Ein aktueller Kommentar von Haase et al. im British Medical Journal [1] beschäftigt sich mit dieser Frage. Das NICE (National Institute for Health and Care Excellence) hat einen Entwurf für eine Aktualisierung seiner Leitlinie zur Diagnostik und Therapie des Bluthochdrucks bei Erwachsenen vorgelegt [2]. In diesem Update wird vorgeschlagen, Patienten mit einer Hypertonie Grad I (140–149/90–99 mmHg) bereits dann – auch medikamentös – zu behandeln, wenn ihr kardiovaskuläres Zehn-Jahres-Risiko über 10 % beträgt und nicht wie bisher über 20 %. Dadurch würde die Behandlungsindikation erheblich erweitert. Dies entspricht ganz der zunehmenden Tendenz der modernen Medizin, neue behandlungsbedürftige Krankheiten zu erkennen oder bestehende Behandlungsindikationen auszuweiten.
2017 hat eine internationale Arbeitsgruppe Kriterien erarbeitet, die insbesondere letzteres rechtfertigen können, und diese in einer Checkliste zusammengefasst [3]. Das Ziel war die Vermeidung von Über- diagnosen. Wird diese Checkliste (siehe unten) angewandt, sieht das geplante Update der NICE-Leitlinie zur Hypertoniebehandlung schlecht aus:
- Nur ein Punkt dieser Checkliste wurde hinreichend erfüllt: Definition der Unterschiede zwischen neuer und alter Leitlinie.
- Ein Punkt wurde nicht ausreichend gewürdigt: die Gründe für die Änderung.
- Nur zwei mögliche Nachteile einer niedrigeren Blutdruckeinstellung wurden genannt: Verletzungen durch Stürze und akutes Nierenversagen. → Psychische Probleme der Patienten mit der Diagnose wurden gar nicht berücksichtigt ebenso wenig wie Hypotonie, Synkopen und Elektrolytstörungen.
- Wünsche und Werte der Patienten werden nicht genügend gewürdigt. Diese sollen zwar beim Patienten erfragt werden, aber wie soll das geschehen? Welchen Einfluss sollen sie dann auf die Behandlung haben?
- Warum wurde die Grenze bei 10 % kardiovaskuläres Risiko gesetzt?
Fazit für die Praxis
Es gibt keine strikte Grenze zwischen zu niedrigem, normalem oder zu hohem Blutdruck. Vielmehr ist der Blutdruck ein Kontinuum, das zusammen mit anderen Risikofaktoren das kardiovaskuläre Risiko bestimmt. Warum eine Erweiterung der Indikation zur Behandlung des Bluthochdrucks erfolgen sollte, wird nach Ansicht der Autoren des Kommentars im BMJ nicht schlüssig belegt.
Dr. med. Michael Zieschang, Darmstadt, E-Mail: mzieschang@me.com
Checkliste zur Änderung von Krankheitsdefinitionen*
1. Was genau ist der Unterschied zwischen der neuen und der alten Definition?
2. Zahl der betroffenen Personen, wie verändert Inzidenz und Prävalenz?
3. Was war der Grund für die Änderung der Krankheitsdefinition?
4. Kann die neue Definition ausreichend genau und reproduzierbar klinisch wichtige Endpunkte vorhersagen?
5. Ist die neue Definition ausreichend genau und reproduzierbar?
6. Vorteile der neuen Definition. Bestimmung nach definierten Methoden (z. B. GRADE [4])
7. Nachteile der neuen Definition.
8. Abwägen der Vor- und Nachteile für den Patienten, aber auch für das Gesundheitssystem.
* (nach [3])
Ein Interessenkonflikt wird vom Autor verneint. Nachdruck aus Arzneiverordnung in der Praxis (AVP) 2019; 46: 127–128, abrufbar unter www.akdae.de/Arzneimitteltherapie/AVP/index.html, online seit 1. Juli 2019.
Die Literaturhinweise finden Sie in der PDF-Version der aktuellen Ausgabe auf unserer Website unter https://www.laekh.de/heftarchiv/ausgabe/2020/januar-2020