierender Ideen für eine zukunftsfähige Reform der Medizin anzuzapfen, erscheint fragwürdig.
Erinnern wir uns an die These von Karl Jaspers, des Arztes und Philosophen, die „Praxis des Arztes sei konkrete Philosophie“ und „das in Liebe gegründete und unbedingt gültige Prinzip des Guten“ sei das „höchste moralische Gesetz“. Die eigene „Existenzerhellung durch innere Aneignung des Weltwissens, die Gelassenheit im Wissen, eine tiefe Heiterkeit, eine Offenheit gegen sich und andere und Tapferkeit“ wiesen den Weg dorthin [13]. Ein sokratischer Grundgedanke aus der Ideenlehre scheint da auf, von Platon
Künftige Entwicklungen vorrausahnend, forderte schon in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts der anthroposophische Arzt Gerhard Kienle [14] eine Reform der Medizinpraxis. Die „persönliche Hilfeleistung für den kranken Menschen“ sollte im Mittelpunkt des ärztlichen Handelns stehen. Man mag da an eine frühe Form der heute propagierten personalisierten (synonym: individualisierten) Medizin denken, doch genauer betrachtet sind die Unterschiede himmelweit: Der moderne Ansatz meint eine nach den individuellen Konstellationen von Biomarkern oder pharmakogenomisch definierten Rezeptoren maßgeschneiderte Arzneimitteltherapie.
Dieser vielversprechende Ansatz ist auf die individuellen physiologischen Gegebenheiten eines Patienten zugeschnitten. Moderne, hochdifferenzierte Labormethoden machen ihre Aufdeckung erst möglich. Der Tübinger Medizinethiker Urban Wiesing [15] weist zu Recht darauf hin, dass „sich personale Eigenschaften aber nicht auf molekularer, sondern auf personaler Ebene manifestieren“. Und darauf zielt auch die Forderung Kienles ab, ein reformiertes Medizinstudium müsse nicht nur ein umfassendes „Fachwissen sondern auch Urteilsfähigkeit, Einfühlungsvermögen und eine ethische Persönlichkeitsentwicklung von Ärztinnen und Ärzten“ fördern.
Die Beschränkung auf die klassische Medizinethik reicht dazu sicher nicht aus. Diese Erkenntnis wurde vom Universitätsklinikum Würzburg bereits in die Praxis umgesetzt. Es bietet nicht nur den Studierenden der Humanmedizin als Wahlfach, sondern auch approbierten Ärzten berufsbegleitend ein Philosophicum [16] an, was sich großer Beliebtheit erfreut.
Nach einem hippokratischen Leitsatz, man solle „Philosophie in das Ärztliche und Ärztliches in die Philosophie hineintragen“, erarbeiten sich Studierende und Ärzte das nötige Werkzeug für das Beschreiben, Erklären und Verstehen – nach Jaspers zentrale Fertigkeiten einer befriedigenden Arzt-Patienten-Beziehung. Gleichzeitig müssen die Grenzen des Erklärens und Verstehens, die jeder Erkenntnis- und Behandlungsmethodik gesetzt sind, bewusst werden.
Wie werden Ärzte und Pflegende ihre Rolle am Ende des laufenden Weltwirtschafts-Zyklus, in den fünfziger Jahren des 21. Jahrhunderts definieren? Die Medizin ist in Gefahr, sich von ihren tradierten Wurzeln, einer dem Gedanken der Humanitas verpflichteten, Naturwissenschaft und Philosophie verbindenden Disziplin zu lösen und einen Paradigmenwechsel zu vollziehen. Als ursächliche Faktoren einer Verschiebung der „Primärorientierung“ weg vom Patientenwohl und hin zu ökonomischen Kriterien besonders in der Krankenhausmedizin hat der Deutsche Ethikrat [17] die Einführung des DRG-Vergütungssystems mit seinen Fehlanreizen und die chronische Unterfinanzierung der Krankenhäuser auf dem Personalsektor identifiziert. Beides führe zu einem fatalen Rückgang der Zuwendungszeit zum Patienten, zu einer Schwächung der Sprechenden und einer Stärkung der technischen Medizin. Noch haben wir Zeit, die Position der Humanmedizin, ihre zukünftige Gestalt und ihre gesellschaftliche Rolle zu überdenken und zu bestimmen. Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin e. V. hat in ihrem 2017 formulierten „Klinik Codex: Medizin vor Ökonomie“ klar die Eigenständigkeit der Medizin gefordert und den Kern ärztlichen Handelns herausgestellt [18]. Ähnliche Appelle wurden in jüngerer Zeit vielfach veröffentlicht. Sie sind wichtig, aber nicht nachhaltig genug. Das ethische Fundament der Medizin wird langfristig nur zu sichern sein, wenn die Selbstreflexionsfähigkeit der Mediziner durch eine breit angebotene Aus- und Weiterbildung in der Theorie der Humanmedizin und ihrer Wurzeln in der Philosophie gestärkt wird, wenn die Politik die strukturellen Voraussetzungen und die Rahmenbedingungen für eine Sprechende Medizin und Pflege schafft und unterhält und wenn den Handelnden im Gesundheitswesen und in der Gesellschaft bewusst wird, dass Gesundheit keine Ware, der Kranke keine Ressource ist.
PD Dr. med. habil. Peter T. Ulrich, Leiter der Sektion Neurochirurgie, Krankenhaus Nordwest, Frankfurt am Main
E-Mail: ulrich.peter@khnw.de
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